Wer hat den CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet? Diese Frage schien zunächst geklärt. Stephan E., bei dem die Bundesanwaltschaft von einem rechtsextremen Hintergrund ausgeht, hatte die Tat kurz nach seiner Verhaftung gestanden. Doch dann kam die Wende – wie sein Anwalt, der als Pflichtverteidiger bestellte Markus Hannig, in seinem Youtube-Kanal erklärt:
"Ich habe mich mit dem Mandanten unterhalten. Und mir ist sehr schnell klar geworden, dass das erste Geständnis falsch war."
Hannig steht, während er über den Fall spricht, vor der Justizvollzugsanstalt, vor dem Gefängnis in Kassel, wo Stephan E. in Untersuchungshaft sitzt. Leger gekleidet, in Kapuzenpullover und Winterjacke, verspricht er, auch in Zukunft über den Fortgang des Verfahrens zu berichten .
"So wollen wir den Prozess öffentlich begleiten und so wollen wir ihn auch medial auswerten. Wir denken, dass die Öffentlichkeit ein Recht hat und ein Interesse daran hat, zu wissen, was in diesem Verfahren abgeht und dort passiert."
Grundsätzlich gilt strikte Geheimhaltungspflicht
Aber darf Frank Hannig auf diesem Weg überhaupt über einen laufenden Prozess berichten? Wir zeigen das Video dem Kölner Jura-Professor Hanns Prütting.
"Das ist jetzt natürlich eine Verteidigerstrategie, die, könnte ich mir vorstellen, mit dem Mandanten abgesprochen ist. Also insofern ist das – ob das geschmacklich gut ist, ist ne andere Frage – aber rechtlich sicherlich zulässig, was er da macht, das ist sicherlich möglich."
Prütting ist ein weltweit renommierter Jurist und Autor zahlreicher Standard-Kommentare, zu seinen Fachgebieten gehören das anwaltliche Berufsrecht und das Verfahrensrecht. Grundsätzlich unterlägen Rechtsanwältinnen und -anwälte strengen Schranken, betont der 72-Jährige. Die Bundesrechtsanwaltsordnung sehe eine strikte Geheimhaltungspflicht vor.
"Aber diese Geheimhaltungspflicht bezieht sich natürlich auf Dinge, die er erfahren hat, über die Persönlichkeit seines Mandanten und die der Mandant nicht nach außen getragen haben will."
Genau hier läge die Grenze für den Anwalt: "Also wenn er im Grunde genommen eine andere Version findet, erfindet, wie auch immer. Die dürfte er so nicht ausplaudern, solange er den Mandanten nicht hinter sich hat."
Meist jedoch würde sich der Berufsstand an seine Regeln halten, erklärt Prütting. Allerdings könne das Internet mit seinen Möglichkeiten auch negative Folgen mit sich bringen:
"Ich beobachte an verschiedenen Stellen mit nem gewissen Bedauern, dass neue Medien benutzt werden und dabei – ich will's mal vorsichtig sagen – vorher nicht immer nachgedacht wird, ob das rechtlich zulässig, ob das richtig, ob das vernünftig war."
Internet als Weg zu neuen Mandanten
Eine Art Pionier unter Anwältinnen und Anwälten im Umgang mit neuen Medien ist Christian Solmecke aus Köln. Wer im Internet nach Antworten auf rechtliche Fragen sucht, landet schnell bei ihm.
"Als ich vor zehn Jahren mit YouTube begonnen habe, wurde ich natürlich von den Anwaltskollegen noch ziemlich belächelt. Damals war Youtube eher noch eine Plattform für Kinder und man konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass man darüber auch Geschäft erzeugen kann."
Doch das habe sich geändert: Seine Kanzlei habe über YouTube mehr als 10.000 Mandate akquiriert, sagt Solmecke. Seine neuesten Geschäftsideen und -felder heißen Instagram und Tik Tok. Die Zeiten, in denen sich Anwälte nur ein Schild an die Tür machen mussten, seien vorüber, findet er:
"Man muss schon auf sich aufmerksam machen, wenn man noch an Mandatsgeschäft kommen will."
Und wenn er Mandanten vertrete, gehe es auch darum, öffentlich für sie zu kämpfen. Sich dann auch zu laufenden Verfahren zu äußern, sei ein sensibler Bereich, komme aber auch vor. Auf keinen Fall dürfe er als Anwalt bewusste Unwahrheiten in die Welt setzen. Aber natürlich gehe es auch darum, die Öffentlichkeit in die eine oder andere Richtung zu lenken, räumt Solmecke ein.
"Und da macht's eigentlich keinen Unterschied, ob man sich gegenüber klassischen Medien äußert oder auf den eigenen Kanälen. Wobei es natürlich leichter ist, eine Meinung zu verbreiten auf eigenen Kanälen, denn da gibt’s keinen Journalisten, der das Ganze noch mal gegencheckt und gleich ins rechte Licht rückt."
Die meisten seiner Berufskolleginnen und -kollegen erzielten aber über ihre sozialen Kanäle nicht die Reichweite klassischer Medien.
Prozess-Berichterstattung nur noch über YouTube
Frank Hannig scheint diese Reichweite gar nicht erst zu brauchen. Der Dresdner Rechtsanwalt hat seinen Youtube-Kanal. Dort fragt er sich – aus seiner juristischen Sicht –, ob eine bestimmte Klima-Politik in die Diktatur führe, erklärt, warum auch Reichsbürger Waffen besitzen dürften und, immer wieder, warum er Journalistinnen und Journalisten misstraue.
Unter anderem deshalb ziehe er im Fall seines Mandanten Stephan E., des mutmaßlichen Mörders von Walter Lübcke, diese Konsequenz:
"Ich will erklären, was passiert in einem Prozess von derartigem öffentlichen Interesse. Das ist also der Grund, warum ich mich auf Youtube zurückgezogen habe. Und warum ich auch erklärt habe in einer Pressekonferenz vor Kurzem, dass die Prozess-Berichterstattung aus meiner Sicht nur über Youtube erfolgen wird."
Einzelinterviews zu Prozesstagen werde er deshalb nicht geben, das Verwenden von O-Tönen aus seinen Youtube-Videos, wie in diesem Beitrag, hat er ausdrücklich erlaubt.