Das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft hat in der deutschen Erinnerungskultur eine lange Tradition. Auch und besonders der vielen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, hält Professor Wolfram Wette für absolut notwendig und richtig, aber, so räumt er ein:
"Es ist auch eine ambivalente Angelegenheit, denn wir haben eine verständliche Neigung, der Erinnerung an die Täter aus dem Wege zu gehen. Die Täterschaft wird traditionell abgeladen bei denen, die durch den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess bereits abgeurteilt sind und vielleicht noch ein paar wenige dazu, um dann den Rest der Bevölkerung von Schuld freizusprechen."
Deshalb nehmen die Täter auch einen großen Raum ein in Wettes aktueller Publikation. So erinnert er zum Beispiel an den SS-Standartenführer Karl Jäger, der schon 1941 in Litauen für die rasche und gründliche Ermordung der Juden sorgte. Und den man in seiner badischen Heimatstadt Waldkirch lange Zeit lieber als feinsinnigen Musiker und Orchestrionbauer denn als Massenmörder im Gedächtnis behalten wollte.
Wette erinnert auch an den Generalfeldmarschall Erich von Manstein, der als Hauptakteur des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion gilt. Er deckte als Befehlshaber der 11. Armee auf der Krim die von der SS und Wehrmachtdienststellen verübten Judenmorde - um später zu behaupten, er habe nichts davon gewusst. Von Manstein wird zwar angeklagt, aber freigesprochen. Er berät später sogar das Bonner Verteidigungsministerium in sicherheitspolitischen Fragen und pflegt eifrig die Legende von der "sauberen Wehrmacht".
Eine Legende, die erst 50 Jahre nach Kriegsende als solche entlarvt wird, angesichts der heftig diskutierten Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht. Die Forschungen um den Historiker Hannes Heer kamen damals zu dem Ergebnis, dass nicht nur etliche Generäle, sondern auch einfache Männer in SS, Polizei- oder Wehrmachtsuniform sich schuldig gemacht haben. Doch warum waren die Entlastungsstrategien von Tätern lange Zeit so erfolgreich?
"Die Kriegsgeneration hatte mit Abstrichen das Heft noch in der Hand bis in die 90er-Jahre hinein, sie konnte den öffentlichen Diskurs mit ihren Legenden weitgehend bestimmen, und erst im Ausgang des 20. Jahrhundert ist das weggekippt. Und es hat sich Zug um Zug die Wahrheit durchgesetzt, die Ergebnisse der historischen Forschung. Und das drastischste Beispiel ist die Ausstellung 'Verbrechen der Wehrmacht' 1995.Und das war schon ein großes gesellschaftspolitisches und erinnerungspolitisches Ereignis."
Fritz Bauer - eine große Ausnahme
Erst der Generationswechsel bei den Historikern und Juristen förderte den kritischen Blick auf die Täter und ihre Legenden. Bis dahin hatten nur wenige den Mut, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und anzuklagen. Berühmtestes Beispiel ist der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der 1963 den Auschwitz-Prozess auf den Weg brachte. An ihn erinnert aktuell auch der Kinofilm "Im Labyrinth des Schweigens", ein Justizthriller, der die Vorgeschichte dieses Prozesses erzählt. Eine Form der Erinnerung, die Wolfram Wette begrüßt und die das politische Klima im Nachkriegsdeutschland verdeutlicht:
"Fritz Bauer hat ja gesagt, damit kann man das so schön auf den Punkt bringen: Er hat sich so einsam gefühlt. Er war ja ein Sozialdemokrat, ein Jude, ein Jurist aus dem Stuttgarter Raum, der dann nach Dänemark emigrieren musste und erst relativ spät, 1947 oder 1948 von Willy Brandt zurückgeholt worden ist nach Deutschland. Als er den Auschwitz-Prozess vorbereitet hat und glücklicherweise auch junge Juristen um sich hatte, die mit ihm kooperiert haben, hat er über seine Einsamkeit gesagt: 'Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland.' Da betritt er ein juristisches Terrain, das ihm eher feindlich gesonnen ist, da sind nämlich über all die alten Nazi-Juristen noch, die sich selbst freisprechen wollen. Und so hat dieser Mann unter anderem deswegen eine Großtat vollbracht, weil er gegen diesen damaligen Trend den Auschwitz-Prozess durchgesetzt hat. Und wenn das wieder filmisch aufgearbeitet wird, ist das eine hervorragende und begrüßenswerte Angelegenheit."
Ungesühnte Verbrechen
Der Leser trifft in Wettes Buch auf viele Täter: Ihre Namen sind oft nicht sehr bekannt. Hier werden ihre Taten aus dem Dunkel der Geschichte hervorgeholt, um sie vor dem Vergessen zu retten: Die Verantwortung von Generälen für Massaker, von KZ-Aufsehern genauso wie von Wehrmachtsrichtern, die schon für kleinste Vergehen Todesurteile fällten. Nicht allein ihre Taten, auch dass ihre Taten so selten beziehungsweise so spät geahndet wurden, das ist für Wette das eigentlich Ungeheuerliche. Wichtig ist aber auch der Blick auf die Gegenseite:
Während die Geschwister Scholl, General Graf von Stauffenberg oder Oskar Schindler hierzulande längst die Ehre erhalten, die ihnen gebührt und fester Bestandteil deutscher Erinnerungskultur sind, sind andere Widerständler und Judenretter lange Zeit in Vergessenheit geraten. Wie zum Beispiel der Wehrmachtsoffizier Karl Plagge, der in Litauen mehrere Hundert Juden vor der Ermordung rettete und an den erst seit 2003 eine Gedenktafel an der TU Darmstadt erinnert. Warum die Retter erst so spät in den Fokus der Forschungen genommen wurden, erläutert Wette an einem weiteren Beispiel:
"Etwa der Feldwebel Anton Schmidt, mit dem ich mich näher beschäftigt habe, der hat in einer entscheidenden Situation, ob er verfolgten Juden helfen sollte oder nicht, hat er sich gegen den militärischen Gehorsam entschieden und hat sich für die Hilfe der Verfolgten entschieden. Und er hat das sehr erfolgreich betrieben. Wenn der das gemacht hat, dann ist das ja ein Signal für die ganze Kriegsgeneration: Ihr wird damit gesagt, euer Mitmachen, Stillschweigen und Gehorchen waren nur eine der Möglichkeiten - es gab Handlungsspielräume. Das bedeutet, ihr hättet euch auch anders verhalten können. Das heißt, diese Retter und Helfer haben der Kriegsgeneration den Spiegel vorgehalten und der Spiegel hat sie gefragt: Was hast du getan? Und darauf führe ich im Wesentlichen zurück, dass man sich vier bis fünf Jahrzehnte mit den Judenrettern gar nicht befasst hat."
Rehabilitation der Retter
Erst zwischen 1998 und 2009 wurden hierzulande die Judenretter, die Deserteure und Kriegsverräter politisch und moralisch rehabilitiert. Seit dieser Zeit beschäftigt sich auch eine Gruppe von Historikern mit der Herkunft und den Motiven der Retter und Widerständler. Diese kamen aus allen Bevölkerungsschichten und hatten ganz unterschiedliche Beweggründe. Ihren Mut mussten sie nicht selten mit ihrem Leben bezahlen. So schreibt ein Bauernsohn aus dem Sudetenland am 3. Februar 1944:
"Liebe Eltern. Ich muss Euch eine traurige Nachricht mitteilen, dass ich zum Tode verurteilt wurde, ich und Gustav G. Wir haben es nicht unterschrieben zur SS [...] Wir beide wollen lieber sterben, als unser Gewissen mit so Gräueltaten zu beflecken. Ich weiß, was die SS ausführen muss. [...] Wenn ich im Kriege fallen würde und hätte ein böses Gewissen, das wäre auch traurig für Euch. "
Wette kommentiert:
"Gemeinsam ist all diesen Menschen nur eine humane Orientierung, eine Überzeugung, dass Menschenleben geschützt und gerettet werden müssen, und dass das wichtiger ist als alle Ideologie und alle Befehle, die in der jeweiligen Zeit existieren. Also eine bestimmte Moralvorstellung, die ja auch eine große Tradition in unserem sog. Abendland hat, und die mit den Moralvorstellungen der Nazizeit, insbesondere der, die in der SS und teilweise in der Wehrmacht gegolten hat, völlig konträr lief, denn dort galt ja, dass es moralisch sei, Juden umzubringen, wenn ich an diese berühmte Posener Rede von Himmler erinnern darf."
Hatte doch der Reichsführer SS Heinrich Himmler in seiner Rede am 4. Oktober 1943 in Posen auf diese Weise die Vernichtung der Juden gerechtfertigt:
"Wir haben das moralische Recht, wir haben die Pflicht, unserem Volk gegenüber das zu tun, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. [...] Wir haben diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk getan. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen."
Kein Schlussstrich
An die Schäden, die die Täter angerichtet haben und wie wir mit ihnen seit Ende des Zweiten Weltkrieges umgegangen sind, möchte Wolfram Wette erinnern. Für den Historiker ist die Auseinandersetzung mit den Tätern damit aber längst noch nicht abgeschlossen:
"Denn wir können doch das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist. Und wenn wir die schleichenden Übergänge von dem Rechtsstaat der Weimarer Republik hinein in diese nationalsozialsozialistische Ideologie, den schrittweise voranschreitenden Unrechtsstaat bis hin zur Legitimierung der Massenmorde als anständige Handlung, wenn wir das noch genauer durchleuchten. Wenn das rückläufig sein sollte, was ich befürchte, müssen wir aufpassen und gegensteuern."