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NS-Täter-Biografie

Reinhard Heydrich war einer der Haupttäter beim Massenmord an Millionen Juden. Eigentlich sollte er das Musikkonservatorium seiner Eltern übernehmen. Stattdessen wurde er über Umwege zu einer Schlüsselfigur des SS-Terrors. Der Historiker Robert Gerwarth hat über ihn eine Biografie verfasst.

Von Peter Carstens |
    Virtuos, wie es sonst eher angelsächsische Historiker vermögen, verknüpft Robert Gerwarth in seiner Biografie Organisationsgeschichte und Machtanalysen mit persönlich-biografischen Elementen. Sie erklären, wie aus einem katholischen Ministranten und zarten Geigen-Schüler ein kalter Verbrecher wurde. Gerwarths These: Ohne seine spätere Frau Lina von Osten und ohne die Liebesaffäre mit einem Schulmädchen wäre es nie so weit gekommen. Aber der Reihe nach: Weil das Familienunternehmen des respektablen Tenors und Komponisten Bruno Heydrich nach dem Ersten Weltkrieg in der Wirtschaftskrise zerbrach, ging Sohn Reinhard Heydrich nach gutem Abitur 1922 zur Marine nach Kiel. 1926 war er Leutnant zur See und bald im Begriff eine junge Frau von der Insel Fehmarn zu heiraten. Lina, so schreibt Gerwarth, …

    "… war zu diesem Zeitpunkt bereits überzeugte Nationalsozialistin und glühende Antisemitin. Reinhard dagegen zeigte, als er sie kennenlernte kaum Interesse an Parteien. Sie fand es geradezu befremdlich, dass er nie Hitlers ‚Mein Kampf’ gelesen hatte und es gefiel ihr noch weniger, dass er sich über die NSDAP, den ’böhmischen Gefreiten’ an ihrer Spitze und den ‚krüppelhaften Redner Goebbels’ lustig machte."

    Ein Fehltritt zwang Heydrich dann aber dazu, seinem Leben eine ganz neue Richtung zu geben. Als nämlich herauskam, dass der schmucke Offizier neben seiner Verlobten Lina auch noch ein Mädchen aus Potsdam beglückte, wurde Heydrich unehrenhaft aus der Marine entlassen. Die Uniform war weg und auch das Einkommen. Ein Angebot, in Kiel als Segellehrer zu arbeiten lehnte Heydrich ab. Stattdessen ließ er sich an die SS vermitteln. Gerwarth schreibt:

    "Er tat diesen Schritt zunächst nicht aus einer tiefen ideologischen Überzeugung, sondern weil ihm die Nationalsozialisten die Möglichkeit boten, zu einem strukturierten Leben in Uniform zurückzufinden. Überdies bot ihm der Eintritt in die SS eine Gelegenheit, das Vertrauen Linas und ihrer Familie zurückzugewinnen, die überzeugte Anhänger der NSDAP waren."

    Im Juni 1931 stellte sich Heydrich bei Himmler vor. Der SS-Chef suchte einen Mann zum Aufbau eines parteiinternen Spitzeldienstes. Zwar kannte Heydrich das Spionagewesen nur aus einschlägigen Jugend-Romanen, dennoch vermochte er es, den damaligen Hühnerzüchter Himmler zu überzeugen. In den folgenden elf Jahren blieben sie einander Kollegen und Vertraute im größten Mordgeschäft aller Zeiten. Robert Gerwarth:

    Zitat
    "In Heydrichs Leben war Himmler noch mehr als Hitler von nun an der zentrale weltanschauliche Bezugspunkt. Heydrich vergaß nie, was er dem Reichsführer SS verdankte und dieser verließ sich blindlings auf die unerschütterliche Loyalität seines engsten Mitarbeiters. Noch bei der Beerdigung rühmte Himmler Heydrichs unwandelbare Treue und für die wunderbare Freundschaft, die der Tod nicht trennen kann."

    "Ich darf hier auch einmal vor aller Öffentlichkeit in Gedanken dieses, von den Untermenschen gefürchteten, von Juden und sonstigen Verbrechern gehassten und verleumdeten und auch einst von manchem Deutschen nicht verstandenen Mannes darlegen: Alle Maßnahmen und Handlungen, die er traf, packte er als Nationalsozialist und SS-Mann an."

    Als freundschaftliche Referenz unter Massenmördern darf verstanden werden, dass der Genozid, dem ab dem Sommer nach Heydrichs Tod im besetzten Polen etwa zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen, den Namen "Aktion Reinhardt" trug. Gemeinsam mit Himmler stieg Heydrich ab 1933 zum Chef des NS-Terrorapparats auf. Immer und jederzeit übertraf er seine Umgebung an politischer Radikalität. Eine Ursache dafür war, so vermutet sein Biograf, dass Heydrich selbst mit dem Verdacht lebte, er habe in der Großelterngeneration jüdische Vorfahren. Gerwarth hat dafür keinen Beleg gefunden, wohl aber den Urheber des Gerüchts: Ein unbegabter Zögling des väterlichen Konservatoriums hatte als Erwachsener dafür gesorgt, dass Heydrichs Vater in einem Musiklexikon mit dem Zusatz, er heiße "eigentlich Süß", erwähnt wurde. Bruno Heydrich gewann in der Sache einen Prozess, aber das Gerücht folgte dem Sohn in die Schule und später zur Marine. Im politischen Machtgefüge des NS-Staates gelangte Heydrich trotzdem in Schlüsselstellungen, weil er bereit war, alle Zivilisationsbrücken hinter sich und der SS abzubrechen. Bei den Kriegen gegen Polen, auf dem Balkan und dann gegen die Sowjetunion zeigte er sich als derjenige, der von seinen oft akademisch gebildeten Untergebenen immer noch mehr Morde forderte. Erst Hunderte, dann Hunderttausende, schließlich Millionen. So berichtete ein Zeitgenosse Ende 1939 Heydrich habe sich nach einer Inspektionsreise in Polen beschwert, …

    "… die 200 Exekutionen, die täglich vorgenommen würden, seien ganz und gar unzureichend. Er würde das abstellen. Die Leute müssten sofort und ohne Verfahren abgeschossen oder gehängt werden. Schließlich habe Heydrich noch gesagt: Die kleinen Leute wollen wir schonen, der Adel, die Popen und die Juden müssen aber umgebracht werden."

    Wenig später waren dann auch "kleine Leute" dran. Kinder, Frauen, Geiseln, angebliche "Partisanen" und alle angeblich "rassisch Minderwertigen" waren der stetig perfektionierteren SS-Todesmaschinerie ausgeliefert. Heydrich selbst errichtete in Prag sein ganz persönliches Schreckensregime, wo er als faktischer "Reichsprotektor für Böhmen und Mähren" neben seinen bisherigen Berliner Funktionen freischalten und morden konnte. Am 27. Mai 1942 wurde er selbst bei einem Attentat verletzt. Eine Woche später starb er an einer Blutvergiftung. Seine Frau Lina, stolz auf Heydrichs Verbrechen, wie der Autor beschreibt, erhielt bis zu ihrem Tod im Jahre 1985 eine prächtige Generalswitwenrente. Auch das gehört zum furchtbaren aber immer noch interessanten Leben dieses Mannes. Robert Gerwarth hat es mit eindrucksvollem Überblick über die großen Linien, aber auch mit viel Sinn für bittere, manchmal auch bizarr-komische Details erzählt.

    Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich,Siedler Verlag, 500 Seiten, 29,99 Euro, ISBN: 978-3-886-80894-6