Als sich Abdulkerim Simsek mit seiner Mutter und zwei Anwältinnen am Dienstagmorgen auf den Weg ins Gericht macht, kommt kein Wort über seine Lippen. Die Aufregung und Anspannung ist allen anzusehen, ganz besonders aber Abdulkerim Simsek, dem Sohn des im Jahr 2000 mutmaßlich vom NSU ermordeten Blumenhändlers Enver Simsek. Für den 30-Jährigen ist dieser 402. Verhandlungstag einer der wichtigsten Tage im NSU-Prozess. Die Anwältin der Familie wird ihr Plädoyer halten und anschließend will er selbst das Wort ergreifen. Doch dazu kommt es nicht - vorerst. Der Prozess wird bereits nach wenigen Stunden unterbrochen. Einer der fünf Angeklagten hat Rückenprobleme. Es ist Ralf Wohlleben, ehemaliger NPD-Funktionär und mutmaßlicher Waffenlieferant des NSU, ein Neonazi, der sich mit Szene-Anwälten umgibt. Nebenkläger Abdulkerim Simsek, der sich seit Wochen auf diesen Tag vorbereitet hat, kosten Verzögerungen wie diese viel Kraft.
"Ich bin enttäuscht, sehr enttäuscht, aber seit fünf Jahren warten wir, auf diesen einen Tag, oder zwei Tage oder drei Tage, oder auch wenn es ein Monat wird, darauf kommt es nicht an. 2000 wurde mein Vater ermordet, die ganze Zeit haben wir gewartet und wie soll ich sagen: Enttäuscht, aber ich warte. Ich werde zu Wort kommen!"
Ein letztes Mal die Opfer und ihre Angehörigen im Mittelpunkt
Der NSU-Prozess dauert nun schon über viereinhalb Jahre, über 800 Zeugen- und Sachverständigenaussagen wurden gehört. Viel wurde über die Hauptangeklagte Beate Zschäpe geredet und berichtet, viele juristische Kämpfe ausgetragen. Jetzt, in der Schlussphase des Prozesses stehen ein letztes Mal die Opfer und ihre Angehörigen im Mittelpunkt. Am Mittwoch schließlich kommt Abdulkerim Simsek doch noch zu Wort, tritt in schwarzem Anzug ans Stehpult im Saal A 101 des Oberlandesgerichtes.
"Ich bin der Sohn von Enver Simsek, ich war 13 Jahre alt, als mein Vater umgebracht wurde", sagt er zu Beginn seines Schlussvortrags.
Er will noch einmal in Erinnerung rufen, um was es im Kern dieses Verfahrens geht, um rassistische Morde an unschuldigen Menschen.
"Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft oder seiner Hautfarbe mit acht Schüssen zu töten?" fragt er.
"Mein Vater war kein Döner oder irgend so ein Dings, mein Vater war ein Mensch, ja, und es geht um einen Menschen, um viele Menschen die umgebracht worden sind Und das will ich darstellen, was für Konsequenzen es auch hat, ich will klarstellen, wie ich mich gefühlt habe."
Abdulkerims Vater Enver Simsek war das erste Opfer einer Serie von insgesamt neun Morden an türkisch bzw. griechisch-stämmigen Geschäftsleuten in ganz Deutschland, alle wurden mit derselben Waffe, einer Ceska 83 begangen. Die Serien-Morde wurden in der Presse abschätzig Dönermorde genannt, die Polizei vermutete eine türkische Mafia hinter den Taten, nie aber wurde in Richtung Rechtsextremismus ermittelt. Seda Basay, die Anwältin der Familie Simsek, wirft den Ermittlern schwere Fehler vor. Einmal wurde der getötete Blumenhändler verdächtigt, in Drogengeschäfte verwickelt gewesen zu sein. Dann wird ihm eine Geliebte unterstellt.
"Wenn sie die Akten lesen, können sie das nicht anders erklären als dass sie Vorurteile hatten"
Das Telefon der Witwe wird zehn Monate lang abgehört, die Wohn- und Geschäftsräume werden durchsucht, während den Aussagen von Zeugen, die europäisch aussehende Männer am Tatort beobachtet hatten, nicht nachgegangen wurde. Das Auto eines unbeteiligten dunkelhäutigen Paares wurde in den Akten "Negerfahrzeug" genannt. Seda Basay:
"Wenn sie die Akten lesen, können sie das nicht anders erklären als dass sie Vorurteile hatten. Warum hat man denn das Opfer mit Dreck beworfen? Es gab keine Anhaltspunkte dafür und trotzdem hat man immer weitergemacht. Es war strukturell rassistisch, es ist so. Es ging ja nicht nur bei uns so, sondern es zieht sich durch alle Morde und warum wurden die Morde nicht aufgeklärt? Weil die sich geweigert haben in die richtige Richtung zu ermitteln."
Das alles kommt für die Familie in diesen Tagen wieder hoch. Adile Simsek weint im Gerichtssaal, als sie ihrem Sohn zuhört. Der heute 30-Jährige schildert wie er als Kind den Verlust des Vaters erlebte. Wie er aus dem Internat ins Krankenhaus gerufen wurde und seinen Vater auf der Intensivstation mit zerfetztem Auge vorfand. Der Sohn zählte drei blutige Löcher im Gesicht des sterbenden Vaters, drei weitere in der Brust. Er schildert, wie er mithalf, den Vater zu Grabe zu tragen und weinend zusammenbrach, weil Blut durch das Leichentuch sickerte. Wie er der Mutter nicht zur Last zu fallen wollte, weil die finanziellen Mittel nach dem Tod des Vaters knapp waren. Wie die Mutter sich nicht mehr um die Kinder kümmern konnte, weil sie an einer schweren Depression erkrankte. Wie er unter den Verdächtigungen der Polizei litt, wie das gesellschaftliche Leben der Familie aufhörte und er schließlich als Kind aufhörte, seine Gefühle zu zeigen.
"Ich habe es immer versucht, es zu verheimlichen dass mein Vater ermordet wurde, ich habe es niemandem gesagt in der Schule, ich habe immer versucht, es geheim zu halten, viele wussten gar nicht, dass mein Vater gestorben war oder ermordet wurde weil ich diese Fragezeichen nicht haben wollte, weil viele haben gesagt, ok, nicht umsonst sterben so viele Leute, die müssen ja etwas gemacht haben, die Zeitungen und die Polizei mit diesen ganzen Drogensachen und so, automatisch waren wir schuldig."
Elf Jahre ging das so, bis sich 2011 Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt selbst töteten, um einer Verhaftung zu entgehen.
"Es klingt absurd, aber ich war erleichtert, als ich hörte, dass mein Vater von Nazis umgebracht wurde und so seine Unschuld bewiesen wurde," sagt Abdulkerim Simsek im Gerichtssaal und im Interview schildert er, welch elementare Veränderung das für ihn bis heute bedeutet.
Ende im NSU-Prozess ist nach viereinhalb Jahren in Sicht
"Heute kann ich hierstehen und offen reden, ich kann sagen, mein Vater ist unschuldig, mein Vater wurde ermordet, nur weil er ein Türke ist, er wurde von Nazis umgebracht, weil Türke ist, nur einfach weil er eine andere Hautfarbe, eine andere Herkunft hat, er wurde von Nazis umgebracht, kann ich heute ganz offen und ehrlich sagen, ist Opfer von Nazis. Es ist keine Schande. Früher war das ja nicht so, da hieß es, mein Vater sei schuldig, und wenn ich das gesagt hätte, wäre ich das Kind eines Drogendealers, und das ist eine riesen Erleichterung."
Abdulkerim Simsek studiert Medizintechnik, steht kurz vor dem Diplom. Er ist Vater einer zweijährigen Tochter. Das Ende im NSU-Prozess ist nach viereinhalb Jahren in Sicht. Für die Angeklagten fordert Simsek die höchste Strafe. Nur einem verzeiht er. Carsten S. – er machte im Prozess reinen Tisch und sagte als einziger aus und trug damit zur Aufklärung bei. Seinen Frieden wird Simsek aber selbst nach einem Urteil nicht finden. Denn die Familien der Opfer sind bis heute nicht sicher, ob alle Schuldigen gefasst sind.
Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Beate Zschäpe und die beiden verstorbenen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt weitgehend isoliert gehandelt und sich von der Szene abgeschottet haben. Doch die Familie und ihre Anwältin vermuten ein größeres Netzwerk aus lokalen Unterstützern und Hinweisgebern. Im Fall Simsek gab ein Nürnberger Neonazi gegenüber der Polizei an, den ermordeten Blumenhändler gekannt zu haben. Über eine Freundin dieses Neonazis gibt es wiederum eine Verbindung zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Solange Fragen wie diese offen sind, wird Abdulkerim Simsek nicht mit dem Geschehen abschließen können.
Viele Fragen bleiben offen
"Es gibt viele offene Fragen, ich wollte hundertprozentige Aufklärung und alle die ihre Finger in dem Spiel hatten, dass die alle bestraft werden. Das ist Hauptpriorität von mir aber das geschieht ja nicht. Ich hätte viele Fragen, ich hätte gewünscht, dass alles transparent, dass alles offensteht. So wurde es uns ja am Anfang versprochen, leider waren es nur leere Worte."
Die Anwältin der Familie fordert, dass auch nach einem Urteil weiter ermittelt wird und auch der Verfassungsschutz irgendwann seine Akten öffnen muss. Viel Hoffnung, dass die Fragen der Opfer irgendwann beantwortet werden, hat sie aber nicht.