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Obdachlosigkeit
"Man wird ein anderer Mensch"

Seit über 30 Jahren ist Richard Brox wohnungslos. Ehrenamtlich kümmert er sich um andere Obdachlose, bietet im Internet Tipps für das Leben auf der Straße an. Im Dlf übte er scharfe Kritik am Umgang der Städte und Kommunen mit Obdachlosen. "Sie werden so behandelt, dass sie als Mensch würdelos sind".

Richard Brox im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Ein Obdachloser sitzt im Februar 2014 in Berlin Mitte auf dem Gehweg.
    Ein Obdachloser sitzt auf einem Gehweg in Berlin Mitte. (picture alliance / dpa / Foto: Jens Kalaene)
    Er sei durch eine Lebenskrise in die Obdachlosigkeit geraten, erzählt Brox. Da sein damaliger Wohnort Mannheim Ende der Achtzigerjahre sehr kritisch gegenüber sozial Benachteiligten eingestellt war, habe er sich dann entschieden, 1990 aus Mannheim wegzugehen. Hinzu kam eine Drogenabhängigkeit und schwere gesundheitliche Probleme.
    "Ich bin dann all die Jahre auf der Straße deutschlandweit umhergezogen und dadurch habe ich mir ein Stück Freiheit gegeben", sagte Brox im Deutschland.
    "Es bleibt etwas hängen"
    Es sei aber nicht ratsam, all zu lange auf der Straße zu bleiben, denn "es bleibt doch etwas hängen. Man verändert sich, man wird ein anderer Mensch", sagte er.
    Er übte auch Kritik am Umgang der Städte und Kommunen mit dem Thema Obdachlosigkeit. Vielerorts sei die Einstellung gegenüber Wohnungslosen sehr feindselig. "Man will mit ihnen nichts zu tun haben und wenn sie da sind, dann werden sie so behandelt, dass sie als Mensch würdelos sind." So verliere man als Mensch seine Hoffnung und Zuversicht, sagte er.
    "Mehrbettzimmer sind menschenunwürdig"
    Viele Obdachlose würde durch das ständige Umherziehen aber auch vor den eigenen Probleme wegrennen. "Diese Probleme könnte man aber beheben, wenn die Städten und Kommunen bereit wären, den Wohnungslosen [...] die Möglichkeit geben, sesshaft werden zu können."
    Dafür seien bessere Notunterkünfte nötig, die rund um die Uhr betreut werden. Mehrbettzimmer seien seiner Meinung nach menschenunwürdig. Viele Wohnungslose würde diese aus Angst vor Beleidigungen, Diebstahl oder Gewalt auch gar nicht erst annehmen.
    Auf seinem Blog "Sohn Mannheims" gibt Brox Tipps für andere Obdachlose.

    Das Interview in voller Länge:
    Sarah Zerback: Nicht sesshaft, obdachlos, draußen schlafen, Platte machen - eine Situation, in der immer mehr Menschen in Deutschland sind, in der reichen Bundesrepublik mit den vollen Steuertöpfen. Die Zahl hat sich in den vergangenen drei Jahren mehr als verdoppelt. Das wissen wir seit gestern. Auf 860.000 wird sie geschätzt. So ganz genau weiß das aber keiner.
    Dass es jetzt so viele sind, das liegt auch daran, dass Flüchtlinge in diesem Jahr zum ersten Mal mit in dieser Statistik berücksichtigt werden, in dieser Schätzung. Sie machen die Hälfte aller Wohnungslosen aus. Das hat die Situation sicher verschärft, ist aber keinesfalls alleinige Ursache der neuen Wohnungsnot. Dafür sorgen auch steigende Mieten und weniger Sozialwohnungen.
    Probleme, die Richard Brox nur zu gut kennt. Der 53-Jährige lebt seit rund 30 Jahren als Aussteiger auf der Straße, heute in Rheinland-Pfalz. Mit ihm habe ich vor dieser Sendung sprechen können - darüber, wie das war damals, als er seine Mannheimer Wohnung verloren hat, als sie zwangsgeräumt wurde, und habe ihn zunächst gefragt, warum er damals auf der Straße gelandet ist.
    Richard Brox: Das Problem lag an der Stadt Mannheim, die mir aller Hilfemöglichkeiten trotz meiner Hilferufe nicht gewährt haben. Das hatte zur Folge, dass die Wohnung weg war, dass mein ganzes Hab und Gut weg war, dass ich dann in die Notunterkunft gegangen bin von der Stadt Mannheim und dort auch bestohlen worden bin. Dann kam halt die Zeit, wo Mannheim für mich ad acta gelegen war, weil zu dem Zeitpunkt zwischen 86 und 89 war die Stadt gegenüber sozial Benachteiligten sehr kritisch einzustufen.
    "Es bleibt etwas hängen, man verändert sich"
    Insofern bin ich eigentlich froh, dass ich 1990 von Mannheim ganz weggegangen bin und dann all die Jahre auf der Straße deutschlandweit umhergezogen bin und mir dadurch auch ein Stück Freiheit gegeben habe, die ich so in der Form noch nicht kannte. Man muss ja bedenken, dass ich ja damals auch drogenabhängig war, gesundheitlich schwere Probleme hatte. Ich möchte nicht jedem empfehlen, so lange auf der Straße zu bleiben, weil es bleibt doch etwas hängen und man verändert sich. Man wird ein anderer Mensch. Aber manchmal muss man Wege gehen, neue Wege gehen, um zu erkennen, dass es doch manchmal besser ist, alles zurückzulassen, alles liegen zu lassen, um wieder durchatmen zu können, Freiheit empfinden zu können und den inneren Frieden zu finden mit sich selbst.
    Zerback: Herr Brox, das Wort Freiheit ist jetzt ganz oft gefallen. Ich würde da noch mal nachhaken wollen, um zu verstehen. In dem Fall, in dem Sie waren, da helfen doch eigentlich die Behörden, eine Unterkunft zu finden, zumindest ein Dach über dem Kopf. Die Ämter für Soziales und Wohnen machen das ja zum Beispiel. Haben Sie ein solches Angebot nicht bekommen, oder wollten Sie das nicht annehmen?
    Brox: Nein, es gab kein Angebot. Man hat mich in eine Notübernachtung damals in Mannheim gesteckt, und dann so nach dem Motto, jetzt seh' zu, wie Du zurechtkommst. Das ist ja leider heute auch bundesweit immer noch so in vielen Ortschaften der Fall, dass Obdachlose dort gar nicht gehabt werden wollen. Es existieren Statistiken, die auf Schätzungen beruhen, weil viele Orte und Regionen oder viele Städte überhaupt nicht bereit sind, eine Statistik zu erstellen, und insofern werden sie in vielen Kommunen und Städten, so wie mir es damals in Mannheim ergangen ist, einfach überfahren. Sie werden nicht wahrgenommen. Man will mit ihnen nichts zu tun haben. Am besten, sie gehen wieder schleunigst weg, und wenn sie da sind, werden sie so behandelt, dass sie als Menschen würdelos sind, und da verlieren sie einfach die Hoffnung. Da verlieren sie die Zuversicht.

    Je länger man auf der Straße ist, umso mehr würde ich das dann nicht nur mit mir, sondern auch mit vielen anderen vergleichen, die auf der Straße leben, und das schon seit vielen Jahren. Man nennt sie auch gerne Berber. Da kommt auch die Entwurzelung hinzu. Da kommt auch dieses rechtlos sein. Man ist rechtlos auf der Straße. Und man hat auch seine psychischen Probleme. Je länger sie auf der Straße sind, umso mehr haben sie auch innere tiefliegende Probleme, derer sie versuchen, durch das Umherziehen sich auch freizumachen. Deswegen auch dieser Begriff der Freiheit. Freiheit ist auf der Straße für viele Obdachlose, die umherziehen, Nichtsesshafte, einfach das Wegrennen vor den eigenen Problemen. Diese Probleme könnte man aber beheben, wenn die Kommunen und die Städte bereit wären, den Wohnungslosen vor Ort, aber auch den Obdachlosen vor Ort das Gehör zu schenken, das Vertrauen zu geben, diese zu binden, sesshaft machen zu wollen, und auch ihnen die Möglichkeit geben, sesshaft werden zu können. Das ist aber bei vielen Städten und Kommunen gar nicht so. Deswegen sind diese ganzen Statistiken, die wir haben, nur Schätzungen, weil zu viele Orte und Städte nicht bereit sind zu sagen, wie viele Obdachlose haben sie tatsächlich, wie werden sie dort tatsächlich untergebracht und versorgt. Das fehlt.
    Auf dem undatierten Privatfoto ist der Obdachlose Helmut Richard Brox zu sehen. Fast zwei Drittel seines Lebens hat Brox auf der Straße verbracht. Er bietet Internetseiten für Obdachlose an - das brachte ihm eine Nominierung für den Deutschen Engagementpreis 2012 ein. Foto: Helmut Richard Brox (zu dpa/lhe-KORR: "Leben ohne «Verwöhnaroma» - Obdachloser hilft mit Internetseiten" vom 01.12.2012) | Verwendung weltweit
    Der Obdachlose Richard Brox bringt im Dezember seine Biographie "Kein Dach über dem Leben" heraus (dpa picture-alliance Helmut Richard Brox)
    Zerback: Welche Angebote wären denn da aus Ihrer Sicht richtig für wohnungslose Menschen in Deutschland?
    "Mehrbettzimmer sind menschenunwürdig"
    Brox: Man muss bessere Notunterkünfte zur Verfügung stellen. Mehrbettzimmer ist zum Beispiel menschenunwürdig. Das ist ein Grund, dass sehr viele Wohnungslose auf der Straße direkt landen in der Obdachlosigkeit, also obdachlos sind, weil sie in diese Notunterkünfte nicht hineingehen wollen, weil sie dort belogen, betrogen und bestohlen werden.
    Man muss Notunterkünfte schaffen, die rund um die Uhr betreut werden. Man muss Einrichtungen schaffen, wo man obdachlosen Menschen, die auf der Straße – es sind ja auch sehr viele Jugendliche auf der Straße, sehr viele Osteuropäer auf der Straße -, auch die Möglichkeit gibt, Schutzräume zu finden, die auch wirklich ein Schutzraum sind. Man muss erst einmal hergehen, namentlich wissen, wer bist du, wie heißt du, woher kommst du, was willst du, was kannst du, was möchtest du, wie können wir dir helfen. Jemand der hier in Deutschland obdachlos ist, der ist ja nicht umsonst obdachlos. Obdachlos sind Menschen, die auf der Straße leben. Wohnungslos sind die Menschen, die keinen eigenen Wohnraum haben, aber anderweitig versorgt sind. Es gibt zum Beispiel dieses ganz bekannte moderne Wort Couchsurfing. Es sind sehr viele Obdachlose, die bei Bekannten unterkommen für ein paar Tage und dann weitergehen, weil sie dann die Unterkunft nicht mehr haben. Deswegen ist es wichtig: Wenn Sie den Menschen helfen wollen, dann müssen Sie die Menschen auch fragen, wie kann ich dir helfen, willst du, dass ich dir helfe.
    Zerback: Sie haben jetzt gerade schon das Wort Solidarität fallen lassen. Wie ist denn die Situation auf der Straße? Herrscht da eine Solidarität untereinander, oder ist es auch eine Art Konkurrenzdruck untereinander, ein Verteilungskampf? Wie haben Sie das empfunden?
    Brox: Vor der Hartz-IV-Einführung gab es unter den Obdachlosen das berühmte Zitat, sich nicht gegenseitig belügen, betrügen, bestehlen. Das hat auch funktioniert. Man hat sich gegenseitig geachtet und respektiert. Dann kam Hartz IV, die Leute hatten alle weniger Geld in der Tasche. Das hieß, dann kam der Neid auf. Hast Du fünf Euro mehr, schon läufst Du Gefahr, abgezogen zu werden. Das hat sich durchgerungen. Jetzt ist mittlerweile durch den Zuzug von Flüchtlingen die Lage auf der Straße noch prekärer geworden, noch schwieriger geworden. Insofern würde ich sagen, man muss sowohl den einheimischen Obdachlosen wie auch den zugereisten Obdachlosen beiderseitig Hilfe gewähren und Hilfe geben. Man soll nur versuchen, nicht beide gegenseitig auszuspielen, und diese Gefahr besteht. Es gibt sehr viele Einrichtungen, in denen Obdachlose, Wohnungslose und Flüchtlinge zusammengebracht werden, und das geht nur teilweise gut.
    Zerback: Sie selber, wenn wir beim Stichwort Solidarität sind, zeigen sich ja seit Jahren solidarisch. Sie haben schon vor einiger Zeit unter anderem eine Website ins Leben gerufen, auf der Sie anderen Obdachlosen Tipps geben. Wie sind Sie denn dazu gekommen, selber ohne Wohnung und haben dieses Projekt ins Leben gerufen? Wie kam das?
    "Ich hab mich als Erster überhaupt in die Öffentlichkeit getraut"
    Brox: Ja. Das war jetzt vor 13 Jahren mittlerweile. Ich war damals in einer Kleinstadt gewesen und da gab es keine Unterkunft für Obdachlose. Ich bin dann ins Internet gegangen, habe keine Internetseite gefunden, die mir Hilfemöglichkeiten zeigte, sondern nur Internetseiten mit Fachdeutsch, wo keiner verstand, oder irgendwelche Spendenaufrufe von Einrichtungen, die ich bis heute noch suche. Da bin ich als Wutbürger her und habe meine Internetseite dann online gestellt, indem ich einfach mein eigenes Wissen reingesetzt habe, Insiderwissen von der Straße preisgegeben habe. Und das hat sich im Laufe der Zeit so vervielfacht, dass ich immer mehr an Wissen preisgab und dann der Wegbereiter eigentlich war für diese Selbsthilfeinitiativen, die es im Internet mittlerweile gibt. Ich bin ja auch dreimal nominiert worden zum Deutschen Engagementpreis, dann für den taz Panther Preis und so weiter, und das kommt ja davon, dass ich mit dem, was ich da getan habe, als Wegbereiter fungiert habe, der als erster hergegangen ist und überhaupt sich in die Öffentlichkeit getraut hat, für andere da zu sein, für die, die nichts haben, einfach was zu geben.
    Zerback: Das stand also über allem. An die Öffentlichkeit gehen und Ihre Erfahrungen teilen, das tun Sie auch jetzt noch mal in einem ganz anderen Rahmen. Sie haben nämlich Ihre Biographie zu Buche gebracht. Sie erscheint im nächsten Monat, heißt "Kein Dach über dem Leben". Was steckt da dahinter? War das auch der Gedanke, anderen Mut zu machen, die in einer ähnlichen Situation sind?
    "Du bist als Mensch wertvoll, egal wo Du herkommst"
    Brox: Erst einmal grundsätzlich Mut machen, allen zu sagen, Du bist als Mensch, egal wo Du herkommst, egal wie es mit Dir aussieht, egal wie es mit Dir steht, Du bist als Mensch wertvoll. Du bist nicht umsonst in diesem Leben hier und deswegen brauchen wir Dich. Und was ich rübergeben wollte ist die Kraft zu sagen, steh auf und kämpfe für Dich, tu was für Dich, hilf Dir selbst. Dann kommst Du immer einen Schritt weiter.
    Und dann wollte ich auch noch mit mir selbst aufräumen. Ich wollte mit meinem ganzen Leben mal reinen Tisch machen, und das ist mir auch gelungen, so dass ich mit dem Buch nicht nur mental Hilfe gebe, sondern auch zeige, was man tun kann im Leben, wenn man bereit ist, an sich selbst zu arbeiten, wenn man bereit ist, auch ein Stück weit von sich selbst zu geben, nicht nur immer nur nehmen und nehmen, sondern man muss auch mal was geben. Dieses Geben hat auch einen Grund. Ich will ja die ganzen Tantiemen, die ich für das Buch bekomme, in eine hospizähnliche Betreuungsform hineinlegen, indem ich zum Beispiel bundesweit Obdachlose in Krankenhäusern besuche, die alleinstehend sind, die alleinlebend sind und die sterbenskrank sind, die Erkrankungen im Endstadium haben wie Krebs zum Beispiel, wie HIV, wie zum Beispiel Hepatitis C. Das sind Erkrankungen, die so schwer sind. Wenn daran ein Obdachloser erkrankt ist und niemand mehr hat und allein im Krankenhaus liegt, der stirbt doch vor Einsamkeit. Da will ich hingehen und diese Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten. Das ist der Grund.
    Zerback: Das ist der Grund für das Buchprojekt. Und jetzt noch mal ganz persönlich: Was wäre denn Ihr großer Traum für sich selber? Sie leben ja im Moment in einer Wohnung, aber nur auf Zeit, um das Buch zu schreiben, das Ganze unterstützt von dem Journalisten Günter Wallraff. Aber das endet auch im nächsten Jahr wieder, diese doch temporäre Unterkunft. Ist das Ihr großer Traum, eine eigene Wohnung zu haben?
    Brox: Wissen Sie, was mein großer Traum ist? Eine eigene Wohnung zu haben und das in Verbindung, wo ich für Obdachlose arbeiten kann, zum Beispiel als Straßensozialarbeiter, als Streetworker. Aber mein Gedanke geht genauer in die Richtung hinein, eine eigene Wohnung haben, wo ich meine Ruhe habe, wo meine Nachbarn mich so akzeptieren wie ich bin und wo ich von dort aus dann diesen Weg machen kann, sterbenskranke Obdachlose in den Krankenhäusern zu besuchen und sie zu begleiten, damit man in Frieden gehen kann und in Ruhe sagen kann, da war noch jemand da, der sich um mich gekümmert hat.
    Zerback: Das sagt Richard Brox. Er lebt seit rund 30 Jahren auf der Straße und hilft anderen Obdachlosen auf ihrem Weg. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Brox.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.