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''Oedipus''

Die neue, zweite Inszenierung des so hochgradig geschichtsträchtigen Musiktheaterprojekts "Oedipus" von Wolfgang Rihm führt in ein Hinterzimmer des historischen Museums. Der Regisseur Gregor Horres ließ sich von der Ausstatterin Kirsten Dephoff einige massiv wirkende steinerne Versatzstücke der archäologischen Montage-Kunst auf die Bühne packen – dahinter im kahlen Geviert einen Tisch und zwei Stühle, eine Eisenpritsche, einen Kühlschrank und einen Waschtisch (aber das Waschen der Hände in Unschuld nützt in diesem Fall bekanntlich nichts). Im elend-kargen Ambiente spinnen zwei mit Vorschlaghammer und Axt bewaffneten Sirenen ihr langgezogenes Ahh – ahh über die Bläserklangfetzen und gibt der Protagonist noch einmal die Lösung des über Leben und Tod entscheidenden Rätsels bekannt: der Mensch! Das alter ego des Oedipus erwacht aus seiner Versteinerung und begibt sich sichtbar auf die Suche. Mit den modern betuchten Männern von Theben und deren Aktenordnern erscheint dann auch der hellsichtige Kampftrinker Tiresias – in Wodka veritas! An diesem einzigen Punkt wurde das ambitioniert ernste Werk leicht ironisiert. Im übrigen aber herrscht großer Ernst und erhaben-erratisches Problembewusstsein: Äußerster Ausdruck, tiefste Größe, geballte Bedeutungsschwere. Diese Worte scheint uns Rihms "Oedipus" beständig zuzurufen, obwohl vom Text kaum ein Wörtlein zu verstehen ist. Das ist ja auch nicht vorgesehen: es handelt sich da um ein Musiktheater mehr der Gesten als um eines mit Handlung. Fetzen, nicht Zusammenhang hat Rihm komponiert. Das Zusammenhängende ergibt sich allerdings aus einer Kombination von Vorwissen (das in diesem Falle ziemlich unbedingt Voraussetzung ist), Rückblenden auf Schlüsselszenen im wechselvollen Leben des Oedipus und den als Hintergrund gelieferten Texten der vierstimmigen Sphinx (Teilweise handelt es sich da um Fragmente von Heiner Müllers "Oedipuskommentar").

Ein Beitrag von Frieder Reininghaus |
    Aus den schleppenden und stockenden Gesängen von Rätsel, Verwirrung, Verhängnis und Aufruhr ergibt sich, wie beim zusammengesetzten Puzzle, am Schluss doch ein fast integrales Bild des Selbstverwirklichers, der bis auf Thebens Thron gelangte. Dem Zusammenbuchstabieren der Wahrheit, die der vom ersten bis zum letzten Augenblick auf der Bühne präsente und dabei enorm facettenreiche Hauptdarsteller Johannes M. Kösters betreiben muss, entspricht über weite Phasen der heftige Duktus des Orchesters.

    Der Tübinger Germanist Hans Mayer verfasste anlässlich der Uraufführung dieses Musiktheaterstücks an der Deutschen Oper Berlin vor fünfzehn Jahren einen bildungsbeschwerten Essay und resümierte: "Die Besonderheit auch der Musik von Wolfgang Rihm besteht darin, daß er ernst gemacht hat mit der musikalischen Ausdeutung einer Tyrannengeschichte." In der Tat sollte der ungeheuerlichen Geschichte eine radikal ernste, ungeheuerlich sperrige, schrille, frei atonale Musik hinzugesellt werden. Es kam eine monströse Skizze zu Wege, die wie mit dem breiten Pinsel hingeworfen wirkt, dann aber auch mit feiner Feder nachgearbeitet wurde: Musik des pochenden instrumentalen Überdrucks und der fast beständigen Überanstrengung der Sänger. So, wie der Komponist sich der Öffentlichkeit als Workaholic präsentiert – stets an den Grenzen der Belastbarkeit und psychisch gefährdet –, so schafft er Bühnenfiguren nach seinem Ebenbild. Prometheisch und dionysisch. Es erscheint durchaus konsequent, dass der Tyrann Oedipus selbst immer wieder zum großen Beil greift und seine Lady Jokaste zum schweren Hammer: die Axt im Bühnenhaus erspart wenigstens einen Schlagzeuger und womöglich einen Besuch beim Psychiater. Doing!

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