Biographisch-literarische Schilderungen über den Krieg in der Ukraine sind seit Februar 2022 in vielen Zeitungen und Zeitschriften zu finden; auch der 1985 in der Zentralukraine geborene Artem Tschech berichtet regelmäßig für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" über seine Erfahrungen als Soldat. In seinem nun auf Deutsch erschienenen Buch "Nullpunkt" erfährt der Leser sozusagen die Vorgeschichte zu diesen Berichten.
"So oder so", schreibt Tschech in der ersten Prosa-Miniatur von "Nullpunkt", "jeder von uns wird neue Träume haben". Es ist 2015, und Artem Tschech – Autor und Erzähler in Personalunion – ist gerade zum Wehrdienst in die ukrainische Armee einberufen worden. Soldatentum, Waffengewalt, Heldenlegenden – das sind für ihn allesamt fachfremde Wörter. Er selbst porträtiert sich als "halben Hipster aus der Hauptstadt, der davon träumte, talentiert wie Rimbaud und schön wie Rambo zu werden".
Distanziert und lakonisch
In insgesamt 63 tagebuchähnlichen Kapiteln schreibt der Nicht-Rimbaud, der Nicht-Rambo dann gewitzt, ehrlich und lakonisch über die "Erbärmlichkeit des Militäralltags", zugleich über seine "fast völlige Identifizierung mit der Armee"; und es ist just diese delikate Position zwischen Skepsis und Affirmation, zwischen intellektueller Distanznahme und solidarischer Teilnahme, aus der "Nullpunkt" seinen unverkennbaren Tonfall zieht:
"Wir gehen auf den Übungsplatz. Bereits um acht Uhr morgens grillt die Sonne unsere Nacken und Nasen. Unsere Treter wirbeln dicke Staubwolken auf. Das Atmen fällt schwer. Manchmal müssen wir ins Lauftempo wechseln. Aber auch dabei reden wir weiter. Worüber? Wir sprechen von unserer früheren Arbeit, vergangenen Erfahrungen, erlebten Tragödien, Grenzüberschreitungen, über Waffen, Wehrtechnik und ihre Merkmale, ihre Abkürzungen und Akronyme sagen mir nicht viel. Was sollen sie mir auch sagen, war ich doch einer von denen, die in Tolstois 'Krieg und Frieden' die Kapitel über den Krieg übersprungen haben?"
Schon längst gibt es Krieg
Nach der Ausbildung wird Tschech an die Grenze zur Krim geschickt, anschließend in die Ostukraine in die Nähe von Cherson. Er passiert Bahnhöfe nahe Charkiw, hat Angst, während des Schlafs im Unterstand von tschetschenischen Kommandos erstochen zu werden. Und er schüttelt den Kopf über schlecht gewartete Transportpanzer, deretwegen die fünfzig Kilometer von Isjum nach Slowjansk zu lange dauern.
"Nullpunkt" stammt aus einer Vergangenheit, als der Krieg für viele nur ein Konflikt am denkbar östlichsten Rand von Europa war. In Tschechs mal heiteren, mal melancholischen Notaten wird er zur literarischen Gegenwart. In dieser Hinsicht ermöglicht die deutsche Übersetzung von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck auch eine Lektüre wider die geopolitische Verdrängung. Krieg und Frieden, Leben und Tod, alte und neue Träume – das gehört nicht erst seit Anfang 2022, sondern seit 2014 zur Lebenswirklichkeit in der Ukraine.
"Soldaten interessieren sich nicht für Krieg und noch weniger brauchen sie ihn. Ebenso wie ihre Familien oder die Bewohner des Donbas, die Passanten in den Großstädten, die Taxifahrer in den Provinzstädten, die Bauern im Gebiet Cherson, die Fischer in Odesa, die Hirten in den Karpaten, die Elektriker in Riwne, die Lehrer in Nischyn, die Chemiker in Tscherkasy … Also wen interessiert dieser Krieg? Und vor allem, wem nutzt er?"
Unsicherheit und Humor
Etliche Fragen wird der Soldat Tschech sich und uns stellen, ohne Antwort geben zu können: Was erwartet ihn und seinen Trupp in der nächsten Ortschaft? Wo wird der Tod ihn ereilen? Wann wird er mal wieder einen Smoothie in Kyjiw schlürfen? Was wird er später seinem Sohn erzählen? Und wird sein Buch in zehn Jahren noch etwas taugen?
Wenigstens auf diese letzte Frage lässt sich eine einfache Antwort finden: Ja. "Nullpunkt" ist ein unsoldatisches Buch eines Soldaten geworden; es verweigert sich dem Krieg, aus dem es überhaupt erst hervorgeht, indem es dessen Dogma der Härte, Helden und Sprachlosigkeit die Nuancen des Witzes und die Schelmerei eines Humanisten entgegenstellt.
Wenigstens auf diese letzte Frage lässt sich eine einfache Antwort finden: Ja. "Nullpunkt" ist ein unsoldatisches Buch eines Soldaten geworden; es verweigert sich dem Krieg, aus dem es überhaupt erst hervorgeht, indem es dessen Dogma der Härte, Helden und Sprachlosigkeit die Nuancen des Witzes und die Schelmerei eines Humanisten entgegenstellt.
"Und irgendwo da draußen, vielleicht ein paar Dutzend Kilometer entfernt, war der Krieg schon lange vorbei. Für die allermeisten. Krieg ist nicht interessant … Ich würde gerne bis Januar schlafen. Oder wach sein, aber nicht hier. Der 75. Tag an vorderster Linie. Der 203. Tag in der Armee. Der 11120. Tag meines Lebens."
Zurück an der Front
"Geh ins Zelt und schreib dein Buch. Das ist ein Befehl", das ruft der Kommandant der Einheit seinem Untergebenen eines Morgens zu. Der Schriftsteller Tschech hat diesen Auftrag glänzend erledigt. Und man kann nur innig hoffen, dass er weiterhin die Literatur als eine Möglichkeit nutzt, wehrhaft und frei zu bleiben im Angesicht der Barbarei. Denn er wurde längst wieder eingezogen und kämpft erneut an vorderster Linie.
Artem Tschech: "Nullpunkt"
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck
Arco Verlag, Wuppertal
200 Seiten, 20 Euro.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck
Arco Verlag, Wuppertal
200 Seiten, 20 Euro.