"Die Nuklearsicherheit ruht auf drei Säulen: Am wichtigsten ist die Verhütung von Unfällen. Falls doch etwas passiert, müssen die Folgen für Mensch und Umwelt eingedämmt werden. Das ist die zweite Säule. Falls beide versagen, kommt es auf die Notfallvorsorge und Gefahrenabwehr an."
Diese dritte Säule - nämlich die Qualität des Katastrophenmanagements jenseits der Anlagenzäune - stand im Zentrum des zweiten Stresstests. Neben den 28 EU-Nationen beteiligten sich auch benachbarte Länder wie Norwegen, die Schweiz oder Armenien. Wie beim ersten Stresstest vor zwei Jahren, bei dem der Fokus auf den Kernkraftwerken selbst gelegen hatte, reichte auch diesmal die Zeit lediglich für "Papierarbeit":
"Jedes Land hat uns sehr ausführliche Antworten auf die ebenfalls sehr ausführlichen Fragebögen geschickt - und zwar innerhalb kürzester Zeit. Die Länder nahmen sehr aktiv an dem Projekt teil",
lobt Neale Kelly. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Gremiums, das die Studie betreut hat. Der Zeitdruck hat seinen Grund: Die neuen EU-Grundnormen sind Ende 2013 in Kraft getreten und sollen in den nächsten vier Jahren in die nationale Gesetzgebung einfließen. Das bietet die Gelegenheit für die Harmonisierung der Katastrophenschutzmaßnahmen:
"In Europa gibt es auf einem vergleichsweise kleinen Gebiet viele Länder, und bei einem Unfall wäre aufgrund dieser räumlichen Nähe mehr als ein Land betroffen."
Deshalb wurde systematisch erfasst, welche Standards die einzelnen Länder bei der Notfallvorsorge und Gefahrenabwehr anwenden. Das Ergebnis:
"Grundsätzlich wenden alle Länder die gleichen Kriterien an. Allerdings werden sie unterschiedlich in die Praxis umgesetzt, und das wiederum liegt an Unterschieden in der Einschätzung sozialer, wirtschaftlicher und sogar politischer Belange."
Kriterien zur Verteilung von Jodtabletten sehr unterschiedlich
Die Unterschiede seien nicht groß und - vom rein technischen Standpunkt her betrachtet - vollkommen gerechtfertigt. Aber den Menschen sind sie im Ernstfall schwer vermittelbar:
"Ein gutes Beispiel sind die Kriterien, nach denen bei einem Nuklearunfall Jodtabletten an die Bevölkerung ausgegeben werden, um die Aufnahme von radioaktivem Jod zu blockieren. Da kann in dem einen Land der Wert X gelten, im Nachbarland 2X oder 3X. Das bedeutet, dass auf einer Seite der Grenze Jodtabletten verteilt werden und auf der anderen Seite nicht - nur weil die beiden Länder unterschiedliche Kriterien anlegen. Ein solches Vorgehen wird Besorgnis in der Bevölkerung auslösen und das Vertrauen untergraben."
Die Harmonisierung der Katastrophenschutzpläne sei wünschenswert und Sache der Politik, so Neale Kelly. Großen Handlungsbedarf macht die Studie auf einem anderen Gebiet aus: Wie wird nach einem schweren Unfall langfristig mit radioaktiv belasteten Gebieten umgegangen, und wie soll die Rückkehr zur Normalität aussehen?
"Bislang haben sich nur wenige Länder wie Frankreich damit beschäftigt. Dieses komplexe Feld war nach Tschernobyl Ursache großer sozialer und wirtschaftlicher Spannungen. Auch Japan steht vor großen Problemen, weil nun ohne Vorbereitung Maßnahmen getroffen werden: Es geht beispielsweise um die Frage, ob Menschen langfristig umgesiedelt werden, oder darum, ob und unter welchen Bedingungen sie in kontaminierte Gebiete zurückkehren können. Das lässt sich nicht rein wissenschaftlich beantworten. Es geht vielmehr um komplexe gesellschaftliche Abwägungen. Über die wird nicht weiter nachgedacht, und dann sehen sich die Verantwortlichen am Tag des Unfalls plötzlich enormen Problemen gegenüber."
Auch hier sollten über ganz Europa hinweg einheitliche Strategien entwickelt und vor allem die Betroffenen in deren Entwicklung eingebunden werden. Und noch eine Lehre ergibt sich aus der Studie: Notfallmanagement ist sehr teuer. Deshalb sollten beispielsweise Messgeräte für die radioaktive Belastung oder auch medizinische Ausrüstung regional so zusammengefasst werden, dass sie im Ernstfall schnell und über Grenzen hinweg verfügbar sind. Das würde insbesondere kleinen Ländern helfen, die selbst keine eigene Kernkraftwerke besitzen.