Kommentar
20 Jahre NSU-Anschlag: Die Opfer mussten doppelt leiden

Vor 20 Jahren detonierte eine Nagelbombe in der Kölner Keupstraße. Die Täter waren Rechtsterroristen, doch die Polizei schloss rassistische Motive schnell aus. Bis die Wahrheit ans Licht kam, dauerte es sieben Jahre - viel zu lange.

Ein Kommentar von Felicitas Boeselager | 09.06.2024
Blick in die Keupstraße in Köln-Mülheim.
Keupstraße in Köln-Mülheim: Hier explodierte die NSU-Nagelbombe und verletzte 22 Menschen. (picture alliance / Panama Pictures / Christoph Hardt)
Am 9. Juni 2004 lehnt ein Mitglied des sogenannten NSU ein Fahrrad gegen den Friseursalon Kuaför Özcan in der Keupstraße in Köln-Mühlheim. Im Fahrradkoffer liegt eine Nagelbombe mit über 700 Nägeln. Wenig später detoniert sie. 22 Menschen werden verletzt, vier von ihnen schwer. Der Friseursalon ist verwüstet, die Fenster in den umliegenden Läden eingeschlagen. Mit einem Mal brechen Leid und Schrecken über die lebendige Einkaufsstraße herein.

Der Verdacht richtete sich gegen die Opfer

Die Polizei schließt ein rechtsextremistisches Motiv schnell aus. Stattdessen ermittelt sie vor allem im migrantischen Milieu der Keupstraße – vermutet Banden- oder Clankriminalität. So kriminalisiert sie die Opfer und Anwohner der Straße. Obwohl Augenzeugen gesehen haben, wie der Täter das Fahrrad vor dem Friseursalon abstellt. Und obwohl der Täter auf einem Video einer Überwachungskamera festgehalten ist. Viele Menschen in der Keupstraße ahnen früh, dass der Anschlag ein rassistisches Motiv hatte, aber die Polizei glaubt ihnen nicht.
So zieht nach dem Schrecken und der Angst das Misstrauen in der Keupstraße ein. Misstrauen gegen den Staat und die Polizei – aber nach den Ermittlungen in den eigenen Familien auch ein Misstrauen untereinander. Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit machen sich breit und die Frage: Warum werden wir nicht ernst genommen?
Sieben Jahre lang leben die Menschen in der Keupstraße mit diesen Fragen und Zweifeln. Bis die rechtsextreme Terrorzelle sich selbst enttarnt und endlich für alle klar ist: Der Nagelbombenanschlag hatte ein rassistisches Motiv. Die türkisch geprägte Keupstraße war ganz bewusst das Ziel dieses Anschlags.

Sieben Jahre des Schweigens

Die Menschen in der Keupstraße mussten doppelt leiden. Unter dem Schrecken und der Angst nach dem Anschlag, den Verletzungen, dem Gefühl, in ihrem eigenen Zuhause nicht mehr sicher zu sein – und unter der Ungerechtigkeit, dass ihnen niemand glaubte. Dass ihnen das Signal gesendet wurde: Ihr seid selber Schuld. Und unter der quälenden Frage: Wäre anders mit ihnen umgegangen worden, wenn sie nicht türkischstämmig wären? Wenn der Anschlag in einer anderen Einkaufsstraße in Köln passiert wäre, einer, die nicht migrantisch geprägt ist? Wo waren alle anderen Kölnerinnen und Kölner in den sieben Jahren des Schweigens?
Die Keupstraße ist kein Einzelfall im Umgang mit Opfern rechtsextremistischer und rassistischer Gewalt. Bei allen neun Mordopfern des NSU konzentrierte sich die Polizei auf das Umfeld der Opfer und ermittelte kaum Richtung Rechtsextremismus. Auch die Öffentlichkeit, die Presse trug ihren Teil zur Stigmatisierung der Opfer bei – der unsägliche Begriff der „Dönermorde“ ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt zu viele solcher Beispiele.

Mahnmal lässt auf sich warten

Was es bedeutet, Menschen auf diese Weise ihr Leid abzusprechen und ein kollektives Gedenken zu verweigern, lässt sich schwer ermessen. Seit der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 hatte die Öffentlichkeit die Chance, sich mit dieser Schuld auseinanderzusetzen. In Köln kam 2014 langsam etwas in Bewegung, im Schauspiel Köln entstand ein Theaterstück über den Nagelbombenanschlag – mehr als 200 Mal ist es seitdem aufgeführt worden. Immer wieder finden Gedenkveranstaltungen statt, am 20. Jahrestag nimmt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teil.
Aber das bereits geplante Mahnmal lässt noch auf sich warten. Dafür gibt es verschiedene – zum Teil auch nachvollziehbare – Gründe. Nach der Geschichte des Umgangs mit dem Anschlag bleibt dennoch ein schaler Geschmack und die Frage: Haben wirklich alle begriffen, was sieben Jahre Schweigen bedeutet?
Porträt: Felicitas Boeselager
Porträt: Felicitas Boeselager
Felicitas Boeselager ist Landeskorrespondentin in NRW. Die gebürtige Rheinländerin studierte Geschichte und Literatur in München, lernte Videojournalismus und war unter anderem für den Bayerischen Rundfunk tätig. Sie war seit August 2018 Landeskorrespondentin für Deutschlandradio in Bremen, zuvor als Redakteurin in der Abteilung Hintergrund im Deutschlandfunk und als Volontärin im Deutschlandradio tätig.