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Kommentar OECD-Bericht
Ohrfeige für das deutsche Bildungssystem

In einer Studie bewertet die OECD die Chancengleichheit im deutschen Bildungssektor sehr kritisch. Dieser Befund komme für die politisch Verantwortlichen nicht überraschend und müsse Konsequenzen haben, kommentiert Armin Himmelrath.

Ein Kommentar von Armin Himmelrath |
Vier Jungen in kurzen Hosen und einheitlich roten T-Shirts helfen einander, auf den Ast eines großen Baums zu klettern.
Teamgeist hilft beim Aufstieg, aber in Deutschland schaffen es viele junge Menschen nicht zum Schulabschluss. (picture alliance / Westend61 / zerocreatives)
Es ist eine Ohrfeige mit Ansage. Mal wieder, muss man sagen. Deutschland hat sich bei der beruflichen Bildung im internationalen Vergleich eine Sonderrolle erarbeitet, und zwar eine ziemlich unschöne. Denn zusammen mit Tschechien ist die Bundesrepublik das einzige Land in der OECD, in dem in den vergangenen Jahren der Anteil der jungen Menschen gestiegen ist, die weder einen Berufsabschluss noch die Hochschulreife haben. 16 Prozent derjenigen zwischen 25 und 34 Jahren sind damit nach ihrer Bildungskarriere für den Arbeitsmarkt im Grunde kaum noch vermittelbar – ein dramatischer Wert.
Da hilft es auch nichts, dass es am anderen Ende der Leistungsskala deutlich besser aussieht. Gestiegen ist nämlich auch die Zahl derjenigen, die besonders gut qualifiziert sind: 30 Prozent der jungen Erwachsenen hatten hierzulande im Jahr 2015 einen Hochschulabschluss, heute sind es schon 37 Prozent. Um ihre berufliche Situation müssen sie sich in aller Regel überhaupt keine Gedanken machen.

Die deutsche Bildungskatastrophe

Der Blick auf diese beiden Extreme der Qualifikationsskala zeigt, wie schlecht es um die viel beschworene Bildungsgerechtigkeit in Deutschland bestellt ist. Dass die Schere zwischen gut und schlecht ausgebildeten jungen Menschen so weit auseinanderklafft, ist mit dem Wörtchen „besorgniserregend“ nur unzureichend beschrieben. Es ist eine Bildungskatastrophe – nicht nur aus der Sicht der Betroffenen, sondern auch gesamtgesellschaftlich.
Schon andere Studien hatten gezeigt, dass jedes Jahr Zehntausende Jugendliche das Schulsystem ohne Abschluss verlassen. Die neuen Zahlen aus dem OECD-Bericht belegen jetzt eindringlich, wie sich diese Bildungsarmut in die Lebensphase hinein fortpflanzt, in der die beruflichen Grundlagen gelegt werden. Und wenn dann knapp jeder und jede Sechste im Alter zwischen 25 und 34 den Anschluss verloren hat, dann ist das ein Armutszeugnis für die Bildungspolitik, und zwar für Bund und Länder gleichermaßen.
Das ist doch verrückt: Auf der einen Seite beklagen wir in fast allen Branchen einen enormen Fach- und Arbeitskräftemangel, der sich in den kommenden Jahren noch vergrößern wird und für dessen Bewältigung es auf jeden einzelnen zusätzlichen Menschen mit entsprechender Qualifikation ankommt. Und auf der anderen Seite leisten wir uns knapp 1,7 Millionen junge Erwachsene ohne diese notwendigen Qualifikationen.

Streit über "Startchancen"-Programm

Und vor allem: ohne politisches Konzept, mit dem man das Problem angehen könnte. Ein Beispiel dafür ist der monatelange Zank zwischen und Bund und Ländern um das sogenannte Startchancen-Programm, mit dem bundesweit 4000 Schulen in sozial besonders herausfordernder Lage unterstützt werden sollten. Die dafür vorgesehene Milliarde vom Bund sollte ausdrücklich auch zu besseren Bildungschancen für Benachteiligte führen. Doch Bund und Länder haben sich im föderalen Zwist verhakt, und es ist unklar, ob das Projekt überhaupt noch wie geplant realisiert werden kann.
Mitten hinein in diesen bildungspolitischen Streit platzt nun die OECD mit ihren alarmierenden Zahlen. Sie zeigt: Wer das Scheitern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Bildungssystem zum individuellen Problem erklärt und zu lange ohne Reaktion hinnimmt, scheitert auch als Gesellschaft. Das ist die schmerzhafte Erkenntnis aus den vorgelegten Zahlen.