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Schutz der Artenvielfalt
Weltnaturschutzunion warnt vor rasantem Verlust der Biodiversität

Der Generaldirektor der Weltnaturschutzunion (IUCN), Bruno Oberle, fordert mehr Engagement beim Schutz der Artenvielfalt. Nahrung, Wasser und Atemluft hingen von Biodiversität ab, sagte er im Dlf. Ihr Verlust sei deshalb ein riesiges Problem.

Bruno Oberle im Gespräch mit Jule Reimer | 27.11.2022
Bruno Oberle, Generaldirektor der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur (IUCN)
Bruno Oberle, Generaldirektor der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) (picture alliance / dpa / MAXPPP / Vallauri Nicolas)
Auf die Wirtschaft habe das Verschwinden von Arten einen massiven Einfluss, sagte Oberle im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Der Ökonom und Umweltökonomie-Berater betonte im Vorfeld der UN-Naturkonferenz in Montreal (7.12.22 bis 20.12.22), die Hälfte des globalen Bruttosozialproduktes sei auf die eine oder andere Weise mit den Dienstleistungen verbunden, die die Natur erbringe. Je ärmer Länder seien, desto relevanter sei daher die Frage des Artenschutzes.

Richtungswechsel bei staatlichen Subventionen gefordert

Oberle forderte einen Richtungswechsel bei den staatlichen Subventionen. Diese seien häufig so angelegt, dass sie die Artenvielfalt schädigten. "Ein Kapitel in den öffentlichen Budgets sind Subventionen, die heute so parametriert sind, dass sie Schaden erzielen und nicht nutzen. Ein wichtiger Teil davon sind Landwirtschaftssubventionen", so Oberle. Die Landwirtschaftstätigkeit müsse sich ändern. Das bedeute aber nicht, dass weniger Subventionen in die Landwirtschaft fließen sollten. "Unter Umständen müssen sogar mehr Subventionen in die Landwirtschaft fließen. Aber sie werden für andere Sachen eingesetzt werden in Zukunft", betonte der IUCN-Generaldirektor.

Rasanter Verlust der Biodiversität

Die IUCN ist eine Nichtregierungsorganisation und ein Dachverband. In ihr koordinieren sich seit 1948 Regierungen, Wissenschaftler und NGOs in Naturschutz- und Biodiversitätsfragen. Mitglieder aus Deutschland sind nach IUCN-Angaben unter anderen das Bundesumweltministerium und der World Wide Fund For Nature (WWF) Deutschland. Der aktuelle IUCN-Generaldirektor Bruno Oberle leitete bis 2015 das Schweizer Bundesamt für Umwelt.
Oberle erläuterte im Dlf, dass die Menschheit aktuell einen Verlust der Biodiversität erlebe, der "hundert- bis tausendmal schneller ist als die natürliche Wandlungsrate der Natur". Das mache sich nicht direkt bemerkbar, weil die Natur wie ein riesiges Netz sei. Oberle warnte jedoch: „Alles, was wir essen, ist Biodiversität. Das Wasser, das wir trinken, ist aufbereitet durch Biodiversität und die Luft, die wir atmen, ist von Biodiversität produziert." Wenn diese Dienstleistungen der Natur auch nur teilweise gestört seien, „dann haben wir ein riesiges Problem“.

Oberle: Eintrag von Dünger und Pestiziden weltweit stark senken

Im Interview der Woche bekräftigte Oberle die Forderung des Weltbiodiversitätsrates IPBES, weltweit den Eintrag von Dünger zu halbieren und den Einsatz von Pestiziden um zwei Drittel zu mindern. Die Wissenschaft bestätige, dass es mit regenerativen Landwirtschaftspraktiken möglich sei, die Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität zu fördern und gleichzeitig acht Milliarden Menschen gut zu ernähren.
Der IUCN-Generaldirektor verteidigte zudem den Ansatz, mit der Wiedervernässung von Mooren die Klimaerwärmung zu bekämpfen. Er äußerte zugleich Verständnis dafür, dass sich Landwirte dadurch bedroht fühlten. Man sei den Großeltern der heutigen Bauern dafür dankbar, dass sie die Moore trockengelegt hätten, um auf den gewonnenen Äckern Nahrungsmittel anzubauen. 60 bis 80 Jahre später erkenne man jedoch, dass dies auch Probleme verursacht habe.
Wenn die Gesellschaft weiter ausreichend Nahrungsmittel wolle, müsse sie die heutigen Bauern dabei unterstützen, ihre Anbaumethoden anzupassen - an die Klimaerwärmung und zum Schutz der Artenvielfalt. "Wir müssen den Bauern rechtlich, wissenschaftlich, regulativ und ökonomisch beistehen in der Veränderung der Praktiken, die notwendig sind", sagte Oberle.
Das Interview im Wortlaut:
Jule Reimer: Sie leiten eine der bedeutendsten Natur- und damit auch Umweltschutzorganisationen der Welt, auch eine der ältesten, aber ich wette, dass anders als im Fall von Greenpeace und dem WWF die IUCN nur Insidern bekannt ist. Wie ist so etwas möglich?
Bruno Oberle: IUCN ist eine Organisation, die aus Organisationen besteht. Es ist eine Dachorganisation. Unsere Mitglieder sind 100 Staaten, 250 staatliche Institutionen wie Ministerien, Universitäten. Wir haben auch mehr als 1.000 Nicht-Regierungsorganisationen, und wir kommunizieren vor allem mit dieser Mitgliedschaft.

Mechanismen hinter dem Artenverlust

Reimer: Fast die Hälfte der 259 in Deutschland heimischen Brutvögel, die stehen auf der Roten Liste gefährdeter Arten, darunter auch mittlerweile Allerweltsvögel wie die Lerche. 33 unserer Brutvögelarten gelten als vom Aussterben bedroht. Gehört das Thema Artenvielfaltsverlust im Deutschlandfunk Ihrer Ansicht nach in die Wissenschaftsendung, in die Wirtschaftssendung oder in ein politisches Interview?
Oberle: Vermutlich in alle drei Sendungen von unterschiedlichen Standpunkten her. Es ist mit Sicherheit interessant, wissenschaftlich herauszufinden, was sind die Kriterien und was sind die Mechanismen, die dazu führen, dass diese Spezies verschwinden. Das Verschwinden von Arten hat einen massiven Einfluss auf unsere Wirtschaft. Die Hälfte vom globalen Bruttosozialprodukt ist in der einen oder anderen Art verbunden mit den Dienstleistungen, die die Natur für uns erbringt. Je ärmer ein Land ist, das ist natürlich nicht der Fall von Deutschland, aber je ärmer ein Land ist, desto stärker ist es abhängig von Dienstleistungen der Natur, und das ist natürlich ein politisches Thema. Und es kann nur gelöst werden, wenn die Gesellschaften und die Wirtschaften politisch einen Weg finden, die notwendigen Schritte zu unternehmen.
Reimer: Der Weltbiodiversitätsrat, also so eine Art analoges Gremium zum Weltklimarat, der schätzt, dass von acht Millionen Tier- und Pflanzenarten zwei Millionen bedroht und davon eine Million vom Aussterben bedroht ist weltweit. Sie haben eben gesagt, das sei für die ärmsten Länder umso relevanter. Ist es das für die reichen Länder wie uns etwa nicht?
Oberle: Das ist für alle relevant, schon nur deswegen: Wenn in einer Ecke der Welt eine Krise ausbricht, die tangiert uns alle via Wertschöpfungsketten, via Migration, und einfach nur ethisch, menschlich, wenn wir andere Probleme sehen. Aber die gleichen Schwierigkeiten haben wir in den reichen Ländern, in Deutschland, wie Sie gesagt haben, in der Schweiz und in den OECD-Ländern im Allgemeinen. Wir erleben einen Biodiversitätsverlust in einer Geschwindigkeit, der 100 bis 1.000 Mal schneller ist als die, sagen wir so, natürliche Wandlungsrate der Natur. Wir merken es nicht, weil die Natur ist wie ein riesiges Netz. Man kann einen Draht zerschneiden, man kann einen zweiten Draht zerschneiden, und das Netz funktioniert weiterhin, und plötzlich, wenn man den x-ten Draht schneidet, dann hört es auf zu funktionieren, und dann haben wir Probleme. Behalten wir in Erinnerung, alles, was wir essen, ist Biodiversität. Das Wasser, das wir trinken, ist aufbereitet durch Biodiversität, und die Luft, die wir atmen, ist von Biodiversität produziert. Wenn diese Dienstleistungen aufhören, auch nur teilweise, dann haben wir ein riesiges Problem.

"Wir belasten unsere Natur flächendeckend"

Reimer: Der Deutschlandfunk ist mit Ihnen verabredet, weil auf die gerade in Ägypten beendete Weltklimakonferenz im Dezember die Weltnaturkonferenz im kanadischen Montreal folgt. Die Hoffnung ist, dass mindestens 30 Prozent aller Landflächen sowie 30 Prozent der Meeresflächen unter Schutz gestellt werden. 30 Prozent der Weltmeere, das kann man sich ganz gut vorstellen, aber an Land, zum Beispiel in einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland, das klingt, als ob es ziemlich eng werden würde.
Oberle: Das kann sein, das führt uns vor Augen, wie flächendeckend wir unsere Natur bereits nutzen und belasten. Man muss sich diese 30 Prozent nicht als komplett eingezäunt, nicht zugänglich, nicht produktiv vorstellen. Zu diesen 30 Prozent werden Naturreservate zählen, sie sind natürlich, wo Natur Vorrang hat. Aber es wird auch notwendig sein, produktive Flächen dazu zu zählen, volkswirtschaftlich, landwirtschaftlich. Und die Praktiken, die wir dann in dieser Volkswirtschaft und in dieser Landwirtschaft benutzen, müssen dergestalt sein, dass Natur weiterhin geschützt und gefördert wird. Dann ist es möglich, dann kann man verschiedene Nutzungen übereinander haben auf der gleichen Stelle.
Reimer:  Der Verlust von Ökosystemen, von Arten, der hat eine Reihe von zentralen Ursachen, also zum Beispiel die Versiegelung durch Städte, durch Straßen, Fabriken, der Raubbau, Überfischung, die Klimaerwärmung, die Plastikvermüllung, invasive Arten. Allerdings wird als einer der wesentlichen Treiber die konventionelle moderne Landwirtschaft genannt. Der Weltbiodiversitätsrat sagt, es sei nötig, den Eintrag von Nährstoffen um 50 Prozent zu reduzieren, also das heißt übersetzt, die Einträge synthetischen Düngers und der Gülle aus der Tierhaltung zu halbieren und den Einsatz von gefährlichen Pestiziden um zwei Drittel zu vermindern. Das klingt unglaublich hoch gegriffen, denn es geht um eine Landwirtschaft, die uns ernährt.
Oberle: Es ist in der Tat ein Drama. Es ist eine Tragödie. Stellen wir uns vor, wir zerstören die Plattform, auf der wir leben müssen, durch die Tatsache, dass wir essen wollen. Wir können auf das Essen nicht verzichten, also wir können den Bauern keinen Vorwurf machen. Es ist eine Notwendigkeit, Nahrungsmittel zu produzieren. Wir müssen lernen, die Nahrungsmittel so zu produzieren, dass der Druck auf die Natur aufhört. Die Wissenschaft sagt uns, es ist möglich. Wir können genug Essen produzieren in guter Qualität, in ausgezeichneter Qualität und gleichzeitig auch die Natur unterstützen und schützen. Man muss es lernen, und man muss sich umstellen. Jede Umstellung verursacht Widerstände. Jede Umstellung braucht auch eine Unterstützung durch die Gesellschaft, und das ist das, was die Gesellschaft den Bauern zukommen lassen muss.

Regenerativere landwirtschaftliche Praktiken sind möglich

Reimer: Ok, aber wir sind jetzt acht Milliarden Menschen. Wie stellen Sie sich das praktisch vor?
Oberle: Die Wissenschaft sagt uns, es ist möglich, landwirtschaftliche Praktiken einzuführen, die regenerativ sind. Das sind Praktiken, die mit wenigen Kunstmitteln, Düngemitteln, Pestiziden auskommen, die mehr auf natürliche Pflegephänomene zählen, die den Totalgehalt an organischer Materie im Boden zunehmen lassen über die Zeit, dadurch die Produktivität erhalten, hoch halten und gleichzeitig die Biodiversität gedeihen lassen. Es benötigt mehr gezieltes Eingreifen. Es benötigt mehr Arbeit. Wir wissen, dass diese Arbeit teuer ist. Deswegen kann diese Arbeit auch mechanisiert werden - auf eine andere Art. Es wird nicht mehr ein großer Traktor mit einem Schlepper hinten dran quasi die Arbeit verrichten und ein einziger Mensch steuert diesen Traktor. Da wird ein Mensch ein System von kleineren Maschinen steuern, die dann die Arbeit auf dem Grund verrichten.
Und auf der anderen Seite: Es ist nicht überall auf der Welt die gleiche Dichte an Nutzung, die wir in Europa haben und die es in Deutschland gibt. Es gibt Länder, auch schon hier in der Nähe, Polen, Frankreich, wo die Intensität der Landwirtschaft schon heute viel tiefer [niedriger] ist als in Deutschland und in weiteren Ländern wie Brasilien, den USA. Dort gab es nochmals Reserven an produktivem Land. Es ist möglich, aber man muss sich anstrengen.
Reimer: Sie hören das Interview der Woche mit Bruno Oberle, dem Generaldirektor der Weltnaturschutzunion IUCN. Die Ergebnisse der UN-Klimakonferenz in Ägypten, die haben ein gemischtes Echo gefunden. Sie, Herr Oberle, haben im Namen der Weltnaturschutzunion jedoch ein Ergebnis gelobt: Im Kampf gegen die Klimaerwärmung wurden nämlich naturbasierte Lösungen im Abschlussdokument als besonders wirksam hervorgehoben. Praktisch heißt das unter anderem in Deutschland Wiedervernässung von Mooren. Das empfinden viele Landwirte als eine Enteignungsdrohung, und die stellt ja außerdem noch die Leistung ihrer Eltern und Großeltern infrage. Die wollten mit dem Trockenlegen der Moore Land schaffen wollten, um Nahrungsmittel zu erzeugen, um Menschen zu ernähren. Wie wollen Sie so was dann gesellschaftlich vermitteln?
Oberle: Jede Generation hat ihre Herausforderung Wir sind den Großeltern der heutigen Bauern dankbar dafür, was sie damals getan haben. Damals sah man diese Lösung. Heute, 60, 80 Jahren später, sieht man, dass diese Lösung auch Probleme verursacht, und deswegen fragt man die Enkelkinder, jene Bauern, quasi neu zu überdenken und eine andere Art zu versuchen, damit umzugehen. Ich wiederhole es, wir dürfen die Bauern nicht als die Verursacher des Problems abstempeln. Wir alle wollen das Essen. Also: Wir bestellen dieses Essen, und sie produzieren es mit den Technologien und mit dem Wissen, das sie haben. Wenn wir weiterhin essen wollen und gleichzeitig aber diese neuen Herausforderungen angehen wollen, die der Biodiversitätsverlust verursacht, müssen wir ihnen wissenschaftlich, regulativ, ökonomisch beistehen in der Veränderung der Praktiken, die notwendig sind. Sie sind nicht die Schuldigen. Im Gegenteil, sie sind starke Alliierte für eine bessere Zukunft.

Problem der genetisch modifizierten Organismen

Reimer: Die deutschen Pflanzenzüchter als auch die Agrarchemie- und Saatgutkonzerne wie Bayer, die drängen auf die Vereinfachung der Zulassung von neuen gentechnischen Verfahren. Da ist das Stichwort CRISP-CAS, umgangssprachlich auch Genschere genannt, und ihr Argument ist, es handele sich um einfachere Verfahren, die den natürlichen Mutationen gleichen. Wir reden dennoch über Eingriffe in die Natur, und in Montreal wird darüber verhandelt werden, ob und wie man diese gentechnisch veränderten Pflanzen über Landesgrenzen bringen darf. Wie sollte damit umgegangen werden?
Oberle: Zu dem Umgang mit genetisch modifizierten Organismen kann meine Antwort nur sein, es geht hier um Vorsorge, um die Bedeutung des Vorsorgeprinzips, wie viel Informationen wir benötigen, um die Inverkehrbringung von genetisch modifizierten Organismen zuzulassen. Das ist dann wiederum eine Frage, die hochpolitisch ist. Ich persönlich stamme aus einem Land, das ein Moratorium für diese Produkte vor einigen Jahren beschlossen hat. In anderen Ländern ist man da, sagen wir, offener gegenüber. Man nimmt natürlich ein Risiko auf sich. Das Vorsorgeprinzip betrifft in erster Linie die Art und Weise, wie der Mensch die Natur benutzt. Die Natur wird mit neuen Organismen mit großer Wahrscheinlichkeit fertig. Sie wird seit Jahrtausenden, Jahrhunderten, Jahrmillionen mit der Entwicklung neuer Organismen fertig. Ob die menschliche Strukturen damit fertig werden, ist eine andere Frage.
Reimer: Brasiliens Trauma ist der Verlust des Kautschukmonopols, weil ein kluger Engländer irgendwann Kautschuksamen aus Brasilien herausschmuggelte und dies dann in Südostasien anbauen ließ, einer der ersten berühmten Fälle also von Biopiraterie. Die UN-Konvention zum Schutz der Artenvielfalt beinhaltet drei Abkürzungen. ABS, A steht für Englisch „Access“ wie Zugang. Die genetischen Ressourcen gehören den jeweiligen Herkunftsländern, aber alle auf der Welt sollten Zugang dazu haben. Dann die Buchstaben BS, „Benefit Sharing“, Profite müssen geteilt werden, es muss einen gerechten Vorteilsausgleich geben. Heutzutage muss man aber gar keine Samen mehr aus einem Land rausschmuggeln, sondern die genetische Sequenz, die wird digitalisiert, die kann dann eingestellt werden in die Datenbanken der Welt, von jedem genutzt werden, falls sie öffentlich zugänglich bleibt. Wie will man unter solchen Bedingungen dann noch diesen Vorteilsausgleich garantieren oder umsetzen?
Oberle: Also, ich gebe jetzt zwei Antworten. Die erste ist mehr allgemein, dann gehe ich in die Details rein. Also, derjenige brasilianische Kautschukproduzent, der schockiert war dadurch, dass jetzt Kautschuk auf Java angepflanzt wurde, war vermutlich auch nicht ein Urbrasilianer, war auch importiert worden von Europa. Genauso wie die Kautschukpflanze von Brasilien nach Indonesien war dieser Mensch von Europa nach Südamerika gewandert. Das zeigt uns, dass es auf die Länge [Dauer] schwierig ist, dichte [abgeschottete] Räume aufrechtzuerhalten. Wir müssen uns mit der zunehmenden Globalisierung auch der Spezies und der genetischen Codes, die dahinter stehen, auseinandersetzen und akzeptieren, dass das passiert. Das ist die Grundlage der Diskussion in Montreal. Wir haben eine Abmachung, die bereits diese Frage regelt, aus der Perspektive von zehn Jahren.

Genetische Informationen der Biodiversität globalisieren

Reimer: Also das Nagoya-Protokoll.
Oberle: Ja, ich hatte damals das Privileg, unter den Mitverhandlern zu sein, und das Resultat ist eben ABS. Also: Wir lassen euch rein in unser Land. Ihr könnt die Spezies bekommen, ihr könnt sie benutzen, aber wir wollen die vertragliche Garantie, dass das, was ihr daraus macht, der Profit, der daraus entsteht, mit uns geteilt wird. Jetzt, wie Sie sagen: Es ist nicht einmal mehr nötig, ins Land zu gehen. Man kann es von Datenbanken extrapolieren. Man kann sogar Hypothesen von genetischen Informationen aufstellen, und auf dieser Basis dann Produkte erarbeiten. Dadurch wird das Teilen des erzeugten Benefits schwierig. Es gibt eigentlich in meinen Augen nur eine Entwicklungslinie, die verspricht, Lösungen zu finden: Das ist, das Ganze zu globalisieren.
Bis jetzt ist die Beziehung zwischen demjenigen Land, das die Ressourcen nimmt und benutzt, und dem Land, das den Anteil des Profits bekommt, eine bilaterale Beziehung. Wir müssen das in ein multilaterales System verwandeln, so dass dann im Allgemeinen, was wir aus genetischer Information der Biodiversität daraus machen, auf eine Art der ganzen Menschheit zu Gute kommt. Das ist die Herausforderung, dorthin zu kommen. Es wird nicht einfach sein, weil es Länder gibt, für die es einfacher ist, diesen Code zu erzeugen und zu erschließen. Für andere Länder ist es schwieriger. Es gibt Länder, die einen größeren Teil an diesen Informationen haben, aber wir werden dorthin kommen, weil alle haben ein Interesse, dass der Zugang zu dieser Information - sagen wir so - nicht belastet wird durch rechtliche und politische Auseinandersetzungen.
Reimer: Brasilien hat unter der Regierung Bolsonaro schon angekündigt, es würde allen anderen Vereinbarungen nicht zustimmen, wenn die Kontrolle dieser digital sequenzierten Geninformationen und der damit verbundene Vorteilsausgleich auch nicht wirklich vertraglich geregelt werde. Hängt also der ganze Erfolg der Konferenz von der Einigung in diesem Bereich ab?
Oberle: Ob jetzt in Montreal eine solche Einigung erzielt wird, wage ich zu bezweifeln, aber ich denke schon, wenn, dann muss es rechtlich festgehalten werden, auf globaler Ebene in einem verhandelten internationalen Rechtstext, so wie wir alle anderen Fragen der globalen Wirtschaft rechtlich verhandeln. Diesen Satz vom ehemaligen brasilianischen Präsidenten, ich denke nicht, dass er falsch ist, und ich denke nicht, dass der neue brasilianische Präsident einen anderen Satz sagen würde.

"Rechtssicherheit im Bereich Geninformationen sehr hohes Gut"

Reimer: Werden sich die multinationalen Konzerne, also aus Europa, den USA, aus China, werden die sich darauf einlassen, wir machen einen Vorteilsausgleich, so dass alle etwas davon haben?
Oberle: Das Nagoya-Protokoll wurde erfolgreich verhandelt, und es wurde auch erfolgreich in vielen Ländern in nationale Rechtssetzung umgewandelt. Ich hatte damals die Aufgabe, das in der Schweiz zu machen, und das wurde natürlich in Diskussionen mit der Wirtschaft entsprechend umgesetzt. Also, ich denke, Rechtsicherheit ist ein sehr hohes Gut, und dafür lohnt es sich auch, Kompromisse zu machen, nicht jeden Kompromiss, aber faire Kompromisse, ja.
Fluken heben sich im Abendrot aus dem Wasser vor nordischer Küstenlandschaft
Die Weltgemeinschaft hat sich 2010 das Ziel gegeben, den Verlust an Ökosystemen und Arten zu stoppen, die sogenannten Aichi-Ziele. Im Dezember in Montreal geht es erneut um diese Themen. (picture alliance / blickwinkel/McPHOTO/A. Volz | McPHOTO/A. Volz)
Reimer: Sie hören das Interview der Woche mit Bruno Oberle, dem Generaldirektor der Weltnaturschutzunion. Schauen wir bitte noch einmal die anstehende Weltnaturkonferenz in Montreal. Die Weltgemeinschaft hat sich vor einem Jahrzehnt schon mal das Ziel und dann auch jede Menge Unterziele gegeben, den Verlust an Ökosystemen und Arten zu stoppen, die sogenannten Aichi-Ziele. Das ist gescheitert. Was muss auf der anstehenden Konferenz herauskommen, damit wir in zehn Jahren nicht wieder am gleichen Punkt stehen?
Oberle: Es ist teilweise gescheitert erst einmal. Seit Nagoya haben wir ein Ziel für die Schaffung von geschützten Flächen. Seither haben wir, wenn ich mich richtig entsinne, die Zahl, circa 15 Millionen Quadratkilometer Land und See unter Schutz gestellt, also beinahe die Fläche von Russland. Sie [die Aichi-Ziele] sind nicht vollständig wirkungslos geblieben, aber nicht natürlich so umgesetzt worden, wie wir es damals gedacht hätten und gehofft hätten. Eine Sache, die mit Sicherheit besser gemacht werden muss, ist: Die Ziele müssen mit viel klareren Indikatoren versehen werden. Es muss eine Berichterstattung aufgebaut werden, die viel engmaschiger, viel präziser ist. Die Umsetzung der Zielsetzungen durch die verschiedenen Länder muss aufgebaut werden. Wir als IUCN machen Vorschläge in einigen dieser Flächen und stellen die entsprechenden Indikatoren zur Verfügung.

Landwirtschaftssubventionen müssen anders eingesetzt werden

Reimer: Wie wichtig sind die Themen Geld und Finanzierung für einen Erfolg der Konferenz? Das war ja auf der UN-Klimakonferenz zentral, inwieweit ärmere Länder sich Klima- und Naturschutz überhaupt leisten können.
Oberle: Es ist ganz wichtig für die Verhandlungen. Das Thema Finanzen ist ein kompliziertes Thema und wird oft, sagen wir so, reduziert auf internationale Transfers von öffentlichen Mitteln. Man muss ganz klar sehen, es geht nicht primär um das. Wir wissen, um eine nachhaltige Nutzung der Biodiversität zu erzielen, braucht es große Investitionen. Also, die Schätzung ist 500 Milliarden Dollar pro Jahr, aber das meiste dieses Geldes durch Umbau, durch Veränderungen der heutigen Investitionen. Das ist das gleiche Geld, das heute so investiert wird, das wird morgen ein bisschen anders investiert und schützt die Natur gleichzeitig mit den Resultaten, die ohnehin beabsichtigt werden.
Reimer: Welche Bedeutung hat der Abbau schädlicher Subventionen?
Oberle: Das ist ein Beispiel. Man kann das so vereinfachen und sagen, auf der einen Seite gibt es das öffentliche Budget, auf der anderen Seite private Investitionen. Die privaten Investitionen sind mehr als zwei Drittel, eher vier Fünftel vom Gesamtinvestitionsvolumen global. Also, das muss verändert werden, und dann muss auch das öffentliche Budget angeschaut und verändert werden. Ein Kapitel in den öffentlichen Budgets sind Subventionen, die heute so parametriert sind, dass sie Schaden erzielen und nicht nutzen. Ein wichtiger Teil davon sind Landwirtschaftssubventionen. Die Landwirtschaftstätigkeit muss sich ändern. Das bedeutet nicht, dass weniger Subventionen in die Landwirtschaft fließen. Unter Umständen müssen sogar mehr Subventionen in die Landwirtschaft fließen, aber sie werden für andere Sachen eingesetzt werden in Zukunft.
Und dann kommt das spezielle Unterkapitel, wie viel Geld muss quasi Ländern gegeben werden, die zum einen sehr viel Biodiversität beherbergen und schützen müssen und auf der anderen Seite selber weniger Mittel zur Verfügung haben. Das hat eine gewisse Logik, wenn wir sagen, die Biodiversität ist ein gemeinsames Erbe, und ich auf irgendjemanden zähle, dass er einen wahnsinnig großen Anteil von diesem Erbe hüten muss, dann ist es auch logisch, dass ich ihm helfe, das zu tun, insbesondere, wenn er nicht über die Mittel verfügt. Aber das ist ein kleiner Anteil von der gesamten Finanzdiskussion. Über diesen Betrag wird man auch diskutieren müssen, aber es ist wichtig, dass man nicht nur auf diesem Thema herumreitet.

Biodiversitätsthema hinkt Klimadebatte zehn Jahre hinterher

Reimer: Die Weltnaturkonferenz findet im Rahmen der UN-Konvention zum Schutz der Biodiversität im Dezember statt. Diese Konvention wurde auch, wie die UN Klimarahmenkonvention, bei der großen Weltumweltkonferenz 1992 in Rio verabschiedet. Das heißt, es gibt sie schon 30 Jahre lang. Montreal ist der Austragungsort jetzt, weil dort das Sekretariat dieser UN-Konvention sitzt. China ist aber Gastgeber. Bei den Klimakonferenzen, da tauchen regelmäßig auch Staatschefinnen und Staatschefs auf, und für Montreal im Dezember hat sich bisher kein einziger Staats- und Regierungschef angesagt. Bedauern Sie das?
Oberle: Die Tatsache, dass Präsidenten und Premierminister einen Ort besuchen, zeigt zum einen, wie hoch das Thema auf der politischen Agenda steht. Zum anderen macht es Druck innerhalb der jeweiligen Regierungen, die Position des Präsidenten, des Premierministers festzulegen und nachher umzusetzen. Also, von dem her ist zu bedauern, dass das Top Level nicht anwesend sein wird. Auf der anderen Seite muss man auch sehen: Das Biodiversitätsthema ist so ein bisschen die jüngere Tochter der Familie oder der jüngere Sohn der Familie. Wir sind so zehn Jahre hinter der Klimadebatte, aber wir sehen die genau gleiche Entwicklung. Ich gehe jede Wette ein, dass in fünf Jahren sehr viele Staatschefs bei dieser Konferenz auftreten werden.
Und es muss mit großem Bedauern festgestellt werden, dass die Vorbereitungsarbeiten nicht gut waren. Wir haben einen Text, der ist weit von einem Konsens. Wir haben einen Text, der zu komplex ist, zu viele Details aufweist und noch zu viel Ideologie beinhaltet. Und unter solchen Bedingungen wird sich ein Regierungschef logischerweise fragen: Wieso gehe ich hin, wenn nicht einmal die Techniker schon wissen, was sie wollen. Also, ein Teil des Vorwurfes muss an die jeweiligen Fachministerien gerichtet werden, dass sie nicht fähig waren, eine Plattform vorzubereiten und die Staatschefs gehen gerne hin.
Reimer: Deutsch ist nicht Ihre Muttersprache: Bruno Oberle, vielen Dank für das Gespräch und dass wir es auf Deutsch führen durften.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben im Vorspann des Textes eine missverständliche Formulierung korrigiert.