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OECD-Studie zur Bildung in Deutschland
Sozial schwache Schüler "doppelt benachteiligt"

Die Chancengerechtigkeit im Schulsystem bleibe in Deutschland eine der großen Herausforderungen, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher im Dlf. Laut der jüngsten Studie der Organisation habe sich viel in die "richtige Richtung" bewegt. Kinder aus sozial schwachen Familien würden aber "doppelt benachteiligt".

Andreas Schleicher im Gespräch mit Markus Dichmann |
    Der Lehrer Florian Schempp unterrichtet an der Friedenauer Gemeinschaftsschule in Berlin in einer Willkommensklasse Deutsch.
    Fast die Hälfte der sozial benachteiligten 15-Jährigen in Deutschland gingen auf Schulen, die in einem ungünstigen sozialen Umfeld liegen, sagt Andreas Schleicher im Dlf. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Markus Dichmann: Akademiker schicken ihre Kinder zur Uni; Kinder von Schulabbrechern brechen selbst die Schule ab. Die soziale Herkunft der Eltern und ihr Bildungsgrad bestimmen in Deutschland in höchstem Maße auch den Bildungserfolg ihrer Kinder und damit im Grunde den gesamten weiteren Verlauf ihres Lebens. Wir wissen, dass das in Deutschland so ist - schon lange. Und wir können es auch jetzt wieder feststellen, wenn wir noch einmal einen Blick in den enorm großen Pisa-Datensatz werfen. Die OECD hat die Pisa-Zahlen noch einmal neu ausgewertet. In Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit an Schulen. Ich habe OECD-Direktor und Pisa-Chef Andreas Schleicher gefragt wie sehr diese Ungerechtigkeit in Deutschland zu buche schlägt.
    Andreas Schleicher: Ja, die Chancengerechtigkeit im Schulsystem bleibt für Deutschland weiterhin eine der großen Herausforderungen. Denn Chancengerechtigkeit ist letztendlich der Schlüssel zu sozialer Mobilität. Und unter den 15-Jährigen ist der Leistungsabstand zwischen den Kindern, wenn sie die 25 reichsten und ärmsten Familien mal nehmen, das sind dreieinhalb Schuljahre. Natürlich steht Deutschland da nicht allein mit dieser Herausforderung, aber dass die Schülerleistung bildungsferner Schichten deutlich besser sein können, das sehen wir in Ländern wie Kanada oder Estland, wo sich die 20 Prozent sozial schwächsten Schüler immer noch mit dem durchschnittlichen Schüler in Deutschland messen können. Also man kann das Potenzial sozial schwacher Schüler deutlich besser mobilisieren.
    Dichmann: Jetzt haben Sie diesen internationalen Vergleich schon aufgemacht, Herr Schleicher. Wo stehen wir denn da?
    Schleicher: Deutschland hat sich dort sehr viel verbessert, muss man sagen. Bei den sozialen Disparitäten liegt Deutschland nahe am Mittelfeld, immer noch leicht größer als das Mittelfeld, aber das ist schon ein großer Fortschritt seit der ersten PISA-Studie. Positiv zu bewerten ist auch, dass ein Drittel der Schüler aus sozial schwierigen Verhältnissen immer noch ein recht gutes, zumindest mittleres Leistungsniveau erreicht im internationalen Vergleich. Das zeigt eben auch, dass es möglich ist, auch unter schwierigen Bedingungen gute Lehrleistungen zu bringen.
    Die entscheidende Rolle des sozialen Umfeldes
    Dichmann: Ein anderes Ergebnis, dass auch ungefähr ein Drittel der Kinder aus sozial schwachen Familien sich an der Schule wohlfühlen und auch nicht unter Angst vor der Schule oder Stress wegen Tests oder möglicher Prüfungen leiden. Das ist sogar auch über dem OECD-Durchschnitt. Das kann man ja durchaus auch positiv verbuchen.
    Schleicher: Ja. Die sozialen und emotionalen Aspekte, da liegt Deutschland sehr gut. Das heißt also, es gibt immer ein starkes und positives Verhältnis von Schülern und Lehrern, gute Unterstützung der einzelnen Schüler. Das, denke ich, ist ein sehr erfreuliches, positives Ergebnis.
    Andreas Schleicher, Direktor für Bildung bei der OECD und verantwortlich für die PISA-Studie
    Andreas Schleicher, Direktor für Bildung bei der OECD und verantwortlich für die PISA-Studie (picture alliance / epa / Emilio Naranjo)
    Dichmann: Die Spitzenleistung jetzt allerdings in naturwissenschaftlichen Fächern, unter sozial schwachen Kindern oder Kindern mit sozial schwachem Hintergrund, die sind allerdings unter dem OECD-Durchschnitt.
    Schleicher: Genau. Die sozialen Disparitäten, da hat Deutschland noch etwas Aufholbedarf, obwohl sich da eben auch viel verbessert hat. Kernproblem ist, dass fast die Hälfte der sozial benachteiligten 15-Jährigen in Deutschland auf Schulen gehen, die selbst in einem ungünstigen sozialen Umfeld liegen. Und die werden dadurch halt doppelt benachteiligt.
    Wenn Sie jetzt einen Schüler nehmen aus einem ungünstigen Familienumfeld, der auf eine sozial besser gestellte Schule geht, der ist um fast drei Jahre weiter in seinem Leistungsniveau als ein Schüler, der eben aus sozial schwierigen Verhältnissen kommt und dann auch noch auf eine benachteiligte Schule geht. Also im Grunde, das schulische Umfeld schlägt sehr viel stärker noch auf die Leistung durch als das familiäre soziale Umfeld. Und diese doppelte Benachteiligung ist eine große Herausforderung, die ist bedingt, indem eben Schulen in einem ungünstigen sozialen Umfeld in Deutschland auch ein schlechteres Lernklima haben. Die leiden häufiger an Mangel von qualifiziertem Lehrpersonal, haben einen höheren Anteil von Klassenwiederholungen. Also da kommt einiges zusammen, was sich dann deutlich erschwerend auswirkt noch.
    "Konzentration von Benachteiligung"
    Dichmann: Was ist das entscheidende Kriterium jetzt auch für eine benachteiligte Schule? Ist das die Unterfinanzierung?
    Schleicher: Es ist erst mal das gesamte soziale Umfeld, was sich natürlich aus den Schülern ergibt. Aber das ist meistens in Deutschland gekoppelt mit dann auch ungünstigen Ressourcen, größerem Lehrermangel und so weiter. Da kommt immer dann einiges zusammen. Die Konzentration von Benachteiligung in den Schulen ist in Deutschland das größere Problem als der Hintergrund des einzelnen Schülers.
    Dichmann: Wie setzen sich denn diese Bildungsstartvoraussetzungen, wenn ich das mal so nennen darf, dann im Erwachsenenalter fort?
    Schleicher: Da haben wir auch zum ersten Mal Langzeitergebnisse dabei. Allerdings haben wir diese Ergebnisse nicht für Deutschland. Aber wir sehen im Grunde, dass sich tendenziell soziale Disparitäten im Erwachsenenalter noch ausweiten und letztendlich Chancenungerechtigkeit im Bildungssystem mangelnde soziale Mobilität später bedeutet. Das heißt, geringere Einkommen für Kinder benachteiligter Familien, schlechtere Aussichten am Arbeitsmarkt. Der Zusammenhang ist halt sehr stark. Deswegen ist es eben so wichtig, sehr früh gute Grundlagen zu legen, und das fängt meistens schon im Vorschulalter an.
    "Vieles hat sich in die richtige Richtung bewegt"
    Dichmann: Jetzt monieren Sie die sozialen Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem schon lange, Herr Schleicher, und auch das Versagen der Bildungspolitik, diese Ungleichheiten abzustellen. Und Sie haben, wenn man das so sagen darf, dafür sich auch schon öffentlich den Zorn so einiger Bildungspolitiker in Deutschland eingehandelt. Wie lautet denn Ihr derzeitiges Urteil über die deutsche Bildungspolitik und diejenigen, die da das Sagen haben?
    Schleicher: Wie gesagt, da hat sich in Deutschland viel getan. Man muss sagen, im Jahr 2.000 waren die Ergebnisse hier noch deutlich problematischer, die sozialen Ungleichheiten deutlich größer. Gerade im Bereich der sozial benachteiligten Familien hat sich Deutschland verbessert. Aber wie gesagt, da ist noch mehr zu tun, und Chancengerechtigkeit im Bildungssystem ist der Schlüssel für soziale Mobilität. Und insofern denke ich, ist das ein weiterhin sehr wichtiges Thema. Aber die Tatsache, dass sich da in Deutschland was getan hat, zeigt eben auch, dass Veränderungen durchaus möglich sind.
    Ich denke, drei Dinge sind wichtig: Die Grundlagen für Chancengerechtigkeit werden sehr früh gelegt. Deutschland hat die Krippen und Kindergärten im letzten Jahrzehnt ja sehr erfolgreich ausgebaut. Aber da muss noch mehr getan werden, um die Qualität dieses Angebots zu verbessern. Dass eben der Bildungsauftrag und nicht nur die Betreuung im Vordergrund stehen. Zweitens kann man sagen, Ausbau der Ganztagsschulen ist, glaube ich, hier auch ein ganz wichtiges Thema. Das gibt einfach mehr Zeit, um soziale Defizite auszugleichen, aber auch um Talente zu finden und zu fördern. Aber da muss man auch wieder sagen, die Stundendeputate für Lehrkräfte in Deutschland sind vergleichsweise hoch, sodass Lehrkräfte oft zu wenig Zeit für die Förderung von Schülern außerhalb des Klassenverbands haben.
    Und eine frühzeitige Diagnose von Lerndefiziten und auch die gezielte individuelle Förderung, das sind die entscheidenden Voraussetzungen, um bessere Lernergebnisse und mehr Chancengerechtigkeit zu erzielen.
    Und letztendlich dann die Konzentration von Benachteiligten in den Schulen, die zum Teil auch selbst durch das Schulsystem entsteht – diese Konzentration ist im Wesentlichen eine Frage der Hauptschulen. Also da sind noch große Baustellen, aber in einem Umfeld, wo sich vieles in die richtige Richtung bewegt hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.