Mario Dobovisek: Dem "Spiegel" hat ein führender Experte der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – der OECD – ein Interview gegeben. Nichts Besonderes soweit, doch fordert er darin eine umfassende Steuerreform in Deutschland. Dazu solle Finanzminister Wolfgang Schäuble sein Ziel eines ausgeglichenen Haushalts aufgeben und den Spielraum der Schuldenbremse ausnutzen. Das Entlastungsvolumen könnte dann bei rund zehn Milliarden Euro liegen, sagt Christian Kastrop, Direktor der Abteilung für politische Studien bei der OECD. - Am Telefon begrüße ich Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der deutschen Steuerzahler. Guten Tag, Herr Holznagel!
Reiner Holznagel: Guten Tag, ich grüße Sie!
Dobovisek: Darf sich eine internationale Organisation wie die OECD in die deutsche Steuerpolitik einmischen?
Holznagel: Ja, sie muss es sogar. Vor allen Dingen deswegen, weil die OECD die Zahlen erhebt und deutlich macht, wie hoch die deutschen Steuerzahler auch im internationalen Vergleich belastet sind. Und deswegen ist es auch gut so, dass die OECD Ratschläge gibt. Wir folgen diesen auch oder sagen das ebenfalls, dass im deutschen Steuersystem endlich was passieren muss. Insbesondere müssen die niedrigen und mittleren Einkommen deutlich entlastet werden. Das ist in den letzten 20 Jahren nicht geschehen. Im Gegenteil, sie sind mehr belastet worden. Insofern ist es richtig, dass wir jetzt eine Diskussion darüber führen, wie wir die Steuern ab der nächsten Legislaturperiode spätestens senken.
Dobovisek: Da geht es um zehn Milliarden bis zu 50 Milliarden Euro. Und der OECD-Experte schlägt dafür gleich mehrere Maßnahmen vor, darunter auch eine Mehrwertsteuererhöhung. Ist ja nicht gerade das, was die Mitte und die Geringverdiener entlasten würde.
Holznagel: Ja, das verwundert mich schon etwas bei diesen Vorschlägen. Also grundsätzlich halte ich es für richtig, dass wir die Einkommen entlasten, gerade im mittleren Bereich, aber man muss hier keine Gegenfinanzierung herzaubern, indem man andere Steuern erhöht. Wir haben ja zurzeit die Situation, dass der Staat hervorragende Einnahmen hat. Wir werden in den nächsten Jahren 2020 über 800 Milliarden Euro gesamtstaatlich einnehmen. Das ist ein deutliches Plus. Wir haben bei den einzelnen Steuerarten Zuwächse, die weit über 40 Prozent liegen. Da ist es mehr als gerechtfertigt, dass man einen Teil dieser Mehreinnahmen schlicht und ergreifend zurückgibt oder gar nicht erst vereinnahmt, also bei den Steuerzahlern lässt. Der zweite Punkt ist, dass wir auch an anderer Stelle extreme Entlastungen haben, nämlich bei den Zinsausgaben. Hier haben sich die Zinsausgaben beispielsweise des Bundes halbiert. Insofern ist hier viel Luft im Bundeshaushalt, aber eben auch in den Landeshaushalten für steuerliche Entlastungen. Da braucht man keine Gegenfinanzierung.
Dobovisek: Kommen wir da später noch mal drauf, was man sozusagen mit dem noch machen könnte, was da am Ende übrig bleibt, nämlich auch auf die Infrastruktur zu blicken und so weiter. Kommen wir später noch mal drauf. Bleiben wir noch einen Moment bei der Mehrwertsteuer, denn da liegt Deutschland ja durchaus nicht an der Spitze im europäischen Vergleich. Ist da doch noch was möglich?
Holznagel: Deutscher Steuerzahler weit über den europäischen Durchschnitt belastet
Holznagel: Ja, hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Wenn wir beispielsweise die skandinavischen Staaten nehmen, dann wird die Mehrwertsteuer dazu genutzt, um eben Sozialausgaben zu finanzieren. Das heißt, wir müssen insgesamt die Belastung uns anschauen. Es ist ja auch immer schick, in Talkshows die niedrige Steuerquote von Deutschland herbeizuführen. Tatsächlich muss man die Gesamtbelastung sehen. Und das macht ja die OECD. Und bei der Berechnung stellt man eben fest, inklusive der Mehrwertsteuer liegen eben die Einkommensbelastungen im Schnitt weit über dem Durchschnitt in Europa oder weltweit. Da ist der deutsche Steuerzahler der dritthöchstbelastete. Insofern haben wir keinen Spielraum bei der Mehrwertsteuer. Man muss die einzelnen Finanzierungssysteme sich genau anschauen. Und deswegen verwundert mich dieser Vorschlag.
Dobovisek: Gucken wir uns ein anderes Instrument an, einen anderen Vorschlag: Der Spitzensteuersatz soll angehoben werden, fordert der OECD-Experte, ein Schritt, den auch die Mittelständler der Union um Carsten Linnemann fordern. Wem würde das helfen am Ende?
Holznagel: Fast allen, weil man muss natürlich den Spitzensteuersatz neu definieren. Das hört sich immer an, als wenn wirklich Großverdiener belastet werden, aber tatsächlich liegt der Spitzensteuersatz ja schon bei knapp 54.000. Und das ist das 1,2-fache vom Durchschnittsverdienst. Insofern wird fast jeder Facharbeiter am Ende seines Lebens mit dem Spitzensteuersatz konfrontiert. Und deswegen brauchen wir hier eine deutliche Verschiebung nach rechts. Die Mittelstandsunion hat ja schon Werte vorgeschlagen: 60.000, der OECD-Mann sagt 80.000. Das halte ich für völlig gerechtfertigt. Und wir müssen darüber eine Diskussion führen, dass wirklich Spitzenverdiener gut besteuert werden, aber nicht sozusagen die Mittelschicht mit dem Spitzensteuersatz konfrontiert wird.
Dobovisek: Gleichzeitig, und das kritisiert ja auch die SPD – wir hatten hier im Programm auch NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans –, dass es da eben auch eine erhebliche Entlastung für Millionenverdiener gibt, für Spitzenverdiener, für Verdiener, die eben besser verdienen als das, was Herr Linnemann und die Union momentan die Mitte nennen und die SPD da vehement widerspricht. Die SPD sagt also, es gehe eben auch um diese Millioneneinkommen. Hat da die CDU die Besserverdienenden im Blick und nur sozusagen als Nebenaspekt auch die Mittelverdiener?
Holznagel: Also wir haben ja das Konzept durchgerechnet von der MIT, und man muss eben sagen, gerade die Mittelschicht profitiert von diesem Vorschlag. Natürlich werden bei Steuer ...
Dobovisek: Was ist denn die Mittelschicht aus Ihrer Sicht?
Holznagel: Die Mittelschicht ist in diesem Spektrum zwischen 30- bis 80.000 Euro, aber auch ein Doppelverdienerhaushalt bis zu 100.000 Euro. Wir müssen dann auch immer schauen, dass Kinder im Haushalt sind. Manchmal sind es zwei, manchmal sind es drei. Auch hier müssen wir Entlastungen herbeiführen. Die SPD spricht dann gerne von Millionären, die natürlich keiner entlasten will, aber jede Steuerreform hat natürlich auch Entlastungseffekte in der Spitze, wie aber auch eben am Anfang. Aber ...
Dobovisek: Wie könnte denn eine Steuerreform, Herr Holznagel, aussehen, die eben tatsächlich nur die Mitte und die Geringverdiener entlastet, aber die Besserverdienenden nicht, die ja durchaus ihren Teil zur Gesellschaft beitragen wollen?
Holznagel: Kalte Progression permanent abschaffen
Holznagel: Indem man eben die kalte Progression permanent abschafft, indem man den sogenannten Mittelstandsbauch abflacht, wenn ihn man nicht sogar abschafft. Und dass man letzten Endes einen Steuertarif so kreiert, der nicht am Anfang und in der Mitte stark zuschlägt. Das war für mich immer ein Mysterium, warum die SPD für den Mindestlohn wirbt, aber nichts am Steuertarif macht. Denn gerade in diesem Bereich schlägt die Steuer voll zu. Und da muss man ran, und deswegen ist das eine Aufgabe für die nächste Legislaturperiode, den Tarif wirklich neu zu reformieren.
Dobovisek: Anderer Aspekt, den wir vorhin schon mal angesprochen haben, Herr Holznagel, um 30 Prozent sind seit 2010 die Steuereinnahmen gestiegen. Und dennoch klaffen buchstäblich riesige Löcher zum Beispiel im Verkehrsnetz. Da muss ich hier in Nordrhein-Westfalen gar nicht so weit gucken, gibt es diverse Brücken, die gesperrt sind, sieht im ganzen Bundesgebiet nicht so deutlich anders aus. Gleichzeitig schleppt noch immer der Krippenausbau zum Beispiel oder auch Schulgebäude fallen zum Teil auseinander, wenn man das so sagen darf. Warum das Geld nicht sinnvoll investieren zum Beispiel in Infrastruktur, Bildung oder – neulich jüngst besprochen – innere Sicherheit mit mehr Polizisten zum Beispiel?
Holznagel: Ja, man muss alles tun. Und das kann man sogar, wenn man Prioritäten setzt. Man muss aber auch sparen. Sie haben die Felder angeführt: Natürlich haben wir ein Problem in der Infrastruktur. Da ist aber jetzt auch mehr Geld vorhanden. Hier muss man die zeitlichen Abläufe auch berücksichtigen. Nur weil mehr Geld da ist, sind nicht gleich die Straßen heile. Das muss auch noch fertiggemacht werden. Dazu braucht es Zeit. Wir brauchen mehr Geld auch, was die Bildung angeht. Allerdings muss hier wirklich klug und mit Nachsicht investiert werden. Aber auf der anderen Seite muss man eben auch feststellen, wir pulvern mal eben 600 Millionen Euro für die E-Mobilität aus. Also da läppert sich so einiges, was wir auch an Ausgaben haben, die ich für mehr als sinnlos erachte. Und wir haben einen sehr starken Konsum.
Dobovisek: Kann man drüber streiten.
Holznagel: Natürlich kann man da drüber streiten. Ich finde nur, man darf nicht immer Löcher im Bundeshaushalt anprangern, wenn man auf der anderen Seite nicht sieht, was für Geld überall aus dem Fenster herausgeschmissen wird. Ich will an dieser Stelle gar nicht auf Steuergeldverschwendung zu sprechen kommen. Hier in Berlin kann man sich das jeden Tag anschauen. Also insofern finde ich schon, dass man Prioritäten setzen muss. Die Steuerzahler liefern so viel Geld ab wie noch nie zuvor in diesem Staat. Und deswegen haben sie ein Recht da drauf, dass natürlich innere Sicherheit, dass Infrastruktur, dass Bildung so ausgestaltet wird, dass man zufrieden ist. Aber auf der anderen Seite muss man eben auch Entlastungen einfordern, die einhergehen mit Sparmaßnahmen, mit Einschnitten, wo man Prioritäten setzt. Wir können nicht die erneuerbaren Energien fördern und auf der anderen Seite auch noch den Kohleabbau. Ich finde, hier sollte man sich entscheiden.
Dobovisek: Reiner Holznagel vom Bund der Steuerzahler. Ich danke Ihnen für das Interview!
Holznagel: Danke Ihnen auch!
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