Er habe eine Mitteilung an die Nation, sagte Bülent Ecevit, damals, vor 20 Jahren, Ministerpräsident der Türkei, mit zitternder Stimme:
"Seit heute Morgen um drei Uhr befindet sich der Chef der separatistischen Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan, in der Türkei. Der Staat hat Wort gehalten und ihn zur Strecke gebracht. Abdullah Öcalan wird sich nun vor der türkischen Justiz verantworten müssen. Und jeder muss jetzt einsehen, dass der separatistische Terror in der Türkei keine Chance hat."
Am 16. Februar 1999 sprach Ecevit; Öcalan war am Vortag in Kenia von türkischen Agenten gefasst und über Nacht in die Türkei gebracht worden. Er wolle dem türkischen Staat zu Diensten sein und sich für Frieden einsetzen, stöhnte der Gefangene, als ihm Augenbinde und Knebel abgenommen wurden. 15 Jahre nach Beginn ihres bewaffneten Aufstands gegen die Türkei war die PKK besiegt; das glaubte damals nicht nur Ecevit.
Doch 20 Jahre später tobt der so genannte Kurdenkrieg noch immer, und nicht nur das: Der Konflikt ist auf die Nachbarländer Irak und Syrien übergesprungen und zum Flächenbrand in der Region geworden, der auch Iran erfasst und sogar die Großmächte - Russland und die USA - angesogen hat.
Vom innerstaatlichen Konflikt zum internationalen Problem
Von einem innerstaatlichen Konflikt in der Türkei ist die Kurdenfrage zum internationalen Problem geworden, seit Ankara sie vor 20 Jahren erledigt glaubte. Das lag nicht nur an der Türkei, sagt der griechische Sicherheitsexperte Spyridon Plakoudas, der mehrere Werke über den PKK-Konflikt verfasst hat und derzeit an der Amerikanischen Universität in Dubai lehrt:
"Es waren vor allem Entwicklungen außerhalb der Kontrolle der Türkei, die zu dieser Regionalisierung der Kurdenfrage geführt haben, etwa der amerikanische Einmarsch in Irak von 2003 und vor allem der Arabische Frühling und der darauffolgende Kurdische Sommer. Die PKK konnte davon profitieren und ihre Aktivitäten auf Syrien und Irak und teilweise auch auf Iran ausdehnen und ihren Einfluss ausweiten. Heute besitzt die PKK durch ihren syrischen Ableger eine starke Machtbasis in Nordost-Syrien, und sie hat sich in Nordirak festgesetzt. Der PKK-Konflikt ist deshalb nicht mehr innerhalb der Türkei zu lösen und kann auch nicht mehr rein militärisch gelöst werden."
Im Schutz der Flugverbotszone in Nordirak, die die USA nach 2003 einrichteten, um die irakischen Kurden vor Saddam Hussein zu schützen, konnte sich auch die PKK neu sammeln. Bis heute haben die Rebellen ihr Hauptquartier in der Autonomen Region Kurdistan, die daraus entstand - im Kandil-Gebirge, nicht weit von der türkischen Grenze, aber auf irakischem Gebiet. Die Entstehung eines Schutzraums in der Autonomen Region Kurdistan gab der Kurdenfrage eine neue Dimension, sagt der Politologe Mesut Yegen, der selbst Kurde ist und als Professor an der Sehir-Universität in Istanbul lehrt:
"Eine weitere Dimension entstand durch die Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidatin zur EU, von der man sich damals auch Fortschritte in der Kurdenfrage erhoffte. Die Türkei setzte tatsächlich einige der von der EU geforderten Reformen um, aber ihre Reformen gingen nicht weit genug, sie erfüllten die wichtigsten Forderungen der Kurden nicht. Und das führte dazu, dass die PKK den bewaffneten Kampf wieder aufnahm."
Drei große Entwicklungen
Der Kontext des Konflikts habe sich in den 20 Jahren tiefgreifend verändert, fasst Yegen zusammen: "Als Öcalan gefasst wurde, gab es Irakisch-Kurdistan noch nicht, die syrische Krise war noch nicht ausgebrochen, und die EU war noch nicht dabei. Diese drei großen Entwicklungen haben sich alle in den 20 Jahren seither abgespielt. Und ich fürchte, keine dieser Entwicklungen hat zur Lösung der Kurdenfrage beigetragen."
Das ist möglicherweise eine Frage der Perspektive. Die Politikwissenschaftlerin Arzu Yilmaz, selbst türkische Kurdin, hat jahrelang in Irakisch-Kurdistan geforscht und zuletzt an der Amerikanischen Universität von Kurdistan im nordirakischen Duhok gelehrt. Aus ihrer Sicht hat die Regionalisierung des Konflikts auch eine produktive Funktion gehabt:
"Die Kurdenfrage war früher eine innenpolitische Frage. Die Kurden waren in Nationalstaaten eingeschlossen und sie waren völlig voneinander abgeschnitten – gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch voneinander isoliert. Das hat sich geändert seit den 1990er Jahren. Zuerst durch den Zusammenbruch des Irak, dann durch die Krise von Syrien sind die Kurden untereinander in Kontakt gekommen, haben sich gegenseitig wahrnehmen können und im Krieg gegen den Islamischen Staat sogar zusammen gekämpft. Diese Erfahrung hat der Kurdenfrage eine neue Dimension verliehen."
Aus Sicht des türkischen Staates stellt sich das anders dar. Der PKK-Konflikt habe schon immer eine internationale Dimension gehabt, argumentiert der Politologe Hüseyin Alptekin von der regierungsnahen Denkfabrik Seta in Istanbul. Schließlich habe Öcalan bis zu seiner Festnahme fast 20 Jahre lang in Syrien gelebt und die PKK-Angriffe auf die Türkei von dort aus befehligt; die PKK-Lager befanden sich damals in der von Syrien kontrollierten Bekaa-Ebene im Libanon. Der Zusammenbruch der Nachbarstaaten habe die PKK aber massiv erstarken lassen, sagt Alptekin:
"Man muss sehen, was sich heute in Syrien und im Irak in den Gebieten abspielt, die von der PKK kontrolliert werden: Da wird eine ganze Generation von jungen Kurden dazu erzogen Bücher von Öcalan zu lesen. Die Kinder sitzen in der Schule unter Plakaten von Abdullah Öcalan, sie schwören Öcalan die Treue, sie werden zum Hass auf die Türkei erzogen, und die Türkei kann nichts dagegen tun. Insofern ist die PKK internationaler geworden, sie rekrutiert heute mehr syrische und irakische Kurden als türkische Kurden. Das ist ein Problem für die Türkei."
Eigenständiger Kurdenstaat vor Augen
Gleich aus welcher Perspektive, einig sind sich die Experten darin, dass die Kurdenfrage keine innere Angelegenheit eines einzelnen Staates mehr sein kann. Eine ganze Zeit lang sah es so aus, als könnten die Kurden die Gunst dieser Stunde nutzen und vom Niedergang der Nationalstaaten im Irak und in Syrien profitieren, um sich eine eigene Ecke in der Region zu schaffen. Die irakischen Kurden dehnten ihr Autonomiegebiet aus und sahen sich dem Ziel eines eigenständigen Kurdenstaates schon so nahe, dass sie vor eineinhalb Jahren eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Irak abhielten. Die syrischen Kurden errichteten im Windschatten des Bürgerkriegs eine Selbstverwaltung, die zeitweise drei Kantone umfasste.
Und selbst in der Türkei wagte die PKK vor drei Jahren den Versuch, autonome Zonen in einzelnen kurdischen Städten zu errichten. Inzwischen ist die Stunde der Kurden verstrichen, sagt Sicherheitsexperte Plakoudas:
"Die Dynamik in der kurdischen Sache erreichte Anfang 2017 einen Höchststand, aber jetzt ist der Schwung ganz klar verloren. In der ersten Jahreshälfte 2017 waren die Kurden im Besitz von Raqqa, der Hauptstadt des Islamischen Staates, und sie kontrollierten Kirkuk, das so genannte Jerusalem der Kurden in Irak. Aber in der zweiten Jahreshälfte 2017 eroberte der irakische Staat Kirkuk zurück; die syrischen Kurden erlitten 2018 einen schweren Rückschlag, als die türkische Armee in Afrin einmarschierte und ihnen den Kanton abnahm; und in der Türkei ist die PKK seit ihrem gescheiterten Barrikadenkrieg vor drei Jahren in der Defensive."
Dabei waren es nicht nur ihre Widersacher in der Region, der die Kurden diese Rückschläge für ihr Streben nach Unabhängigkeit zu verdanken haben. In Irak zum Beispiel überreizten die nordirakischen Kurden ihr Spiel, sagt Joost Hiltermann, Nahost-Direktor bei der internationalen Denkfabrik Crisis Group:
"Die Kurden in Irak waren ja schon sehr weit gekommen, aber dann wollten sie sich mit der autonomen Selbstverwaltung in Irak nicht mehr begnügen, sondern hielten im September 2017 eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit ab. Dabei stimmten die nordirakischen Kurden zwar mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit. Als Gegenreaktion marschierte aber der irakische Staat ein, nahm den Kurden einige Gebiete wieder ab und verhängte Strafen, die sie in ihrem Unabhängigkeitsstreben um Jahrzehnte zurückgeworfen haben."
"Eigene militärische Fähigkeiten überschätzt"
Und das war nicht der einzige strategische Fehler auf kurdischer Seite, sagt Militärexperte Plakoudas:
"'Kenne dich selbst und kenne deinen Feind, dann wirst Du auf dem Schlachtfeld nie besiegt', riet der chinesische Militärstratege Sun Tzu. Die Kurden haben das nicht beherzigt. Sie haben die Entschlossenheit und das Vermögen ihrer Feinde unterschätzt, und sie haben ihre eigenen militärischen Fähigkeiten überschätzt. Die Kurden in Nordirak und Nordsyrien nahmen an, dass die USA sie ewig gegen Iran, die Türkei und Irak unterstützen würden, aber da erlebten sie eine Überraschung. Und in der Türkei unterschätzte die PKK mit ihrem Barrikadenkrieg, wie stark die türkischen Streitkräfte auch nach den Säuberungen von Erdogan noch waren. Heute ist die Guerilla in der Türkei so schwach wie schon seit Jahren nicht mehr."
Das heißt natürlich nicht, dass die Kurden einfach selber schuld sind an ihrer Lage. Die Liste der Beteiligten ist lang und wird von der Türkei angeführt, wie Plakoudas anmerkt:
"Festzuhalten ist, dass die Türkei es versäumt hat, eine friedliche Lösung der Kurdenfrage zu fördern. Nach dem militärischen Sieg über die PKK im Jahr 1999 und noch mehr nach dem Antritt des islamistischen Regierungschefs Erdogan hatte die Türkei die einmalige Gelegenheit, eine dauerhafte Lösung der Kurdenfrage auszuhandeln. Aber das hat sie nicht geschafft, teils wegen ihrer inneren Machtkämpfe und teils wegen Erdogans eigener Agenda."
Versäumte Chancen
Hier habe auch Europa eine Chance versäumt, findet der Politologe Mesut Yegen:
"Die EU hätte hier einen positiven Beitrag leisten können. Aber der türkische Staat setzte die Reformen zunächst nur zögerlich um, und als die EU dann auf Distanz ging und den Beitritt in Frage stellte, drosselte das wiederum den Reformwillen der Türkei."
Und auch die internationale Staatengemeinschaft spiele keine konstruktive Rolle, meint Arzu Yilmaz:
"Die internationale Gemeinschaft will den Status Quo im Nahen Osten erhalten, weil sie nicht mehr in den Nahen Osten investieren will. Der Westen hat seine eigenen Sorgen, sei es Populismus oder Brexit oder Flüchtlinge; er will einfach den Status Quo hier erhalten, weil ihn das am wenigsten kostet."
Doch den Status Quo gibt es nicht mehr. Zu viel haben die Konflikte der vergangenen Jahre in der Region verändert – nicht nur auf dem Boden, sondern vor allem in den Köpfen, sagt Yilmaz.
"Der Kampf der Kurden war früher ein Kampf für Grundrechte in den Ländern, in denen sie leben. Aber das hat sich durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte verändert. Die Kurden kämpfen nicht mehr für Gleichheit, sie kämpfen heute um die Macht, um die Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess in ihrer Heimat. Aus ihrem Kampf für Menschenrechte ist ein Kampf um die Macht in Kurdistan geworden."
Wer erobert die Macht in Kurdistan?
Wie wird dieser Machtkampf ausgehen? Wer erobert die Macht in Kurdistan oder über die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien, Irak und der Türkei? Eine schwierige Frage, sagen die Experten. Immerhin hätte man sich noch vor einigen Jahren nicht vorstellen können, dass es eines Tages eine autonome Kurdenzone im Irak geben könnte, dass die Kurden in Syrien sich selbst verwalten könnten und dass die PKK in der Türkei kurdische Autonomiezonen ausrufen könnte. Nur eines könne man mit Sicherheit voraussagen, meint Spyridon Plakoudas:
"Kein Kurdenstaat wird ohne die Zustimmung oder zumindest Duldung seiner Nachbarstaaten überleben können. Die nordirakische Kurdenzone ist zwar dank der USA eingerichtet worden, aber entfalten konnte sie sich nur dank der Zusammenarbeit mit der Türkei. Das wird für jede kurdische Autonomie im Irak oder in Syrien gelten – funktionieren kann das nur mit Zustimmung der Nachbarn."
Von dieser Zustimmung sind die Kurden noch meilenweit entfernt, jedenfalls solange sie von der PKK und ihren Ablegern dominiert werden. Die Türkei geht derzeit militärisch gegen PKK-Stützpunkte in Nordirak vor. Ihre Truppen stehen mit Zustimmung der irakischen Kurden und der irakischen Zentralregierung bereits in zwei Enklaven auf irakischem Gebiet. Experte Alptekin von der Denkfabrik Seta rechnet damit, dass sie in den kommenden Monaten weiter vorrücken werden, um eine Pufferzone auf irakischem Gebiet zu errichten. Auch in Syrien werde die Türkei demnächst noch einmal intervenieren, um die PKK und deren syrischen Ableger, die YPG, von ihrer Grenze zu vertreiben, glaubt Alptekin:
"Wenn es sein muss, wird die Türkei das auch unilateral tun. Dazu ist sie fest entschlossen. Derzeit versucht Ankara noch, Russland oder die USA dafür zu gewinnen und das gemeinsam zu machen. Aber wenn das nicht zustande kommt, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann wird die Türkei im Alleingang einmarschieren. Denn die Türkei kann da einfach nicht tatenlos zusehen."
Läuft der türkische Ansatz zur Lösung der Kurdenfrage also darauf hinaus, die PKK in allen drei Ländern zugleich militärisch zu erledigen? So einfach stelle sich die Türkei das auch nicht vor, meint Mesut Yegen.*
"Militärisch ist das ist unmöglich, und das ist dem türkischen Staat auch völlig klar. Die Türkei strebt damit wohl nicht die völlige Vernichtung der PKK an, sondern eine Schwächung der PKK und ihres politischen Arms, der HDP. Wenn der Staat sie für ausreichend geschwächt hält, dann wird er neue Friedensgespräche aufnehmen."
Abdullah Öcalans wichtige Rolle
Dass es früher oder später wieder Verhandlungen geben muss zwischen der Türkei und der PKK, das glauben die meisten Experten – die Frage ist nur, wie lange es noch dauert. Dabei könnte ein Mann eine Rolle spielen, von dem man schon länger nichts mehr gehört hat, sagt Yegen: PKK-Chef Abdullah Öcalan, der seit seiner Ergreifung vor 20 Jahren auf einer Gefängnisinsel in der Türkei inhaftiert ist und seit dem Zusammenbruch des letzten Friedensprozesses vor vier Jahren nicht mehr mit der Außenwelt kommunizieren darf.
"Auf jeden Fall spielt er noch eine Rolle, eine sehr wichtige Rolle. Wenn die Türkei und die PKK eines Tages wieder Verhandlungen aufnehmen wollen, dann könnte er es sein, der eine Einigung vermittelt. Die Tatsache, dass weder der türkische Staat noch die PKK ihm die Schuld am Zusammenbruch des Friedensprozesses gegeben haben und dass keine der beiden Seiten ihn anschwärzt, deutet für mich darauf hin, dass beiden Seiten bewusst ist, dass sie ihn eines Tages wieder in dieser Rolle brauchen könnten."
Anders als beim letzten Anlauf würden neue Friedensverhandlungen die internationale Dimension des Konflikts berücksichtigen und die syrischen Kurden einbeziehen müssen, meint Yegen. Dafür werde voraussichtlich eine internationale Vermittlung notwendig, womöglich unter der Ägide der USA. Als innere Angelegenheit sei die Kurdenfrage jedenfalls nicht mehr zu lösen, weder in der Türkei noch anderswo, glaubt auch Arzu Yilmaz:
"Das ist vorbei. Die Kurdenfrage kann nie wieder in nationale Grenzen zurückgedrängt werden. Auf der einen Seite werden die Nationalstaaten immer schwächer, auf der anderen Seite schließen sich die Kurden immer enger zusammen. Die Mobilisierung für die kurdische Sache kommt heute von unten, von normalen Kurden auf der Straße, und das setzt die kurdischen Parteien unter Handlungsdruck. Zu glauben, dass die Kurden irgendwann wieder Ruhe geben werden, ist unrealistisch."
20 Jahre nach der Ergreifung von Abdullah Öcalan und dem türkischen Sieg über die PKK sind die kurdischen Kräfte in der Region wieder auf dem Rückzug – aber nur vorübergehend, meint Joost Hiltermann von der Crisis Group:
"Der kurdische Kampf hat seinen Höhepunkt jetzt erst einmal überschritten, aber der kurdische Durst nach Unabhängigkeit ist nicht zu löschen. Deshalb kann es jederzeit wieder einen Schub geben. Was die Kurden brauchen, um ihr Ziel zu erreichen, das ist eine Schwächung der Staaten, von denen sie kontrolliert werden – sei es die Türkei, Syrien, Irak oder Iran."
* Anm. der Red.: Der Satz "So einfach stelle sich die Türkei das auch nicht vor, meint Mesut Yegen" wurde nachträglich hinzugefügt, weil er versehentlich herausgekürzt worden war.