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NSU-Mordserie
Verfassungsschutz war zu nah dran

Im Fall der NSU-Mordserie sei die Justiz auf dem rechten Auge blind gewesen - das ist die gängige These, warum die zehn Morde an Migranten und einer Polizistin jahrelang nicht aufgeklärt wurden. Der Journalist Stefan Aust sagte im DLF, die Behörden seien eher Opfer ihrer eigenen Strategie geworden, besonders nah an die Szene zu rücken - und hätten dann versucht, das zu vertuschen.

Stefan Aust im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Porträt von Stefan Aust
    Der Journalist und Autor Stefan Aust, der frühere Chefredakteur von "Der Spiegel" (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Stefan Aust glaubt nach seinen Recherchen, dass der Verfassungsschutz durch seine V-Leute in der rechtsextremen Szene sehr nah dran gewesen sei - zu nah. Die Szene um die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe sei durchsetzt gewesen von V-Leuten, die Geld von den Landesämtern und dem Bundesamt für Verfassungsschutz bekamen.
    Diese Leute sind Aust zufolge dafür bezahlt worden, dass sie in dieser Szene aktiv seien. Es stelle sich aber die Frage, ob sie tatsächlich nachrichtenehrlich seien, also im Wesentlichen entscheidende Nachrichten aus der Szene auch an die Behörden weitergeleitet hätten, oder Teil der rechtsextremen Szene geblieben seien - für Aust ist in den meisten Fällen Letzteres der Fall gewesen.
    Sowohl die Unterlagen der Untersuchungsausschüsse der Parlamente als auch eine Aussage des zuständigen CDU/CSU-Obmanns im Bundestag, Clemens Binninger, zeigten, dass die V-Leute so nah am Terrortrio dran gewesen seien, dass man sich nicht vorstellen konnte, warum nicht zugegriffen wurde.
    Behörden wollten ihre Rolle verschleiern
    Das ist für Aust auch der Grund, warum Akten geschreddert wurden. Die Behörden hätten ihre Rolle in der Szene verschleiern wollen. So würde nicht nur Beate Zschäpe im NSU-Prozess schweigen, im übertragenen Sinne schweige auch der Verfassungsschutz.

    Dirk-Oliver Heckmann: "Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU" – das ist der Titel des neuen Buchs von Stefan Aust, das er zusammen mit Dirk Laabs geschrieben hat. Heute erscheint es und ich habe jetzt die Möglichkeit, Stefan Aust zu begrüßen, den ehemaligen Chefredakteur des "Spiegel". Schönen guten Morgen, Herr Aust.
    Stefan Aust: Guten Morgen.
    Heckmann: Herr Aust, Sie sagen, Sie räumen mit einigen Thesen auf, die die Debatte bisher bestimmt haben. Welche sind das im Wesentlichen?
    Aust: Na ja, tote Täter sind bequem. Es sind zwei Leute, die mutmaßlichen Täter, Böhnhardt und Mundlos, in ihrem brennenden Auto nach einem Banküberfall gefunden worden. Und deswegen hat sich alles darauf konzentriert, dass es nur diese beiden Personen gewesen sind und dass die Polizei viele Jahre ermittelt hat und sozusagen auf dem rechten Auge blind war, weil es einen internen und unterschwelligen Rassismus bei der Polizei gegeben habe. Ich glaube, das ist das Wesentliche, was nicht stimmt.
    Ich glaube auch, dass eines definitiv nicht stimmt, dass die Verfassungsschutzbehörden ebenfalls auf dem rechten Auge blind waren. Ich glaube, der Kern des Problems besteht darin, dass die Verfassungsschutzbehörden durch ihre V-Leute viel zu nah dran waren, sehr nah dran waren. Was sich tatsächlich abgespielt hat, das haben wir auch nicht herausgefunden, aber Sie können von einem ausgehen: Die Szene um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe war durchsetzt von V-Leuten von Landesämtern für Verfassungsschutz und vor allen Dingen aber auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz, und nachdem die Affäre dann dadurch, dass die beiden tot aufgefunden worden sind, aufgeflogen ist, nachdem die Untersuchungsausschüsse getagt haben, stellt sich eines ganz deutlich heraus, dass die Verfassungsschutzbehörden sehr nah dran waren, und dann hat man konsequenterweise Akten geschreddert, und zwar in einem sehr großen Ausmaß. Man kann es auf den Nenner bringen: Frau Zschäpe, die wahrscheinlich eine ganze Menge weiß, die schweigt und der Verfassungsschutz hat geschreddert. Das heißt, er hat sozusagen physisches Schweigen hervorgerufen.
    Heckmann: Das heißt, Sie werfen den Behörden vor, nicht aus Dummheit oder Ignoranz oder aus Zufall geschreddert zu haben, sondern aus purer Absicht?
    "Dieses Schreddern war kein Zufall"
    Aust: Es gibt überhaupt keinen anderen Schluss, den man aus dem ziehen kann, was die Untersuchungsausschüsse ergeben haben, was in den Akten steht. Dieses Schreddern war kein Zufall. Sie müssen sich vorstellen: Der dafür zuständige Mann beim Bundesamt für Verfassungsschutz hat zwei Stunden, nachdem Frau Zschäpe sich gestellt hat, die Anweisung gegeben, aus einem bestimmten Bereich, nämlich aus genau diesem Bereich, die Akten der V-Leute rauszuziehen, und dann hat er die dafür zuständige Frau beauftragt, die sich erst sogar noch gewehrt hat, diese Akten zu schreddern.
    Als dieses im Untersuchungsausschuss zur Sprache kam, der langjährige Leiter, der stellvertretende Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und heutige Staatssekretär und Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt Fritsche dazu befragt worden ist, da hat der erst mal einen großen Vortrag gehalten und erklärt, wie falsch das war, es war dumm und was weiß ich, und wie jetzt alle auf den Geheimdiensten herumhacken. Und dann hat er etwas sehr Interessantes gesagt, ganz am Ende seines Vortrages. Er hat nämlich gesagt, Staatsgeheimnisse dürfen nicht bekannt werden, wenn dadurch Regierungshandeln unterminiert wird. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Das muss man sich noch mal genau auf der Zunge zergehen lassen, was der da tatsächlich gesagt hat.
    Heckmann: Aber ist das nicht eine Selbstverständlichkeit, dass Staatsgeheimnisse natürlich nicht bekannt gemacht werden sollen?
    Aust: Ich glaube, Staatsgeheimnisse - - erstens gibt es keine illegalen Staatsgeheimnisse und darf es nicht geben. Aber wenn es darum geht, dass V-Leute, die verdeckt operieren in einer Mordserie, wo es immerhin um zehn Tote gegangen ist, dass die dadurch geheim gehalten werden, indem man die Akten schreddert, und dieses dann sozusagen zur Staatsräson erhebt, das, glaube ich, ist außerordentlich bedenklich.
    Heckmann: Im Mittelpunkt unter anderem zumindest Ihres Buchs, Stefan Aust, also das Bundesamt für Verfassungsschutz. Sie stellen die These auf, die V-Männer, von denen Sie gerade schon gesprochen haben, die die rechtsradikale Szene durchsetzt haben, die hätten es erst möglich gemacht, dass der rechtsextreme NSU entstehen konnte. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
    "V-Leute von Anfang an führend dabei"
    Aust: Na ja, es gibt in dieser rechtsradikalen Szene, im Umfeld des Thüringer Heimatschutzes gibt es V-Leute, die von Anfang an führend dabei gewesen sind, die auch in den Unterlagen auftauchen, die als die wesentlichen Drahtzieher gelten. Es gibt Zeiten, in denen ein, zwei, drei Leute von unterschiedlichen Verfassungsschutzämtern in dieser Szene sind. Zum Beispiel – das ist ja ein bekannter Fall – Tino Brandt, sozusagen der Chef des Thüringer Heimatschutzes, aus dem das alles entstanden ist, der war über viele Jahre V-Mann des Verfassungsschutzes. Es gibt einen, der heißt Michael See – hat sich inzwischen umbenannt -, der war von Anfang an maßgeblich dabei. Die Szene ist wirklich durchsetzt von V-Leuten, die über viele Jahre eine ganz wesentliche, ich will nicht sagen entscheidende, aber doch eine ganz wesentliche Rolle in diesen Szenen gespielt haben. Und Sie dürfen ja nicht vergessen: Das sind ja, jedenfalls soweit wir wissen, nicht in den Untergrund, in den rechtsradikalen Untergrund geschickte Beamte - solche mag es auch gegeben haben, ist bisher aber noch kein Fall wirklich nachweislich bekannt geworden -, sondern es sind Leute, die zu dieser Szene gehören und die dafür bezahlt worden sind, dass sie in dieser Szene aktiv sind. Und die große Frage ist immer, ob diejenigen, die in dieser Szene aktiv sind, ob die tatsächlich, wie man in der Fachsprache sagt, nachrichtenehrlich sind, ob die tatsächlich im Wesentlichen Agentenzuträger eines Amtes sind, oder ob sie nicht in Wirklichkeit Teil dieser Szene geblieben sind. Und in den meisten Fällen ist sehr deutlich, dass sie Teil dieser Szene geblieben sind. Damit haben diejenigen, die sie geführt haben und nicht richtig unter Kontrolle hatten, glaube ich, eine sehr große Verantwortung. Wenn Sie sich die Materialien ansehen – davon gibt es ja inzwischen außerordentlich viel durch die Ermittlungsakten des Untersuchungs- oder der verschiedenen Untersuchungsausschüsse -, können Sie immer wieder feststellen, wie nah diese Leute an dem Terrortrio, wie man das nennt, dran gewesen sind.
    Heckmann: Sie haben den Thüringer Heimatschutz gerade erwähnt. Sie nehmen jetzt den Anspruch, erstmals zu belegen, dass Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben diesen sogenannten Thüringer Heimatschutz mit aus der Taufe gehoben haben und dabei von einem V-Mann – Sie haben den Namen gerade auch schon genannt – angeleitet worden seien. Wodurch ist es gelungen, das nachzuweisen, und was würde das Ganze bedeuten?
    Aust: Der Untersuchungsausschuss, vor allen Dingen der im Bundestag, hat ja außerordentlich viel Materialien zutage gefördert und darüber ist ja sehr intensiv geredet worden. Es sind verschiedene andere Materialien beigezogen worden. Es sind ja unendlich viele Akten. Das können Sie sich gar nicht vorstellen, wie viele Akten inzwischen aufgetaucht sind, auf die man, wenn man sich ein bisschen Mühe gibt, auch Zugriff haben kann, oder die man analysieren kann. Und da stellt sich immer mehr heraus, wie diese Szene tatsächlich durchsetzt gewesen ist.
    Heckmann: Und Sie kommen auch zu dem Schluss, der NSU und seine Morde hätten verhindert werden können.
    Aust: Na ja, wenn man sich vorstellt, wie nah die dran gewesen sind. Auch das Zitat von Herrn Binninger, was Sie vorhin vorgespielt haben, zeigt ja sehr deutlich, dass diese V-Leute so dicht dran gewesen sind, dass man sich eigentlich gar nicht vorstellen kann, warum man nicht zu irgendeinem Zugriff gekommen ist.
    Wir haben uns mit Thesen sehr zurückgehalten. Wir haben das aufgeschrieben, was wir belegen können. Wir haben auch sehr genau gesagt, wo immer die Fundstellen sind. Es hat einen ziemlich starken, ziemlich umfangreichen Anhang, damit man immer feststellen kann, wo das alles herstammt. Aber wir haben jetzt nicht Rückschlüsse oder Schlussfolgerungen aus dem gezogen. Die bieten sich möglicherweise an, aber wir wollten uns nicht dem Vorwurf aussetzen, dass wir jetzt irgendwelchen Verschwörungstheorien anhängen, sondern wir haben einfach die Fakten, auch wenn sie sehr widersprüchlich sind, nebeneinandergestellt und haben uns im Wesentlichen darauf konzentriert, die Fragen zu benennen, die tatsächlich aus den Recherchen auftauchen. Wie die tatsächlich nachher zusammenhängen, wie man das erklären kann, das müssen andere feststellen, und ich glaube, das werden auch andere feststellen, denn man hört ja im Augenblick aus den Kreisen der Politik und der Abgeordneten doch sehr deutlich heraus, dass man mit dem Ergebnis des Bundestagsuntersuchungsausschusses, der dann ja irgendwie durch die Bundestagswahlen relativ schnell beendet worden ist, dass man darüber nachdenkt, einen weiteren Untersuchungsausschuss einzurichten. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Untersuchungsausschuss sich ganz wesentlich mit der Frage der Rolle der Geheimdienste, der Nachrichtendienste in dieser Affäre beschäftigen wird, sich ganz intensiv mit der Frage beschäftigen wird, was eigentlich geschreddert worden ist und warum es geschreddert worden ist.
    Sie dürfen ja nicht vergessen: Die Akten, die dort geschreddert worden sind, da hat man hinterher so getan, als könnte man sie rekonstruieren, und man hat es auch versucht, hat dann ausgerechnet einen ehemaligen Beamten des Bundesamtes für Verfassungsschutz damit beauftragt, dieses zu tun. Aber man kann die Akten gar nicht vollständig rekonstruieren, denn das Wichtigste sind ja die Treffberichte, und die gibt es in der Regel eigentlich nur ein einziges Mal. DA steht ein Bericht drin, was der V-Mann-Führer mit dem V-Mann besprochen hat und was der ihm erzählt hat. Wenn Sie die Dinger einmal vernichten, dann sind sie weg!
    Heckmann: Herr Aust, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das hat ja verheerende personelle Verbindungen mit dem NS-Regime aufgewiesen. Das ist ja schon lange bekannt. Wie ist das in diesem Zusammenhang einzuordnen? Spielte das möglicherweise eine Rolle?
    "Kausalität gibt zwischen der NS-belasteten Nachkriegsgeschichte und dem, was jetzt passiert"
    Aust: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass es sozusagen eine Kausalität gibt zwischen der NS-belasteten Nachkriegsgeschichte zum Beispiel des Bundesamtes für Verfassungsschutz und dem, was jetzt passiert. Aber es zeigt natürlich, sagen wir mal, eine deutsche Geschichte und die deutsche Geschichte besteht ja darin, die Bundesrepublik ist ja damals nicht auf der grünen Wiese neu aufgebaut worden. Das heißt, überall, in allen Behörden, auch in Schulen und Universitäten, überall haben natürlich Leute gesessen, die früher auf irgendeine Weise dem NS-Regime gedient haben. Und so ist es beim Bundesamt für Verfassungsschutz auch gewesen. Manche Dinge sind auch erst sehr spät aufgeflogen. Übrigens dass der eine Chef bei der Waffen-SS war, ist, glaube ich, vorher noch nicht bekannt gewesen. Aber das spielte eine Rolle und umgekehrt dürfen Sie ja nicht vergessen, dass diese ganze NSU-, Neonazi-Ideologie natürlich auch immer im Hintergrund das Dritte Reich hat. Das heißt, wir zeigen plötzlich eine unsägliche und unselige deutsche Tradition, die sich in unterschiedlicher Weise hier niederschlägt.
    Heckmann: "Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie des NSU" von Stefan Aust und Dirk Laabs erscheint heute, ist ab heute erhältlich. Wir haben gesprochen mit dem ehemaligen Chefredakteur des "Spiegel", mit Stefan Aust. Herr Aust, danke Ihnen für Ihre Zeit!
    Aust: Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.