Der Autor breitet zunächst die Ideengeschichte aus, die zum Arier-Mythos der Nationalsozialisten führte. Dieser Vorlauf ist ihm etwas lang geraten, aber der Leser versteht, dass dieser Mythos keine Erfindung von Hitler und Himmler war, sondern sich schon im 19. Jahrhundert bildete. Dass die weiße, indo-germanische oder arische Rasse allen anderen überlegen sei, glaubte man schon im Bürgertum des Kaiserreichs. In Himmlers SS wurde dieser Glaube konkreter: Einige Überlebende des versunkenen Kontinents Atlantis sollen sich auf die Hochebene von Tibet gerettet haben. Von dort aus hätten sie ihre Hochkultur zum Beispiel nach Deutschland gebracht, wo die Arier an ihren blonden Haaren und blauen Augen erkennbar seien. Diese Schnapsidee stand hinter der SS-Expedition nach Tibet 1938 – '39.
Der Expeditionsfilm der SS, der in Deutschland in den Kinos vorgeführt wurde, zeigt den Anthropologen Bruno Beger, wie er das Becken einer tibetischen Frau vermisst und einem jungen Mann mit einer Abformmasse das Gesicht zukleistert.
"Umfangreiches Zahlenmaterial bringt unser Rasseforscher zusammen. Er misst die Körper- und Schädelformen der Eingeborenen. Länge von Arm und Hand, Farbe der Augen und der Haut, alles wird notiert."
Daten und Exponate sammeln
Der Film ist nur eine der Quellen, aus denen Meier-Hüsing schöpft. Zudem hat er die Veröffentlichungen und persönlichen Erinnerungen der Expeditionsteilnehmer ausgewertet sowie Zeitungsartikel und Schriftverkehr zwischen Nazidienststellen, die mit der Expedition zu tun hatten. In London fand Meier-Hüsing Berichte britischer Diplomaten, die das SS-Unternehmen in Tibet damals sehr genau beobachteten und zu Recht argwöhnten, es handele sich auch um eine Propaganda-Aktion Nazi-Deutschlands. Wissenschaftliche Daten sammelten die SS-Leute aber auch, schreibt Meier-Hüsing, zum Beispiel vermaßen sie das Erdmagnetfeld in Tibet.
Expeditionsleiter Ernst Schäfer, ein Zoologe, betrieb seine Forschungen überwiegend mit der Flinte: Er schoss Vögel und wilde Schafe, ließ Bälger und Felle präparieren und nach Deutschland schicken, wo sie noch heute im Archiv des Berliner Naturkundemuseums lagern. Roter Faden der Expedition war der Rassenwahn der SS. Ihr Film zeigt eine Reihe von Gesichtsnachbildungen, die der Anthropologe Beger angefertigt hat. "So entstand Stück um Stück unsere rassekundliche Sammlung von den Menschentypen Hoch-Asiens."
Die ambivalente Wahlverwandtschaft
Wenn die selbst ernannten Arier des Westens ihren angenommenen Verwandten, den Ariern des Ostens begegneten, sollte man meinen, dass sie diese als ebenbürtig behandelten. Wenn diese als Expeditionshelfer arbeiteten, war dies nicht der Fall, wie Buchautor Peter Meier-Hüsing zu berichten weiß.
"In den alten Tibetern, da erkannten sie oder wollten so was erkennen wie ein stolzes, vor allem kriegerisches Volk, wo man die Verwandtschaft mit den [...] imaginierten Ariern im Westen wieder zu erkennen glaubte. Das war dann aber negativ überlagert für die Deutschen, seitdem der Buddhismus dieses Land im eisernen Griff hatte. Das hat man als Pest gesehen. Insofern hatten sie überhaupt kein Problem damit, ihre niederen Angestellten schlecht zu behandeln."
Schwierige Kontaktaufnahme
Als die SS-Leute in die Hauptstadt Lhasa einritten, wurde sie von den politischen Instanzen des Landes zunächst ignoriert. Aber sie fielen auf. Meier-Hüsing zitiert einen tibetischen Arzt:
"Eines Tages kam eine Gruppe merkwürdig aussehender Reiter in die Stadt. Sie hatten blondes Haar, blaue Augen und dreckige, ungepflegte Bärte. Die Engländer waren immer sehr erpicht, ihr Prestige in Tibet aufrecht zu erhalten. Sie wären nicht im Traum darauf gekommen, so abgerissen aufzutauchen wie diese Deutschen."
Erst durch nächtelange Saufgelage mit Männern aus tibetischen Adelsfamilien hätten die SS-Leute Kontakt zur Regierung bekommen, schreibt der Autor. Schließlich wurden ihnen mehrere Audienzen beim Regenten gewährt, die sie nutzten, um engere Beziehungen zwischen Berlin und Lhasa anzubahnen und dem Regenten deutsche Waffen anzubieten.
Der Dalai Lama traf sich mehrmals mit Beger, auch nachdem dieser 1971 wegen "Beihilfe zum Mord in 86 Fällen" zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Warum tat der Dalai Lama das? Diese Frage beantwortet der Autor nicht.
Begers Rassenwahn fordert zahlreiche Opfer
Nach der Rückkehr aus Tibet trieb Beger seine Rasseforschungen ein Stück weiter. 1943 suchte er im KZ Auschwitz Häftlinge aus. Die meisten von ihnen waren aus Griechenland deportierte Juden, schreibt Meier-Hüsing. Wie in Tibet vermaß er ihre Gliedmaßen und ließ ihre Köpfe abformen. Dann wurden die Häftlinge ins KZ Natzweiler bei Straßburg gebracht und vergast. Ihre Skelette sollten Grundstock einer rassekundlichen Sammlung werden.
Nach dem Krieg wurden Beger und Expeditionsleiter Ernst Schäfer, von US-Soldaten festgenommen. Beger kam bald wieder frei, Schäfer nicht.
"Schäfer saß bis Ende 1948 in verschiedenen Lagern, hatte viel Zeit, er hat Erinnerungen aufgeschrieben, die 1949 und '50 das erste Mal veröffentlicht wurden, diese Bücher haben viele Neuauflagen erlebt, bis in die 80er Jahre. Und auch der Expeditionsfilm, der 1943 erstmals in die deutschen Kinos kam, kam 1950 / 51 in die Nachkriegskinos und wurde positiv besprochen."
Diese Expedition war ein lächerliches Unternehmen, sie brachte keine greifbaren Ergebnisse, nicht einmal im Sinne des nationalsozialistischen Rassenwahns. Das stellt Meier-Hüsing immer wieder heraus. Es gelingt ihm, anhand dieser skurrilen Geschichte Strukturen des Nazireichs sowie Täter-Mentalitäten abzubilden. Er schreibt farbig und geschmeidig und präsentiert so viele Details, dass man sich manchmal fragt: Woher weiß der Autor das? Der Glaubwürdigkeit des Buchs hätte es genützt, wenn er nüchterner geschrieben und öfter auf seine Quellen verwiesen hätte.
Peter Meier-Hüsing: "Nazis in Tibet. Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer"
Theiss Verlag, 288 Seiten, 24,95 Euro.
Theiss Verlag, 288 Seiten, 24,95 Euro.