Kate Maleike: Wie wirken eigentlich Bildungsreformen, die von Regierungen beschlossen werden? Das war die Frage, mit der sich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer Studie beschäftigt hat und deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Geschaut hatte man auf 450 Reformen im Bildungsbereich, die seit 2008 in den OECD-Ländern auf den Weg gebracht wurden, um zum Beispiel die Chancen für benachteiligte Schüler zu verbessern, die Berufsausbildung zu stärken oder die Organisation von Schulen zu straffen. Ob diese Maßnahmen tatsächlich wirken - so hat die OECD jetzt herausgefunden -, wird aber bisher nur bei circa zehn Prozent der Länder überprüft. Wie Deutschland dabei dasteht, möchte ich jetzt mit Andreas Schleicher besprechen, dem OECD-Bildungsdirektor. Guten Tag, Herr Schleicher!
Andreas Schleicher: Guten Tag!
Maleike: Was ist denn das Ergebnis? Was ist von diesen 450 Reformen übrig geblieben?
Schleicher: Schauen wir auf Deutschland, da ist viel in Gang gekommen. Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 - frühkindliche Bildung, Förderung von nationalen Bildungsstandards, Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund und sozialen Benachteiligungen -, da hat sich viel verändert und die Ergebnisse haben sich deutlich verbessert. Ähnliche Entwicklungen sind in anderen Ländern zu verzeichnen. Allerdings muss man auch sagen, von etwa zehn Reformen, die in die Wege geleitet werden, wird am Ende gerade mal eine gründlich evaluiert, also da ist auch noch viel zu tun.
Maleike: Warum denken Sie, dass da nicht genug evaluiert wird?
Schleicher: Das ist einfach zu beobachten. Viele Reformen werden eingeleitet, die Ergebnisse kommen erst langfristig zum Tragen, und da passiert es oft, dass eben in der Zwischenzeit von einer neuen Regierung vielleicht eine neue Reform eingeleitet wird, und so entstehen dann oft inkohärente Reformwege.
"Im internationalen Vergleich ist Deutschland eigentlich ein gutes Beispiel"
Maleike: Überprüfung oder Evaluierung heißt ja auch, wenn man die Wirksamkeit betrachtet, dass man noch mal testet. Scheuen vielleicht auch die Länder nochmalige Testungen?
Schleicher: Das weiß ich nicht. Ich denke, es ist ja nun wichtig, dass man sich im Grunde darüber klar ist, was will man erreichen mit diesen Reformen, und dann systematisch verfolgt, sind wir auf dem richtigen Weg. Und ich denke, dazu gehören Daten. Ohne verlässliche Daten sind wir alle nur Leute mit einer Einschätzung, mit einer Meinung. Und ich glaube, eine grundlegende empirische Grundlage ist dort sehr wichtig. Aber ich denke, im internationalen Vergleich ist Deutschland eigentlich ein gutes Beispiel dafür. Da sind viele Reformen konsequent durchgeführt worden und haben heute auch Früchte getragen.
Maleike: Das hören wir natürlich gerne, denn Sie wissen auch, dass es viele Menschen im Land gibt, die den PISA-Schock erlebt haben und danach gesagt haben, es ist eine Reformflut in den Schulen passiert. Wie stehen Sie dazu?
Schleicher: Ich denke, wir müssen einfach sehen, dass die Welt sich sehr viel schneller verändert als unsere Schulen. Das, was von jungen Menschen heute erwartet wird - in der Gesellschaft, im Leben, an Zukunftskompetenzen -, da ist wirklich die Erwartungshaltung sehr hoch, ich würde eher sagen, dass in den Schulen oft noch zu wenig passiert. Was tatsächlich ein Problem ist, dass viele Reformen einfach überstürzt sind, zum Beispiel Dinge wie G8, G9. Die werden dann eingeleitet, dann wieder infrage gestellt - das hilft den Lehrern und Schülern an der Frontlinie sicherlich nicht. Wichtig ist, dass es eine Kohärenz gibt, dass man im Grunde sehr ambitioniert Reformen einleitet, die dann systematisch verfolgt, anstatt dann Dinge über den Zaun zu brechen. Ich denke, da liegt oft die Gefahr. Aber insgesamt die Reformdynamik, denke ich, ist sehr wichtig, und es wäre schade, wenn das verloren geht jetzt.
Maleike: Treten Sie gerade so ein bisschen auf die Reformbremse, also wollen Sie Reformen mehr Zeit geben, als das bislang der Fall ist?
Schleicher: Reformen brauchen immer Zeit. Ich denke, wenn Sie heute die frühkindliche Bildung verbessern, dann wird sich das sicher erst in vielen Jahren in PISA-Ergebnissen am Ende der Schulzeit niederschlagen. Das muss man immer im Blick haben, was ist im Grunde so der Entwicklungshorizont von Reformen. Dennoch denke ich, kann man bei vielen Reformen noch deutlich ambitionierter sein. Gerade im Bereich Chancengerechtigkeit, da hat sich in Deutschland einiges zum Positiven verändert, aber da bleibt noch sehr viel zu tun. Noch immer muss man sagen, dass die Bildungsmobilität in Deutschland begrenzt ist, dass gerade die Leistungen von Schülern aus ungünstigen sozialen Kontexten in Deutschland immer noch unzureichend sind - da kann man noch sehr viel besser werden. Und da gehört, glaube ich, auch wirklich ein ambitioniertes Vorgehen dazu.
Maleike: Ist das auch gerade eine Information, die Sie uns frisch geben aus dem nächsten Bericht, der von Ihnen ansteht, "Bildung auf einen Blick"?
Schleicher: Ja, genau, den haben wir ja am gestrigen Tag auch veröffentlicht, da sind dazu Zahlen dabei.
"Lernprozesse transparenter machen"
Maleike: Was sind die wichtigsten für Deutschland?
Schleicher: Zum Einen kann man sagen, dass also der Übergang von der Schule ins Berufsleben in Deutschland weiterhin eine große Stärke ist. Wir sehen auch, dass der Anteil von jungen Menschen, die weder in Arbeit noch in Bildungsprozessen sind, gesunken ist in Deutschland - das ist ein sehr gutes Ergebnis, im europäischen Vergleich insbesondere. Allerdings bei Themen wie Bildungsmobilität, Chancengerechtigkeit, da ist weiter noch viel zu tun.
Maleike: Studien wie die jetzt vorgestellte von Ihnen, aber auch PISA-Studien und andere leben davon, dass getestet wird, 2015 ist in Deutschland ein echtes hartes Testjahr. Im Mai werden für die nächste PISA-Studie die Naturwissenschaften abgeprüft, dann geht es auch im VERA, um die Vergleichsarbeiten in den achten Klassen, das findet schon im Februar statt. Also es kommt eine ganze Menge wieder an Testeritis - ich überspitze das jetzt mal - auf Schuldeutschland zu. Wird in Deutschland so viel getestet?
Schleicher: Absolut nein. Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns jeden Tag Rechenschaft darüber abgeben, was sich im Positiven verändert. Das müssen nicht immer vergleichende Tests sein, aber ich denke, auch in den Schulen brauchen wir ein Klima, wo Evaluation nicht die Ausnahme ist, sondern ein Teil der Arbeit, die wir tagtäglich tun. Wir dürfen auch im Grunde Bewertungen testen, Evaluation nicht im Grunde als etwas sehen, was Lernzeit wegnimmt, sondern was den Lernprozess im Grunde transparenter macht, was Schülern zeigt im Grunde, wo ihre Schwächen und Stärken sind, was Lehrern etwas über ihren Unterricht aussagt und was dem Bildungssystem insgesamt irgendwo eine Perspektive aufzeigt, was wirklich machbar ist. Ich denke, wenn Sie alle drei Jahre mal den Schülern einen Test geben wie bei PISA, das ist sicherlich keine Testeritis.
Maleike: Aber hat die Forschung nicht auch noch ein bisschen Nachholbedarf bei der Frage, wie zum Beispiel getestet wird?
Schleicher: Absolut! Ich denke, da muss sich noch sehr, sehr viel entwickeln. Leider sind viele Tests - und auch PISA entwickelt sich da jedes Jahr - viele Tests noch zu sehr auf Abfragewissen ausgerichtet, immer noch zu schwach bei der Erfassung von weiterführenden Kompetenzen, wie gut können Schüler Wissen wirklich kreativ anwenden. Wir müssen auch ganz klar sehen, soziale Kompetenzen sind noch sehr unterbelichtet bei empirischen Bildungsvergleichen. Da bleibt noch viel zu tun, das Evaluationsinstrumentarium ist immer in Entwicklung.
Maleike: Viele Länder der OECD überprüfen zu wenig, ob Bildungsreformen wirken, Deutschland steht dabei im Verhältnis ganz gut da. Der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher war das in "Campus & Karriere". Danke!
Schleicher: Bitte sehr!
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