Der eisige Wind pfeift direkt in einen der unbenutzten Eingänge an der großen Backsteinkirche in Berlin-Mitte. Es ist ein Grad unter null. Vor der Tür wühlt sich eine schlanke Gestalt aus einem blauen Schlafsack, der auf einer dünnen Isomatte quer auf den Steinstufen liegt. Hier schläft Ulli Obermann seit fast vier Jahren, auch im Winter – ein Notübernachtungsplatz im Warmen käme für ihn auch bei 15 Grad Minus nicht infrage:
"Also, von den Menschen, die ich kenne, die Platte machen, geht da niemand hin. Sowieso nicht. Also, ich schlafe besser hier, ich schlafe fest und friedlich. Und ich habe da so ein kleines Kissen zum Aufblasen, das habe ich unter der Hüfte und da liegt es sich sehr, sehr bequem drauf. Mein Schlafsack ist doch halbwegs in Ordnung…"
Genaue Zahl der Obdachlosen unbekannt
Und dann sei das allemal besser, als sich Isomatte an Isomatte mit fremden Menschen die Krätze einzufangen, meint Ulli. Er ist einer von zwei- bis zehntausend Menschen, die in Berlin dauerhaft auf der Straße leben. Die Schätzungen der Hilfsorganisationen gehen weit auseinander, eine genaue Statistik gibt es nicht. Ulli ist noch nie statistisch erfasst worden. Der Pfarrer hat jetzt von innen einen Vorhang am Glas der Tür angebracht, so dass man Ulli nicht mehr im Kircheneingang liegen sehen kann – oder muss. Und wer nicht gesehen wird, existiert eben nicht:
"Also, von der Kirche ist noch nie jemand wirklich zu mir gekommen, na, die müssten doch auch ein Interesse daran haben, also warum, Nationalität, Alter. Aber mich hat da noch nie jemand angesprochen. Ich weiß nicht, wie die über mich eine Zahl erheben können. Das ist mir ein Rätsel."
Berlin hat beschlossen, jetzt das Problem Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit auf allen Ebenen anzugehen. Eine Statistik wäre der Anfang. Die Wohnungslosigkeit ist die Vorstufe zur Obdachlosigkeit. Über ersteres gibt es Zahlen: Über 30.000 Wohnungslose leben in Berlin. Es sind Menschen, die keine eigene Wohnung haben, aber vom Amt eine gestellt bekommen, in Gemeinschaftsunterkünften oder Hostels untergebracht sind. Robert Veltmann von der Caritas:
"Wir haben in Berlin in den letzten fünf Jahren eine Explosion der Wohnungslosenzahlen, das hat einerseits sicher etwas mit diesen Zuzug, also Migrationsgeschichten zu tun, das hat aber auch mit dem Wohnungsmarkt zu tun, der völlig ausgebombt ist. Und ich glaube, dass jetzt so massiv viele Leute auf der Straße nächtigen, das liegt einfach daran, dass das vorhandene Hilfesystem davon völlig überfahren wurde."
Deutlicher Anstieg verzeichnet
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass 2016 860.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung waren. Seit 2014 ist dies ein Anstieg um circa 150 Prozent. Circa die Hälfte der jetzt Wohnungslosen sind anerkannte Flüchtlinge, die weiterhin in Gemeinschaftsunterkünften geduldet werden. 52.000 Menschen sind obdachlos und leben dauerhaft auf der Straße, schätzt die Hilfsorganisation, 2008 waren es noch 20.000 bundesweit.
Und Berlin ist die Hauptstadt der Obdachlosen.
Hier campieren sie unter einer Brücke am Zoo, auf Bänken an der Spree direkt am Bundeskanzleramt oder in Zelten im Tiergarten, in Parkanlagen in Neukölln oder in Parkhäusern. Bei der Kirche, bei der Ulli Obermann campiert, sind die anderen unbenutzten Eingänge ebenfalls mit Schlafsäcken besetzt. In einem wohnt eine Frau, in dem anderen ein junger Mann. Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linken:
"Es nicht mehr nur der deutsche Mann zwischen 35 und 50, sondern es ist ein Spiegelbild dieser Gesellschaft. Obdachlosigkeit ist internationaler, Obdachlosigkeit ist weiblicher, und es gibt sogar Familien mit Kindern, die obdachlos sind."
30 Prozent der Obdachlosen sind inzwischen Frauen. Auch viele Osteuropäer sind darunter, die nach Deutschland kamen, um zu arbeiten und aus den unterschiedlichsten Gründen scheiterten. Oder anerkannte Flüchtlinge, die keine Wohnung finden, nicht anerkannte Flüchtlinge, die untergetaucht sind und so einer Abschiebung entgehen wollen, Menschen mit psychischen, Alkohol- oder Drogenproblemen oder Berliner, die ganz einfach ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können.
Ulli Obermann ist Mitte 50, kommt aus Luxemburg, hat studiert, und ist dann beruflich in der Musikszene gescheitert. Er lebte eine Zeit lang in Frankreich, dann kam er nach Berlin:
"Ich wollte unbekannt bleiben, auf keinen Fall in mein altes Leben zurück, weil ich mein Gesicht verloren habe. Das ist da wie so eine japanische Gesellschaft, man scheitert nicht, wenn man scheitert, dann ist Suizid die Ansage, aber sonst nichts. Ich wollte dann nach Deutschland. Anonym, Sprache, ich dachte, bei der Größe der Stadt kann man am meisten machen, das hat sich noch nicht bewahrheitet, also, ich habe noch nicht aufgegeben, aber schwer. Sehr schwer."
Ulli zieht seine am Kopfende verstaute Sporttasche hervor, holt ein paar Turnschuhe heraus, zieht eine schwarze Outdoorjacke an und setzt eine Mütze auf. Die Jeans hat er schon an, die trägt er auch im Schlafsack. Die Klamotten sind sauber, im Gesicht zeigt sich nur ein leichter Drei-Tage-Bart. Als Schlafsack und Isomatte in der Sporttasche verstaut sind und Ulli sich auf den Weg zum Café gegenüber macht, um dort die Toilette zu benutzen und einen Kaffee zu trinken, sieht er aus wie alle anderen Gäste. Das ist ihm wichtig.
Problem muss nachhaltig angegangen werden
Niemand im Café weiß, dass er obdachlos ist. Das Geld für den Kaffee verdient er durch Flaschensammeln. Später macht er sich auf den Weg zur Bahnhofsmission am Zoo, die zur Berliner Stadtmission gehört. Der Anlaufpunkt für Obdachlose aus ganz Berlin. Hier werden kostenlos warmes Essen, Kleidung und Schlafsäcke ausgegeben. Um kurz vor eins ist die Schlange am Einlass zum Speisesaal immer am längsten, und sie wird jedes Jahr länger, sagt Dieter Puhl, der Leiter der Bahnhofsmission. Bis zu 700 Gäste – wie sie hier genannt werden – kommen inzwischen täglich:
"Wir haben in Berlin, von der Vielfalt her, das beste Hilfenetz Europas. Es haut nicht mehr hin von der Anzahl der Menschen. Und was wir nicht möchten am Zoo, wir möchten nicht die Hilfen im Bereich der Niedrigschwelligkeit erweitern, wir möchten nicht mehr Brote herausgeben, nicht mehr Butter-Lindner-Törtchen, nicht mehr Schlafsäcke. Sondern wir möchten tatsächlich – wir wissen, es geht – ein bisschen Nachhaltigkeit in die Sache bringen."
Und das bedeutet, die Menschen erst mal vor dem Erfrieren zu retten, dann übergangsweise unterzubringen und schließlich dauerhaft in Wohnungen zu vermitteln oder andere, individuelle Lösungen für sie zu finden. Eine Mammutaufgabe. Und genau dafür wollen jetzt in der Bundeshauptstadt die Hilfsorganisationen, der rot-rot-grüne Senat und die Bezirke an einem Strang ziehen. Kürzlich fand deshalb eine erste Strategiekonferenz statt, weitere sollen folgen. Die Regierung will die finanzielle Hilfe für Wohnungslose verdoppeln, auf 8,1 Millionen Euro im Jahr. Sozialsenatorin Elke Breitenbach:
"Wir werden mit diesem Geld mehr Unterkünfte, also Unterkunftsplätze, schaffen für Familien mit Kindern. Wir werden mehr Sozialarbeiter einstellen. Und wir werden die niedrigschwelligen Angebote, also Beratungsangebote für die Menschen, Unterstützungsleistungen, das werden wir alles noch mal aufstocken."
Die Zahl der Notübernachtungsplätze im Winter ist bereits auf 1.100 erhöht worden. Die meisten Notübernachtungsplätze betreibt die Berliner Stadtmission in der Nähe des Hauptbahnhofes. Ein Kältebus sammelt die Menschen, die im Winter zu erfrieren drohen, ein – sofern sie rechtzeitig gefunden werden. 50.000 Übernachtungen haben Ortrud Wohlwend von der Stadtmission und ihre Helfer im vergangenen Winter ermöglicht. In mehreren Souterrainräumen gibt es 125 vom Bezirksamt bezahlte Plätze, Isomatte an Isomatte:
"Wir haben eben schon über 200 Menschen hier gehabt. Viele schlafen dann auch im Aufenthaltsraum. Und die Alternative in kalten Nächten ist, was macht man, wenn man abweist, wo gehen die Menschen hin? Sie finden ja nichts mehr. Deswegen haben wir bisher immer gesagt, okay, wir kriegen das schon irgendwie hin, aber es wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo man das eben nicht mehr schafft."
Viele Obdachlose aus Ost- und Südosteuropa
Ein weiteres Problem für die Helfer ist die seit der EU-Osterweiterung steigende Zahl der Menschen aus Ost- und Südosteuropa, die in Berlin stranden. 60 Prozent der Gäste in der Stadtmission stammen inzwischen aus Rumänien, Polen, Bulgarien, Litauen oder Weißrussland und fast niemand dieser Menschen hat in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen, auch nicht die neu Zugewanderten aus anderen EU-Staaten.
Im Sommer und Herbst gab es regelrechte Zeltlager von osteuropäischen Obdachlosen im Berliner Tiergarten. Als im September eine Frau keine hundert Meter vom Zeltlager entfernt von einem obdachlosen tschetschenischen Asylbewerber ermordet wurde und zudem Mitarbeiter des Grünflächenamtes immer wieder von Obdachlosen bedroht worden sind, ließ die Bezirksregierung das Lager räumen. Übernachten im öffentlichen Straßenraum ist in Deutschland erlaubt. Campieren in Grünanlagen allerdings verboten. Jahrelang habe man die Zeltlager im Tiergarten geduldet, sagt der grüne Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel, nun sei es zu viel:
"Wir möchten dann, dass diese Menschen zurückkehren in ihre Länder. Aber natürlich muss man sich auch überlegen, was ist, wenn die nicht gehen wollen, wenn die sagen, vielen Dank, aber ich bleibe hier, weil es geht mir hier besser. Ich glaube, dann kann staatliches Handeln noch nicht aufhören und dann muss man auch Menschen gegebenenfalls nötigen, Deutschland zu verlassen."
Lösung auf europäischer Ebene angestrebt
Das ist nicht so einfach. Denn die meisten osteuropäischen Obdachlosen stammen aus EU- Ländern. Da Freizügigkeit herrscht, können sie sich innerhalb der Europäischen Union frei bewegen und dort aufhalten, wo sie wollen. Man kann sie nur zur freiwilligen Rückkehr in ihre Heimatländer überreden. Obwohl die Bezirke die Kosten für die Rückfahrt übernehmen würden, klappt das selten. Gebraucht werde eine Lösung auf europäischer Ebene, sagt Ulrike Kostka von der Caritas und fordert einen Obdachlosen-Gipfel im Kanzleramt:
"Es muss die Frage geklärt werden, was mit Menschen geschieht, wenn die hier landen und wenn sie keinen Zugang zur Arbeit finden. Da ist eine Gesetzeslücke da, und reine Überbrückungsleistungen und eine Rückfahrkarte helfen nicht. Sondern offensichtlich bleiben die Menschen hier länger, und wir müssen Verelendung vermeiden. Und es ist auch wichtig, die Menschen in den Heimatländern darüber aufzuklären, dass sie hier nur bedingte Chancen haben. Dieses Thema wird zunehmen, und deshalb kann man es nicht nur den Ehrenamtlichen überlassen, die sozialen Fragen Europas zu lösen."
In der Tat geht es vielen obdachlosen Osteuropäern im deutschen Hilfesystem mit Suppenküchen, Wärmestuben und Notübernachtungen immer noch besser als zu Hause. Aus Angst davor, dass unser Hilfssystem als Magnet wirken könnte, haben EU-Migranten, die keine Arbeit finden, seit 2016 erst nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland Anspruch auf Sozialhilfe. Vorher konnten sie diesen Anspruch bereits nach sechs Monaten geltend machen.
Allerdings gilt in Deutschland auch das ASOG, das allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz. Das betrachtet Obdachlosigkeit juristisch als "Störung der öffentlichen Ordnung", die beseitigt werden müsse. Und das bedeutet, dass jeder, der nicht freiwillig auf der Straße lebt, untergebracht werden muss. Nicht nur im Winter. Dieses Recht auf Unterbringung gilt für alle Menschen, egal woher sie stammen. Gerade für obdachlose EU-Bürger und andere Ausländer werden entsprechende Plätze aber nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung gestellt, weil es nicht genügend gibt.
Über 30.000 Menschen sind in Berlin in sogenannten ASOG-Unterkünften untergebracht. Viele der obdachlosen EU-Bürger werden dort, wenn überhaupt, nur jeweils für einen kurzen Zeitraum untergebracht, kritisiert der Rechtsanwalt und ehemalige Stadtrechtsdirektor im baden-württembergischen Emmendingen, Karl-Heinz Ruder:
"Denn immer dann, wenn diese Unterbringung beendet werden soll und die betroffene Person dann wieder praktisch auf der Straße lebt, entsteht ja dieselbe Situation wieder. Die Grund- und Menschenrechte sind bedroht. Dann muss ich das Freizügigkeitsrecht ändern, das ist der Knackpunkt."
Aber das wäre erstens schwierig und sei zweitens politisch nicht gewollt, sagt Berlins linke Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Die Stadt profitiere nämlich überwiegend von den Zuwanderern aus der europäischen Union, die in Berlin arbeiten. Eine Millionen EU-Bürger sind 2016 nach Deutschland gekommen, nur ein winziger Teil davon hätte Probleme – und dabei spiele auch Arbeitsausbeutung eine Rolle, erklärt Breitenbach – wofür letztendlich die Politik verantwortlich sei.
Dabei geht Deutschland mit obdachlosen EU-Bürgern weitaus hilfsbereiter um als die europäischen Nachbarn: In Wien gibt es keinen Anspruch auf Unterbringung für Menschen, die nicht in der Stadt arbeiten. In Großbritannien soll das Übernachten auf der Straße künftig als Rechtsbruch geahndet werden, der sofort zur Ausweisung führen kann, egal ob die Person im Land arbeitet oder nicht, berichtet Mauro Striano von Feantsa, dem europäischen Netzwerk der Wohnungslosenhilfen. Er kann sich Ausgleichszahlungen zwischen Herkunfts- und Zielländern für die Betreuung von Obdachlosen vorstellen:
"Also, die Idee ist, wenn ein Mensch mittellos ist und nicht wirtschaftlich aktiv in einem Land ist, dann müsste es einen europäischen Fonds geben, der für diesen Menschen aufkommt. Das könnte eine Art Kostenkompensation sein, weil das Heimatland des Betroffenen etwas dazu beitragen müsste, damit diese Person in einem anderen Land in Würde leben kann. Und wenn jemand dann im Gastland arbeitet und in die Sozialsysteme einzahlt, dann könnte das Gastland dem Herkunftsland wieder etwas zurückzahlen."
Aufklärungsarbeit auch in den Herkunftsländern notwendig
Solange es so etwas nicht gibt, sei zumindest eine Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern wünschenswert, meint Ulrike Kostka von der Caritas. Die Betreuung von polnischen Obdachlosen in Berlin durch polnische Sozialarbeiter ist im Gespräch. Bereits jetzt gibt es in Berlin vereinzelt Kontakte zu Hilfsorganisationen im Ausland, die sich um Rückkehrer kümmern oder Aufklärung betreiben. Jeder Einzelfall müsse betrachtet werden, damit man den EU-Migranten helfen kann, je nachdem, ob sie bleiben oder in ihre Heimatländer zurückkehren wollen, so der Tenor auf der Strategiekonferenz. Eine harte Linie, wie in Hamburg, käme für Berlin nicht infrage, so Kostka:
"Da werden zum Beispiel Menschen aus EU-Ländern, die nicht leistungsberechtigt sind, die bekommen keine Betten in der Kältehilfe, sondern nur einen Sitzplatz, das ist für mich unterste Schublade. Auch EU-Bürger sind Menschen, und da sind wir, glaube ich, eine Hauptstadt des Herzens."
Aber mit begrenzten finanziellen Möglichkeiten. Die oppositionelle CDU wirft dem rot-rot-grünen Senat Planlosigkeit im Umgang mit den osteuropäischen Obdachlosen vor. Wie viele dieser Menschen zum Beispiel aus Nicht-EU-Ländern stammen, sei unbekannt, sagt der integrationspolitische Sprecher der CDU, Burkard Dregger:
"Das muss natürlich das Ziel sein, Obdachlosigkeit zu vermeiden, und zwar unabhängig vom Aufenthaltsstatus, da bin ich auch dafür. Nur ich wende mich gegen einen Senat, der nicht bereit ist, diejenigen, die nicht aufenthaltsberechtigt sind, aus dem Land zu bringen. Die sollen in ihre Heimatländer gehen und von den Heimatländern versorgt werden, das ist nicht unsere Aufgabe. In der Übergangszeit selbstverständlich sind wir aus humanitären Gründen dazu bereit."
Um wohnungslose Menschen erst mal unterbringen zu können, will der Berliner Senat in den kommenden Jahren weitere 30 aus Fertigteilen zusammengesetzte Unterkünfte mit je rund 450 Plätzen errichten. Weil für Flüchtlingsbauten ein erleichtertes Baurecht gilt, müssten sie in den ersten drei Jahren von Flüchtlingen bewohnt werden. Erst danach ist eine Umnutzung für andere Wohnungslose möglich, erklärt Sozialsenatorin Breitenbach. In allen Unterkünften soll es sozialpädagogische Betreuung und Beratung geben.
Familien mit Kindern von Zwangsräumungen ausnehmen
Um Wohnungslosigkeit zu verhindern, will Berlin darüber hinaus künftig wenigstens die Zwangsräumung von Wohnungen verhindern, in denen Kinder leben. Ina Zimmermann vom Diakonischen Werk erzählt von nachahmenswerten Beispielen aus anderen Städten: In Potsdam gibt es eine sogenannte Fachleistungsstelle, die sich bei Mietschulden einschaltet und mit Behörden wie dem Jobcenter zusammenarbeitet. Und in Köln wird die Stadtverwaltung aktiv, wenn Räumungsklagen wegen Mietschulden nicht verhindert werden konnten:
"Bevor die geräumt werden können, beschlagnahmt die Stadt Köln diese Wohnungen beim Eigentümer und macht praktisch eine Wiedereinweisung in den Wohnraum. Und versucht dann innerhalb einer gewissen Zeit mit dem Vermieter zu verhandeln, dass der Vermieter bereit ist, wieder einen neuen Mietvertrag den Menschen anzubieten. Das ist auch ein interessantes Instrument, was Berlin nicht anwendet, aber anwenden könnte."
Benötigt aber werden vor allem bezahlbare Wohnungen. Beim Wohnungsneubau allerdings hinkt die rot-rot-grüne Koalition ihren Zielen für Berlin hinterher. Statt der laut Koalitionsvertrag angestrebten 6.000 neuen Wohnungen jährlich, haben die landeseigenen Gesellschaften 2016 gerade mal etwa 3.000 gebaut.
Laut der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung sinkt die Zahl der Sozialwohnungen in Berlin seit Jahren. Circa 130.000 gibt es noch zur Zeit, deren Zahl soll jetzt wieder steigen. Außerdem sollen die städtischen Wohnungsbaugesellschaften künftig mehr Wohnungen im sogenannten geschützten Marktsegment vermieten müssen – an Menschen also, die zwangsgeräumt wurden, Schulden haben oder nicht in der Lage sind, selbst eine Wohnung zu suchen.
Derweil ziehen die Mieten in Berlin weiter an, und der Zuzug in die Hauptstadt ist ungebrochen. Und die, die es hier nicht schaffen, keine Arbeit und keine Wohnung finden, werden wohl auch künftig auf Parkbänken schlafen, in Zelten, in Grünanlagen oder in Hauseingängen – wie Ulli Obermann.
"Es fehlt an Wohnungen. Punkt. Ob ich da sofort weg wäre in der ersten Welle, das mag ich mal bezweifeln, weil ich mit den Ämtern nicht will. Aber ganz viele andere wären zunächst mal weg. Für mich wäre es dann vielleicht im zweiten Anlauf, in der zweiten Welle einfacher, weiterzukommen."
Bislang hat der Mittfünfzig-Jährige nicht mal einen Pass, auch keine Krankenversicherung, aber immerhin noch einen Traum:
"Ich möchte auf eigenen Beinen, auf eigenen Füßen stehen. Und wenn ich weiß, ich habe einen Job, wo ich den Betrag X im Monat fest hätte, könnte damit in eine WG kommen, auf eigenen Füßen stehen und mich dann quasi legalisieren über den Job, dass ich mich anmelde, Krankenversicherung mache, dies mache und jenes mache, aber alles auf eigenen Füßen und unbedingt Gastronomie, weil es mit Menschen zu tun hat und das macht einfach Spaß. Mir macht das Spaß."
Klingt eigentlich ganz einfach. Ulli Obermann ist intelligent, gebildet, gepflegt, trinkt keinen Alkohol und nimmt keine Drogen. Und trotzdem ist er einer von über 800.000 wohnungslosen Menschen in Deutschland. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass deren Anzahl im Jahr 2018 auf 1,3 Millionen steigen wird.