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NS-Regime
Sowjetische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter

Mit dem Scheitern des Blitzkriegs gegen die Sowjetunion und der Kriegswende 1941/42 stieg der Arbeitskräftebedarf in der deutschen Rüstungsindustrie dramatisch. Sowjetische Kriegsgefangene wurden zur Zwangsarbeit herangezogen und dabei brutal und menschenverachtend behandelt. Am 20. Februar 1942, vor 75 Jahren, erließ Heinrich Himmler die Vorschriften.

Von Volker Ullrich |
    Eine erschöpfte russische Zwangsarbeiterin ruht sich im April 1945 in der Sammelstelle für Zwangsverschleppte in Würzburg auf Gepäckstücken aus. Sie war von Einheiten der 7. amerikanischen Armee befreit worden und wartet nun auf ihre Repatriierung
    Eine erschöpfte russische Zwangsarbeiterin ruht sich im April 1945 in der Sammelstelle für Zwangsverschleppte in Würzburg auf Gepäckstücken aus. Sie war von Einheiten der 7. amerikanischen Armee befreit worden und wartet nun auf ihre Repatriierung. (picture-alliance / A0009)
    Im Zweiten Weltkrieg wurde der riesige Kosmos der Zwangsarbeit zu einem festen Bestandteil des deutschen Alltagslebens. Jede Großstadt war mit einem Netz von Lagern und Unterkünften überzogen. Allein in München gab es mehrere hundert, die sich über das ganze Stadtgebiet verteilten. Im April 1943 meldete der Schweizer Generalkonsul aus der bayerischen Metropole:
    "In den späten Nachmittagsstunden hört man auf den Straßen Münchens alle Sprachen Europas, außer der deutschen, da die Reichsangehörigen offenbar etwas stiller geworden sind."
    Bereits im Sommer 1941 hatten im Deutschen Reich rund drei Millionen Ausländer, vorwiegend in der Landwirtschaft, gearbeitet, darunter 1,2 Millionen französische Kriegsgefangene und 700.000 polnische Zivilarbeiter. Mit dem Scheitern des Blitzkriegs gegen die Sowjetunion und der Kriegswende 1941/42 stieg der Bedarf an Arbeitskräften in der deutschen Rüstungsindustrie dramatisch an.
    Jetzt bewilligte auch Hitler, was er zuvor aus ideologischen Gründen untersagt hatte: Die Beschäftigung sowjetischer Kriegsgefangener, von denen man allerdings den größten Teil bis Ende 1941 hatte verhungern lassen.
    Am 20. Februar 1942 erließ der Reichsführer SS Heinrich Himmler Vorschriften über den "Einsatz von Arbeitskräften aus dem Osten". Durch sie wurden die sogenannten Ostarbeiter wie schon zuvor die Polen einer umfassenden Diskriminierung und sozialen Kontrolle unterworfen. Sie mussten ein besonderes Kennzeichen – das Ost-Abzeichen – tragen, wurden in isolierten, mit Stacheldraht umzäunten Barackenlagern untergebracht.
    Anwerbetrupps machten Jagd auf Zivilisten
    Unter dem Kommando von Fritz Sauckel, dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, organisierten Anwerbetrupps in den besetzten sowjetischen Gebieten regelrechte Jagden auf Zivilisten:
    "Man fängt jetzt Menschen, wie die Schinder früher Hunde gefangen haben", klagte ein ukrainischer Bauer im Herbst 1942. Insgesamt stieg die Zahl der ausländischen Zwangsarbeiter aus fast 20 europäischen Ländern bis Herbst 1944 auf 7,6 Millionen.
    Die größte Gruppe bildeten die 2,8 Millionen "Ostarbeiter", gefolgt von 1,7 Millionen Polen. Jeder vierte in Industrie und Landwirtschaft Beschäftigte stammte aus dem Ausland, in manchen Rüstungsbetrieben lag ihr Anteil zwischen 70 und 80 Prozent.
    Nur der massenhafte Einsatz von Zwangsarbeitern ermöglichte es Hitler-Deutschland, den Krieg bis zum Frühjahr 1945 fortzusetzen. In der nach rassistischen Kriterien abgestuften Hierarchie rangierten die "Ostarbeiter" an unterster Stelle. Sie wurden gemäß den Erlassen vom Februar 1942 besonders schlecht behandelt.
    "Wir weinen jeden Tag und jede Stunde und denken an zu Hause. Zu Hause gab es bloß Suppe und Brot, aber hier haben wir es nicht besser als die Schweine", schrieben zwei junge Russinnen an ihre Angehörigen.
    Verpflegungssätze wurden nach Stalingrad-Niederlage erhöht
    Erst nach dem Schock der Stalingrad-Niederlage 1943 wurden die Verpflegungssätze ein wenig angehoben – nicht aus humanitären Gründen, sondern allein unter dem Gesichtspunkt des kriegswirtschaftlichen Nutzens. Denn mit halb verhungerten Menschen ließ sich die Kriegsproduktion nicht steigern, wie selbst der Scharfmacher Goebbels erkannte:
    "Wir dürfen sie nicht wie Sklaven ansehen oder behandeln, sondern müssen ihnen eine Behandlung zuteil werden lassen, die ihnen den Aufenthalt im Reichsgebiet nicht zur Hölle macht."
    Auch bei manchen Unternehmen begann gegen Kriegsende die Einsicht zu dämmern, dass es für die Zeit nach dem Ende der NS-Herrschaft vorteilhaft sein könnte, wenn man die eigenen Zwangsarbeiter nicht allzu schlecht behandelte.
    Zwischen deutschen und ausländischen Arbeitern gab es manche Zeichen versteckter Solidarität. Über die täglichen Kontakte im Betrieb hinaus zeigten freilich die meisten Deutschen am Schicksal der aus Osteuropa verschleppten Arbeitskräfte wenig Interesse – so wie sie auch das Schicksal der deportierten Juden gleichgültig gelassen hatte.
    Die Diskriminierung vor allem der Polen und der "Ostarbeiter" wurde als ein unveränderbares Faktum hingenommen. Der Rassismus war zur Gewohnheit, zur täglich erlebten und akzeptierten Praxis geworden. Und nur deshalb konnte der nationalsozialistische "Ausländereinsatz" überhaupt funktionieren.
    Erst im Jahr 2000 in der Regierungszeit von Rot-Grün erhielten die Zwangsarbeiter eine, wenn auch nur geringe Entschädigung. Die meisten waren allerdings inzwischen gestorben.