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Obskures politisches Lügengerüst

Manfred "Ibrahim" Böhme galt 1989 in der DDR als neuer sozialdemokratischer Hoffnungsträger. Der etwas verwirrt wirkende Mann schien als sicherer Sieger der ersten freien Wahlen festzustehen. Die SPD unterlag und Böhme wurde als Stasispitzel entlarvt. Die Berliner Journalistin Christiane Baumann hat sich intensiv mit der obskuren Vita Böhmes befasst.

Von Elke Kimmel |
    Recherchiert man heute im Online-Lexikon Wikipedia, so ist dort zu lesen, dass Ibrahim Böhme als jüdisches Waisenkind bei Adoptiveltern aufwuchs und zunächst Maurer lernte, bevor er Literatur und Philosophie, Geschichte und Theaterwissenschaften studierte. Er habe mehrmals Berufsverbot erhalten und über ein Jahr in Stasi-Haft gesessen. Viele dieser Angaben sind frei erfunden, wie Christiane Baumann in ihrer im Auftrag der Robert-Havemann-Gesellschaft erstellten Studie nachweist. Sie hat in verschiedenen Archiven und bei der Birthler-Behörde recherchiert, aber auch mit vielen Menschen gesprochen, die Böhme im Laufe seines Lebens kannten oder doch zu kennen glaubten. Dennoch sei es mitunter sehr schwer gewesen, zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden, denn:

    "Er lebte die Legenden, die er hatte - das war verwoben, das war nicht mehr trennbar. Und meiner Ansicht nach spätestens seit dieser ominösen Haft, die von ihm selbst inszeniert worden war, da war nicht mehr trennbar, was ist reales Leben und was ist nur Legende, das war verwachsen miteinander wie ein Maßanzug. Und deshalb war das so wahnsinnig schwer zu durchschauen, denke ich, für die Leute, die ihn dann in den 80er-Jahren in Ost-Berlin kennen gelernt haben."

    Baumann zeigt, wie Böhme sich mithilfe seiner Legende in die oppositionelle Szene einschleicht. Schon über seine Geburt und das Elternhaus verbreitet Böhme, der sich in den 80er-Jahren wegen seiner angeblich jüdischen Herkunft den Vornamen Ibrahim zulegt, Lügen. Weder Vater noch Mutter waren jüdisch. Wahr ist hingegen, dass Böhme zeitweise im Waisenhaus lebte, wohin ihn der Vater abgeschoben hatte. Das Verhältnis zu diesem Vater, der ebenfalls inoffiziell für die Staatssicherheit arbeitete, ist schlecht - in Böhmes Erzählungen taucht er stets als Adoptivvater auf. Böhme arbeitet als Maurer und Erzieher in Leuna, als Bibliothekar, Jugendklubleiter, Briefträger und Kreissekretär des Kulturbundes in Greiz. Im Zusammenhang mit einer Parteistrafe wird Böhme 1968 von der Stasi angeworben, die ihn 1978 nach Neustrelitz versetzt. Dort arbeitet er zunächst in der PR-Abteilung des Theaters, ab 1982 als Kellner, Sprachlehrer und Sägewerker. Studiert hat Böhme nie, auch wenn er später zuweilen von seiner Promotion spricht. Baumann zeigt, wie gut Böhme es versteht, aus Halbwahrheiten glaubwürdige Geschichten zu entwickeln. Im Februar 1990 erklärt er vor dem SPD-Parteitag in Berlin:

    "Es stimmt, ich bin mit 17 einhalb Jahren in die SED eingetreten. Ich habe nicht die Absicht, mich dafür zu entschuldigen. Es war damals mein Weltverständnis. Ich betone, dass ich in der SED nicht nur Schuften und Karrieristen begegnet bin, wie das heute Einige meinen. Bei aller meiner Loslösung im Jahr 1976 von der SED möchte ich sagen, es gibt auch in dieser Partei einige Leute, vor denen ich tief den Hut ziehe und denen ich einiges zu verdanken habe."

    Tatsächlich wird Böhme 1978 gegen seinen Willen aus der SED ausgeschlossen. Es waren Zweifel am Wahrheitsgehalt von Böhmes IM-Berichten über den Dichter Reiner Kunze aufgetaucht und Böhme hatte versucht, sich mit einer Art Selbstanzeige aus der Affäre zu ziehen. Das Protokoll seiner Vernehmungen in Stasi-Untersuchungshaft vom 29. April 1978 belegt, wie viel Bedeutung Böhme seiner IM-Tätigkeit beimisst:

    "Vielleicht kann ich nach Verbüßung meiner Strafe etwas in operativer Arbeit wiedergutmachen. Beendet man meine Arbeit mit dem MfS aber, so beraubt man mich, wenn vielleicht auch zu Recht, meines wichtigsten Lebensinhaltes."

    Tatsächlich sieht das MfS von einem Prozess ab und erhält weiterhin außergewöhnlich detailfreudige Berichte von IM "Roloff" beziehungsweise "Maximilian". Böhme benutzt die Haftzeit später, um seine Glaubwürdigkeit gegenüber Oppositionellen zu erhöhen. Stasi-Vorwürfe weist er stets von sich - wie hier im ORB-Fernsehen am 24. November 1994:

    "Also, ich kann nur sagen, dass ich weder mit dem MfS jemals zusammengearbeitet habe, dass ich weder einen Decknamen gehabt hätte, haben sollte und dass ich weder irgendeine Zuwendung vom MfS bekommen habe."

    Zu diesem Zeitpunkt besteht bereits kein Zweifel mehr an der IM-Tätigkeit Böhmes. Er aber attackiert die von ihm Bespitzelten und stellt sich selbst als deren Opfer dar:

    "Ich ... kenne viele meiner Freunde von damals nicht mehr, weil ich zumindest den Anstand erwartet hätte, wenn sie in ihren Akten Dinge lesen, von denen sie vermuten, das sie von mir der Staatssicherheit mitgeteilt worden wären, dass sie erst mit mir sprechen und versuchen, die Sache zu klären ..."

    Christiane Baumann ist in ihren Recherchen auch auf eine Reihe von auf den ersten Blick sinnlosen Hochstapeleien gestoßen:

    "In mehreren Testamenten vermachte Böhme nun Besitztümer, Sparkonten und wissenschaftliche Werke, die er nie besaß oder geschaffen hatte, an jene, die ihn unterstützt hatten. Die Testamente lesen sich wie Schuldscheine, die er unterschrieb und jeweils nach Lage verändern musste."

    Die Autorin schildert diese letzten Lügen Böhmes ebenso zurückhaltend und nüchtern, wie sie auch dessen Arbeit für die Stasi beschreibt. Zudem vermeidet sie es konsequent, über die Motive und die psychologische Disposition Böhmes zu spekulieren und hält sich an Belegbares. Tatsächlich sei er als Stasispitzel eine Ausnahmeerscheinung gewesen:

    "Böhme ist da nicht der normale IM, denke ich, und er hat eine andere Ausstrahlung gehabt, nehm ich mal an. Ja, auch einen ganz anderen Erfolg. Wenn man bedenkt, dass er die Chance hatte, der letzte Ministerpräsident der DDR zu werden, dann sagt das ja auch was über seine Wirkung nach außen. Und diese Wirkung auf Menschen, das glaube ich, war schon eine spezielle Gabe, die er gehabt haben muss."

    Christiane Baumanns sachliche Studie gibt nicht vor, alle Rätsel um die obskure Existenz Manfred Ibrahim Böhmes aufzulösen. Aber sie liefert erstmals ein zuverlässiges Gerüst, um dessen Nachlass einordnen zu können und einige Legenden endgültig zu entlarven. Spannend zu lesen ist ihr Buch überdies.

    Christiane Baumann: Manfred "Ibrahim" Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf.
    Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft, 193 Seiten, 10,00 Euro
    ISBN: 978-3-93885708-3