Mario Dobovisek: 373 Verhandlungstage in vier Jahren, 815 Zeugen, 42 Sachverständige – der NSU-Prozess in München geht mit den Abschluss-Plädoyers heute in die entscheidende Runde. Allein die Bundesanwaltschaft wird 22 Stunden brauchen, ihr Plädoyer vorzutragen. Fünf Prozesstage sind dafür angesetzt. Dann folgen noch die Plädoyers der Nebenkläger und auch der Verteidigung. Das wird sich noch bis nach dem Sommer hinziehen. Ich hatte am Vormittag Gelegenheit, mit Stefan Aust zu sprechen, ehemaliger "Spiegel"-Chefredakteur und Herausgeber der Tageszeitung "Die Welt". Er hat sich intensiv mit den Morden des NSU befasst und mit dem Prozess, unter anderem für seine Dokumentation "Der NSU-Komplex". – Vier Jahre hat die Beweisaufnahme gedauert. Der vorsitzende Richter Manfred Götzl hat in den vergangenen Tagen und Wochen noch einmal Druck gemacht, um sie endlich abzuschließen. Für viele der Nebenkläger kam der Abschluss jetzt dann doch überraschend schnell, und ich habe Stefan Aust gefragt, ob für ihn auch.
Stefan Aust: Nein. Dass das Gericht irgendwann mit dem Prozess und mit dem Verfahren durchkommen wollte, war ja klar. Das zeichnete sich vor einiger Zeit ab. Und es war nicht erkennbar, dass es tatsächlich in diesem Verfahren noch irgendwelche wirklichen Neuerungen, neue Erkenntnisse geben würde. Die Bundesanwaltschaft hat sich darauf festgelegt, Frau Zschäpe und die übrigen Angeklagten zu verurteilen, und wollte dieses Verfahren zu Ende bringen. -Was interessant ist: Parallel dazu führt ja die Bundesanwaltschaft noch ein weiteres Struktur-Ermittlungsverfahren, was sich mit dem gesamten Vorgang ebenfalls befasst.
"Es sind noch im zweistelligen Bereich BKA-Beamte im Einsatz"
Dobovisek: Was wird das bedeuten?
Aust: Das bedeutet, dass, ich will mal sagen, so eine Art von institutionalisierter Schizophrenie bei der Bundesanwaltschaft – ich meine das gar nicht abwertend – vorhanden ist. Die Anwälte, die Bundesanwälte, die die Anklage vertreten in dem Münchener Verfahren, die wollen die Informationen, die Beweise, die Indizien, die dort sind, verwenden, um Frau Zschäpe lebenslang hinter Gitter zu bringen. Ich nehme mal an, das wird ihnen auch gelingen. Und wie viel die Übrigen kriegen, weiß ich nicht. Aber Sie wissen in Wirklichkeit genauso gut, ja eigentlich wie jeder, der sich mit dem Verfahren beschäftigt, dass der Fall selbst nicht wirklich aufgeklärt ist und dass es viele Spuren gibt, die noch in andere Richtungen gehen, und da betreibt die Bundesanwaltschaft parallel dazu ein weiteres Wirkungsverfahren. Es sind auch, ich glaube, im zweistelligen Bereich BKA-Beamte in dem Fall immer noch im Einsatz, die versuchen, verschiedenen Spuren nachzugehen. Da geht es vor allen Dingen natürlich um die Frage, ob noch mehr an der Mordserie direkt beteiligt waren.
Dobovisek: Es sei ein reiner Indizienprozess, das räumt ja auch Bundesanwalt Herbert Diemer ein. Wie wichtig ist es aber, dass jetzt zumindest in dem Hauptverfahren ein Punkt gesetzt wird?
Aust: So ein Verfahren kann sich natürlich nicht bis in alle Ewigkeit hinziehen. Und das, was man an Indizien gegen Frau Zschäpe hat, das wird man im Augenblick jedenfalls in, sagen wir mal, überschaubarer Zeit nicht noch ausweiten können. Frau Zschäpe hat ja zwar eine Aussage vor Gericht gemacht. Das heißt, ihre Anwälte haben die verlesen. Aber da wiederholt sie im Grunde mehr oder weniger das, was auch in der Anklageschrift steht. Sie hat ja nicht wirklich ausgesagt. Sie hat ja keine Fragen beantwortet, wie es sonst gelegentlich auch Angeklagte oder auch Zeugen machen müssen im Verfahren. Sie hat in Wirklichkeit nicht viel mehr zugegeben als das, was man ihr auch nachweisen kann.
"Es gibt unendlich viele Indizien dafür, dass es mehr Leute gewesen sind"
Dobovisek: Sie sagt ja, dass sie immer im Nachhinein von den Taten erfahren haben will, dass sie gar nicht direkt beteiligt war. Ist das für Sie glaubwürdig?
Aust: Na ja. Man muss ja sagen, bei einer Mordserie ist nach der Tat vor der Tat. Das heißt, wenn sie über eine Tat im Nachhinein informiert worden ist, dann ist das ja gleichzeitig immer gewesen vor der nächsten Tat. Ich bin sehr im Zweifel, ob sie tatsächlich so wenig mitbekommen hat, dass sie sich hinterher die Beichte der Kameraden angehört hat und sich nicht mit dem Gedanken beschäftigt hat, dass vielleicht der dritte Mord nicht der letzte ist oder der vierte nicht der letzte ist oder der achte nicht der letzte ist. Ich glaube, aber das weiß ich auch nicht, ich glaube, ich kann mir nur vorstellen, dass sie, weil sie ja mit denen so lange auch zusammen gelebt hat, dass sie sehr viel mehr wusste, und ich glaube, sie wusste, dass es eine Serie ist. Sie hat nicht erst, vermute ich jedenfalls sehr stark, hinterher davon erfahren.
Dobovisek: Aber das ist genau das Problem. Sie können sich das vorstellen und Sie haben sich ja nun wirklich intensiv mit dieser Mordserie auseinandergesetzt. Wir sprechen über Indizien, wir sprechen über keine Beweise. Um noch mal das Bild mit dem Punkt aufzugreifen. Sehen Sie, wenn denn ein Urteil ergeht, hinter diesem Urteil ein großes Ausrufezeichen?
Aust: Es ist wenigstens der Versuch eines großen Ausrufezeichens. Aber Sie dürfen ja nicht vergessen: Es hat sich ein gutes Dutzend und ich weiß gar nicht wie viele Untersuchungsausschüsse damit befasst insgesamt und es gibt unendlich viele Indizien dafür, dass es mehr Leute gewesen sind, die an dieser Geschichte beteiligt waren. Wenn Sie sich allein mal den Vorgang des Verfassungsschutz-Mitarbeiters, des V-Manns Marschner ansehen, in dessen Baufirma, Abrissfirma mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Mundlos gearbeitet hat. Das heißt, der war sozusagen eine Spinne im Netz in Zwickau in der rechten Szene. Dass der nichts davon mitgekriegt haben soll, halte ich für außerordentlich unwahrscheinlich. Es sind dann, bloß mal als ein kleines Beispiel, während der Mordserie in dessen Baufirma, Abrissfirma, in der Mundlos gearbeitet hat, drei Autos gemietet worden. Das war eine Firma, die war immer hart am Rande der Pleite. Da sind sehr luxuriöse Fahrzeuge gemietet worden und in drei Fällen ausgerechnet an Tagen, an denen Morde geschehen sind. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Leute in diese Mordserie verwickelt waren als die drei und die paar, die da noch vor Gericht stehen, ist außerordentlich groß. Aufgeklärt ist der Fall noch lange nicht.
"Die sind immer noch dabei, an diesem Fall herumzuermitteln"
Dobovisek: Das heißt, Sie sehen auch die Möglichkeit, dass es weitere Prozesse geben wird?
Aust: Das halte ich für sehr gut denkbar. Denn es ist in der Tat so, wir haben das ja festgestellt, wenn wir recherchiert haben in dem Umfeld, von dem wir dachten, dass es, sagen wir mal, von großer Bedeutung ist, dann haben wir recherchiert und plötzlich stellte sich heraus, dass die Bundesanwaltschaft sich mit demselben Vorgang beschäftigt. Das ist ein richtiges praktisch zweites paralleles Ermittlungsverfahren. Das nennt man ein Struktur-Ermittlungsverfahren. In Wirklichkeit ist es ein Verfahren wegen Mordes gegen Unbekannt. Das heißt, die sind immer noch dabei, an diesem Fall herumzuermitteln, unabhängig davon, ob jetzt die, die in München vor Gericht stehen, verurteilt werden oder nicht.
Dobovisek: Kommen wir am Ende unseres Gespräches noch mal ein bisschen weg vom Prozess. Schauen wir uns noch mal das große Ganze an. Sie haben die Untersuchungsausschüsse angesprochen. Sie haben selber auch vor einem ausgesagt. Haben Sie den Eindruck, dass aus diesen Ergebnissen auch die folgerichtigen Maßnahmen abgeleitet worden sind, zum Beispiel auch für die Zusammenarbeit der Dienste, die ja so heftig kritisiert wurde?
Aust: Ich habe den Eindruck, dass die Dienste am liebsten, weil die ja auch genügend andere Dinge zu tun haben, von dem Fall nichts mehr wissen wollen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es V-Leute im Umfeld von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gegeben hat, die ziemlich genau mitgekriegt haben, was sich dort abspielte, ist sehr groß. Ob diese V-Leute dann anschließend auch ihren V-Mann-Führern wahrheitsgemäß berichtet haben, ist eine andere Frage. Aber dasselbe, was Frau Zschäpe und die anderen Angeklagten vor Gericht machen, nämlich zu schweigen, machen die Behörden in gewissem Sinne auch.
Wie nahe waren die V-Leute an den Tätern?
Dobovisek: Wegducken und aussitzen?
Aust: Ja natürlich! Ich meine, es ist nachgewiesen, da gibt es gar keinen Zweifel, dass V-Mann-Akten systematisch vernichtet worden sind, dass die Spuren, dass sie vernichtet worden sind, ebenfalls vernichtet worden sind. Es gab auf jeden Fall in den Behörden sehr viel mehr Wissen über die ganzen Vorgänge, als man versucht zu offenbaren. Aber das ist das Kernproblem bei V-Leuten in dieser Szene. Sie wissen nie bei Leuten, die auf beiden Schultern tragen, wem sie nun tatsächlich die Wahrheit sagen, oder ob sie überhaupt wissen, was die Wahrheit ist, oder sich rein taktisch verhalten.
Dobovisek: Welcher Punkt müsste da aus Ihrer Sicht jetzt am dringendsten angegangen werden?
Aust: Na ja, es gibt im Grunde zwei Kernfragen in dem Fall, die nicht wirklich geklärt sind. Sind diese Morde alle tatsächlich nur von zwei Personen mit vielleicht einer Mitwisserin Zschäpe begangen worden? Das heißt, waren es Mundlos und Böhnhardt allein, oder waren noch mehr Leute daran beteiligt? Das ist absolut unklar.
Das zweite ist: Wie nahe waren die Verfassungsschutzbehörden beziehungsweise deren V-Leute an den Tätern? Wenn Sie sich allein mal vorstellen, in Zwickau haben die sieben Jahre in einer Wohnung gewohnt, schräg gegenüber von jemandem, der bei dem V-Mann in der Firma gearbeitet hat, und dieser V-Mann wusste sieben Jahre lang wo die sind, nachdem die gesucht werden. Da gibt es nicht den geringsten Zweifel, wenn man zwei und zwei zusammenzählen kann. Das heißt, der Fall ist noch lange nicht geklärt, und ob er jemals geklärt wird, das weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht.
Dobovisek: Der "Welt"-Herausgeber Stefan Aust über den NSU-Prozess in München.
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