Dirk-Oliver Heckmann: In München läuft ja derzeit der Strafprozess gegen die Hauptangeklagte im NSU-Prozess Beate Zschäpe. Da geht es um die strafrechtliche Aufarbeitung der Mordserie der Rechtsradikalen, die jahrelang unentdeckt geblieben ist. Bundestag und mehrere Landtage haben Untersuchungsausschüsse eingesetzt, um die politischen Verantwortlichkeiten zu klären und Konsequenzen zu ziehen. Gestern veröffentlichte der NSU-Ausschuss im Düsseldorfer Landtag seinen Abschlussbericht. Da stand vor allem der Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße im Mittelpunkt der Untersuchung, aber auch ein Mord in Dortmund. Tenor des Berichts: Die Behörden haben zu schnell rechtsextreme Täter ausgeschlossen.
Am Telefon begrüße ich dazu jetzt Mehmet Daimagüler. Er ist Jurist, Opferanwalt im NSU-Prozess in München. Schönen guten Morgen.
Mehmet Daimagüler: Guten Morgen.
Heckmann: Herr Daimagüler, über 1.000 Seiten ist er stark, der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses in Nordrhein-Westfalen. Die Parlamente von Bund und Ländern lassen nichts unversucht, um die Vorgänge lückenlos aufzudecken. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?
Daimagüler: Erst mal finde ich es gut, dass die Parlamente in Bund und Ländern an dieser Frage dran bleiben. Sie gehen nicht zur Tagesordnung über, sie stellen kritische Fragen und ich glaube, das ist ein Beweis dafür, dass unsere Demokratie dieses Thema nicht abhaken will.
Aber – und das ist ein ganz großes Aber – die Parlamente sind auf die Mitwirkung der Sicherheitskräfte angewiesen bei der Aufklärung des Geschehenen, und gerade mit Blick auf die Verfassungsschutzbehörden zweifele ich an vielen Stellen am Mitwirkungswillen dieser Behörden.
Heckmann: Wie kommen Sie dazu?
Daimagüler: Wir haben zentrale Fragen nicht beantworten können. An vielen Stellen haben wir immer wieder festgestellt, dass Akten verschwunden sind, dass Akten vernichtet worden sind. Im Anschluss heißt es immer, ja, wir haben die Akten wieder rekonstruiert. Da fragt man sich natürlich schon, warum wurden die Akten überhaupt erst vernichtet, wenn man sie dann anschließend so ganz prima wieder hat rekonstruieren können.
Heckmann: Was vermuten Sie hinter solchen Vorgängen?
Daimagüler: Ich glaube, da ist die Motivlage durchaus bunt. Man muss spekulieren. Ich glaube, man kann anfangen von "wir wollen das Amt schützen und Fehler, die begangen worden sind, nicht öffentlich machen" bis hin zu "wir wollen unsere Quellen schützen". Das hat ja beispielsweise der Mitarbeiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz, der verantwortlich war für die Operation Konfetti, die Vernichtung von Akten beim Kölner Verfassungsschutz, also beim Bundesamt für Verfassungsschutz, ganz freimütig zugegeben beim Thüringer Untersuchungsausschuss vor einigen Monaten.
Heckmann: Aber auch für ein solches Verhalten, wenn es denn wirklich festzustellen ist, gibt es ja eine politische Verantwortung. Haben Sie denn insgesamt den Eindruck, dass die Beteiligten in den Untersuchungsausschüssen, die ja bisher ihre Arbeit aufgenommen und gestern zum Teil ja auch abgeschlossen haben, wirklich versuchen, die Verantwortlichkeiten aufzudecken und aufzuklären? Oder haben Sie eher das Gefühl, dass hier der Ball hin- und hergeschoben wird?
Daimagüler: Nein. Mein Augenmerk, was die Kritik angeht, gilt ausdrücklich nicht den Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Gerade in NRW haben wir ja gesehen, dass die Parlamentarier quer durch die Bank, also aus allen Parteien, sich wirklich Mühe gegeben haben, den Dingen auf die Spur zu gehen, und gerade was die politischen Schlussfolgerungen angeht, beispielsweise, dass Behörden in Zukunft nicht mehr voreilig einen terroristischen oder rechtsextremen Hintergrund ausschließen sollten. Ich finde, dass da die Parlamentarier eine sehr, sehr gute Arbeit geleistet haben.
"Meine Kritik richtet sich an die Arbeit vor allem der Verfassungsschutzbehörden"
Heckmann: Ist das aus Ihrer Sicht die bemerkenswerteste Aussage gewesen dieses Berichts? Denn dass da voreilig rechtsradikale Motive oder auch Täter ausgeschlossen worden sind, das ist ja nun auch hinlänglich bekannt.
Daimagüler: Na ja, das ist schon hinlänglich bekannt. Aber dass dann auch konkrete Handlungsempfehlungen abgegeben werden, das ist nicht gang und gebe. Insofern ist das schon sehr, sehr gut.
Ich sage ja, dass meine Kritik sich richtet an die Arbeit vor allem der Verfassungsschutzbehörden. An der Stelle sind die Untersuchungsausschüsse auch in NRW nicht weitergekommen. Und man muss auch feststellen, dass ganze Themenkomplexe unaufgeklärt bleiben.
Lassen Sie mich dafür, was NRW angeht, ein Beispiel geben. Wir alle reden sehr, sehr viel über den Bombenanschlag in der Keupstraße, was sehr, sehr wichtig ist. Wir reden auch über den Mord an Herrn Kubasik in Dortmund. Es gab aber noch einen dritten Anschlag in NRW, nämlich in der Probsteigasse.
Heckmann: ... der weniger bekannt ist, auch in Köln.
Daimagüler: Auch in Köln, Probsteigasse, richtig. Und da ist es ja so, dass die beiden Zeugen, Vater und Tochter des iranischen Lebensmittelgeschäftes, eine Täterbeschreibung abgegeben haben über die Person, die die Bombe dort deponiert hat, die gar nicht passt auf Mundlos und Böhnhardt. Diese Frage wurde aber von der Generalbundesanwaltschaft relativ oberflächlich bei Seite geschoben, von wegen die Zeugen können sich nicht so richtig erinnern.
Ich finde aber, dass diese beiden Zeugen einen sehr, sehr glaubwürdigen und sehr detaillierten Auftritt hatten in München. Die haben eine Aussage gemacht, die doch daran zweifeln lässt, dass da nicht nur ein Trio am Werke war.
Heckmann: Ich frage noch mal nach. Das sind für Sie Hinweise darauf, könnten Hinweise darauf sein, dass es sich um mehr Täter als bisher bekannt gehandelt haben könnte?
Daimagüler: Ja, genau so ist es. Die Bundesanwaltschaft hat ja sehr, sehr früh zwei Dinge gesagt: Zum einen, der NSU ist ausermittelt, und zum Zweiten, es war eine isolierte Zelle aus drei Personen. Und ich glaube weder das eine noch das andere.
Dazu kommt: Ich selber bin in der Nähe von Köln geboren. Mir war weder die Keupstraße noch die Probsteigasse ein Begriff. Ich bin türkischstämmig und in der Keupstraße sind sehr, sehr viele Restaurants und Cafés, die von Türken betrieben werden. Da stellt man sich natürlich schon die Frage, wie junge Leute, 300, 400, 500 Kilometer entfernt, auf diese Straße kommen. Und bei der Probsteigasse stellt sich diese Frage doppelt, denn auf dem Schaufenster dieser Familie, dieser iranischstämmigen Familie stand "Getränke Schmitz". Da stellt sich ganz banal die Frage, wie kommt man auf diesen Ort.
"Es wird versucht, Taten zu entpolitisieren"
Heckmann: Okay, da sind noch einige Punkte aus Ihrer Sicht offen. Kommen wir mal zu den Konsequenzen. Sie haben ja gerade schon das Stichwort genannt. Das Düsseldorfer Innenministerium hat uns gestern gesagt, die wichtigsten Konsequenzen sind eigentlich schon gezogen worden mit der Einrichtung des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums in Berlin beispielsweise von Bund und Ländern. Ist das aus Ihrer Sicht auch so, sind die richtigen Konsequenzen gezogen worden?
Daimagüler: Nein. Das reicht doch bei Weitem nicht aus. Dieses gemeinsame Terrorabwehrzentrum soll koordinieren. Da fragt man sich natürlich, gerade jetzt mit Blick auf den Fall Amri, was koordinieren die eigentlich, auf welcher Rechtsgrundlage und mit welcher personellen Ausstattung. Das weiß man nicht.
Das andere ist die Sensibilisierung der Sicherheitskräfte, der Polizei, wenn es um politisch motivierte Gewalt geht. Da sehe ich in meiner täglichen anwaltlichen Arbeit, dass immer noch landauf, landab von Polizeikräften versucht wird, Taten zu entpolitisieren. Da wird ein Migrant, der fast totgeschlagen wird von Neonazis, da wird dieser Fall runtergespielt.
"So weit sind wir noch nicht, dass wir sagen können, wir haben daraus gelernt"
Heckmann: Das ist nach wie vor Praxis aus Ihrer Sicht?
Daimagüler: Ja, aus meiner Praxis sehe ich das ja. Da wird ein Fall runtergespielt zu einer Auseinandersetzung um eine Frau, obwohl die Tat ganz offensichtlich fremdenfeindlich und rassistisch gemeint ist. Und ich sehe an diesen Fällen, dass wir einen Lern- und Denkprozess brauchen, und so weit sind wir noch nicht, dass wir sagen können, wir haben daraus gelernt und wir haben uns darauf eingestellt.
Heckmann: Der NSU-Untersuchungsausschuss im nordrhein-westfälischen Landtag hat gestern seinen Abschlussbericht vorgelegt. Wir haben darüber gesprochen mit Opferanwalt Mehmet Daimagüler. Herr Daimagüler, ich danke Ihnen für Ihre Einschätzungen.
Daimagüler: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.