Aufzählung von Namen
Hinter jedem Namen steht eine Geschichte. An diesem ganz normalen Schultag sind es sieben Abiturienten, die sich zu letzten Absprachen treffen für ihr ganz besonderes Seminarprojekt. Anderthalb Jahre lang erforschten sie die Namen und Geschichten anderer Schüler. Schüler, die in der Nazizeit, in den 1930er-Jahren genau dieselben Treppenflure und Gänge in ihrem Gymnasium entlanggelaufen sind, bis sie die Schule erzwungenermaßen verlassen mussten. Der Grund: In ihrer Schülerakte stand als Religion jüdisch. Vor den Schülern liegen die dicken Archivbücher.
"Also das sind eigentlich Zeugnisblätter, unter anderem, so wie es sie heute auch noch gibt. Die Schüler sind hier aufgeführt. Sehr akribisch nach Listen, der Glauben ist hier erwähnt, wie viele Gläubige es in den einzelnen Jahrgängen gab, wurde hier aufgezählt, so wie Zeugnisblätter heute auch, die Noten sind da eingetragen, die Bemerkungen und alle persönlichen Angaben."
Irgendwann tauchten die Schüler nicht mehr auf
Der Unterschied: Irgendwann tauchten keine Noten mehr in den Blättern auf oder der Schüler wurde mit Lineal gleich ganz ausgestrichen. Im ähnlichen Alter wie die sieben Gymnasiasten heute wurden in den 1930er-Jahren 44 Schüler des Münchner Gisela-Gymnasiums deportiert, in Lager eingewiesen oder ihnen gelang die Flucht:
"Wir haben halt gesucht, wo jüdisch dabei stand und sind die ganzen Angaben durch und haben versucht die abzugleichen."
Im Staatsarchiv, im Stadtarchiv, im Schularchiv, beim Deutschen Roten Kreuz – überall fragten die Schüler nach, ob es zu den Namen Informationen gäbe. Erstaunlich oft fanden sich Dokumente, allerdings in Sütterlin, der alten deutschen Schrift:
"Also einmal gibt es ja so Listen, wo zu jedem Buchstaben in Sütterlinschrift unser heutiger Buchstabe steht. Dann haben wir noch mithilfe einer Oma eines Schülers, die damals Sekretärin war weiter entziffert, Namen, die nicht ganz sicher waren haben wir im Stadtarchiv erfragt."
Nahezu unglaubliche Lebensgeschichten und Leidenswege taten sich vor den Schülern in den vergangenen Monaten auf. Jüdische Schüler, so alt wie sie oder jünger – ausgegrenzt, abgeholt, ausgestoßen. Von den 44 in Archiven und bei Suchdiensten erforschen Biografien beeindruckte eine besonders:
"Also das war der Arto Gutentag. Der war schon mit 13, 14 hier ins Sammellager Berg am Laim gebracht worden als Kind, da waren da zwischen 1938-40 sehr viele Kinder hingebracht worden, dann ging es nach Paderborn, wo er viel arbeiten musste, dort wurde er verhaftet, von dort nach Auschwitz, dort war er eine Zeit lang in einem Krankenhaus, wurde da festgehalten und von dort ging es nach Mauthausen. Jedenfalls hat er es geschafft, den ganzen Leidensweg zu überstehen. 1945 gibt es dann einen Eintrag beim Roten Kreuz. Er hat mit 19 Jahren also viel mehr erlebt, als jeder andere und das er überlebt hat, ist ein großes Wunder."
Denkmal für die 44 Schüler
Da das Seminar ja eigentlich Erinnerungskultur zum Thema hatte, entwarfen die Gymnasiasten gemeinsam mit ihrem Lehrer gleich noch ein Denkmal.
Schulleiterin Marianne Achatz stimmte sofort zu, die Gedenktafel im Eingangsbereich des Gymnasiums anbringen zu lassen. Eine Vorbildwirkung für andere Schulen?
"Das wäre natürlich wünschenswert, aber das darf nicht aufgesetzt wirken, sondern es muss dieses Erinnerungsprojekt gelebt werden. Und dass das jetzt aus der anderthalbjährigen Erfahrung und der Arbeit des P-Seminars hervorgeht, ist ein Stück Leben und nicht eben ein Verordnen."
Am Montag wird die Gedenktafel feierlich bei einer Gedenkveranstaltung der Gymnasiasten der Öffentlichkeit übergeben. Eine rostrote Tafel mit allen Namen der ehemaligen Gisela-Schüler. Einer wird nicht dabei sein können: Wolfgang Granat, einer der ehemaligen jüdischen Schüler, 90 Jahre alt. Er hat einen Brief aus London geschickt, zeigt Schüler Tariq Abo Gamra. Ein Höhepunkt des Seminars.
"Er hat sich in bewegenden Worten bei uns bedankt. Das ist eine zusätzliche Motivation und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Natürlich ist es wichtig mit Angehörigen in Kontakt zu treten.