Jule Reimer: Wenn derzeit über Atomenergie gesprochen wird, dann geht es fast immer nur um den Iran oder Nordkorea und die Frage, wer von diesen Staaten militärisch die Welt tatsächlich oder vermeintlich bedroht. Wie sich die zivile Nutzung der Atomenergie weltweit entwickelt, nimmt jährlich eine internationale Wissenschaftlergruppe unter die Lupe und erstellt daraus Daten: Den sogenannten Weltstatusbericht der Atomindustrie. Dieser Bericht wird derzeit in Europa nach und nach vorgestellt und einer der Leitautoren ist der Atomexperte Mycle Schneider, mit dem ich jetzt in Paris verbunden bin. Guten Tag!
Mycle Schneider: Schönen guten Tag!
Reimer: Herr Schneider, wie attraktiv ist die Atomenergie immer noch?
Schneider: Sehr wenig! Man kann sich heute die Frage stellen, ob die Atomkraft langsam irrelevant wird für die Entwicklung der Stromsysteme international. Ich will das mal an einer einzigen Zahl verdeutlichen. Der globale Zuwachs an Stromerzeugungskapazitäten in der Welt 2017 lag bei etwa 257 Gigawatt. Und wenn man nur diese Zahl im Kopf behält, rund 260 Gigawatt, und der Zuwachs im Atombereich, die neuen Atomkraftwerke, die in Betrieb gegangen sind (vier Stück - drei in China, eines in Pakistan), drei Gigawatt sind, also drei im Verhältnis zu 260, damit verschwindet die Relevanz für die Atomkraft langsam.
Reimer: Aber langsam!
Schneider: Langsam! Selbstverständlich, weil wir natürlich über 400 Atomkraftwerke immer noch im Betrieb haben, und die Tendenz besteht, die Laufzeiten dieser Reaktoren, die nun ein Durchschnittsalter von 30 Jahren haben weltweit, zu verlängern.
"Militärische Interessen" als "Triebkraft"
Reimer: Aber Sie haben nach wie vor die Situation, dass in den großen Atomstaaten, USA, Frankreich, China, Russland, Südkorea, doch noch ein beträchtlicher Teil über Atomenergie an Strom generiert wird, und diese Staaten haben auch eine Leitfunktion.
Schneider: Das ist richtig. Aber vier der fünf Staaten, die Sie genannt haben, sind Atomwaffenstaaten. Das kommt nicht von ungefähr und wir haben dieses Jahr das erste Mal ein Kapitel in dem Statusbericht, der die Frage untersucht, ob die militärischen Interessen nicht langsam zu einem zusätzlichen Treiber werden, zu einer Triebkraft, Reaktoren weiterhin in Betrieb zu halten oder gar neue zu bauen, wie das der Fall ist in Großbritannien.
Reimer: Warum ist das so?
Schneider: Weil unter anderem es darum geht, querzufinanzieren. Das heißt: Wenn die militärische Abteilung in der Atomnutzung ab morgen sämtliche Ausbildung und Infrastrukturen selber zahlen müsste, über die eigenen Budgets, dann müssten diese Budgets erheblich höher werden. Deshalb gibt es eine ganz neue Argumentation. Das existiert wirklich erst seit zwei, drei Jahren, dass die Militärs sagen: "Hoppla, die zivile Atomkraftnutzung darf nicht flöten gehen, damit wir unsere Budgets schonen können".
"Keine größere Entwicklung"
Reimer: Aber sollte man die Augen davor verschließen, dass es auch Newcomer gibt? Die Türkei ist in Sachen Atomkraft eingestiegen, das arme Bangladesch, Weißrussland, die Vereinigten Arabischen Emirate.
Schneider: Richtig! Die Vereinigten Arabischen Emirate, da baut Korea. Bangladesch und die Türkei, da baut Russland. Übrigens wie in den meisten neuen Projekten, die in Angriff genommen werden, dominiert plötzlich Russland, obwohl in den Produktionszahlen noch China dominiert. Aber letzten Endes bleibt es so verschwindend gering, wenn man sich anschaut, was die Kapazitäten bedeutet, dass es sich um keine größere Entwicklung handelt, die eine Zukunft für die Atomkraft hier in irgendeiner Weise bedeuten würde.
Reimer: Der Weltstatusbericht über die Situation der Atomindustrie, der zivilen Nutzung der Atomkraft wird derzeit in Europa Stück für Stück rausgegeben. Das war ein Gespräch mit dem Atomexperten Mycle Schneider. Vielen Dank für diese Informationen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.