Deutschlands Schüler und Lehrer sind flächendeckend im Distanzunterricht. Rufe werden nun lauter, die Wirtschaft stärker in die Pflicht zu nehmen – eine Diskussion, die auch die Jahrestagung des Deutschen Beamtenbundes erreicht hat. Der Ökonom Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, warnt vor zu scharfen Maßnahmen, um die Infektiösität einzudämmen: Strenge Auflagen in Bayern hätten im Vergleich zu den eher lockeren Maßnahmen in Nordrhein-Westfalen kaum einen Unterschied gemacht. Es sei wichtig, genau hinzuschauen und dort, wo Risiken besonders hoch sind, wie in Alten- und Pflegeheimen, besondere Schutzkonzepte zu machen. Das sei nicht flächendeckend passiert.
Philipp May: Sollen wir alles dichtmachen?
Hüther: Nein, um Gottes willen! Wir sollten froh und dankbar sein, dass anders als in dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 die Industrie so robust läuft. Die letzten Konjunkturdaten und Auftragseingänge des Einkaufsmanager-Index zeigen, dass wir hier eine hohe Robustheit haben. Das ist durch die Orientierung auf die Weltmärkte her möglich.
"Vielfältigkeit des Arbeitslebens findet auch jetzt statt"
May: Hohe Robustheit, aber auch hohe Infektionszahlen.
Hüther: Aber nicht die Industrie. Wir haben keine Belege dafür, dass dort, wo Produktion stattfindet, außerhalb der Fleischindustrie – da haben wir die Diskussion im letzten Jahr gehabt -, eine besondere Infektiösität aufgetreten ist. Und dort wo die Wirtschaft Homeoffice machen kann, bietet sie das auch an. Es gibt ja im Übrigen auch seit dem Sommer die Covid-19-Arbeitsschutzregeln. Das heißt, Sie haben in einem Bürogebäude beispielsweise Vorsorge zu treffen, damit man entsprechend wenige Kontakte hat, dass aber die Arbeitsprozesse laufen – dort, wo ein direkter Austausch auch im Persönlichen nötig ist. Das hat ja manchmal mit vertrauensvollen Daten zu tun. Es müssen manchmal Entscheidungen getroffen werden. Es kann auch manchmal sein, dass einer mal einmal die Woche im Haus sein muss. Die Vielfältigkeit des Arbeitslebens findet auch jetzt statt, aber sie findet natürlich ganz überwiegend im Homeoffice statt. Die Debatte ist eine gewisse Scheindebatte, die ablenken soll davon, dass die Politik nicht so richtig mehr weiter weiß.
90 Prozent der Neuinfektionsfälle in Alten- und Pflegeheimen
May: Aber wenn Sie sagen, nicht in der Industrie, wir haben keine Beweise dafür, das ist ja das gleiche Argument, das zum Beispiel auch die Restaurantbesitzer anführen. Die sagen, es gibt auch keine Beweise dafür, dass sich die Leute in den Restaurants anstecken. Es gibt auch keine Beweise dafür, dass sich die Kinder in den Schulen anstecken und das dann weitertragen. Am Ende des Tages ist ja das Problem, dass wir überhaupt nicht wissen, wo sich die Leute anstecken, oder nicht so wirklich anstecken, und dann bleibt am Ende nur noch die Option, alles runterzufahren.
Hüther: Nein, die bleibt nur dann, wenn man am Anfang einer solchen Situation ist. Das war der März 2020. Das was Sie beschreiben, ist ja der Politik auch vorzuwerfen. Wir haben im Expertenrat Corona der Landesregierung in NRW früh darauf hingewiesen, dass man parallel dazu Analysen und Forschungen vorantreiben muss, empirische Befunde über das Infektionsgeschehen. Schauen Sie, wenn wir wüssten, was einen Neuinfektionsfall kennzeichnet, außer Alter und Geschlecht, wenn wir den Beruf wüssten, wenn wir Arbeits- und Wohnort kennen und den Familienstand, könnte man über eine Datenauswertung ganz andere Kenntnisse haben. Wir wissen aber auch, beispielsweise in Berlin und Schleswig-Holstein, dass 90 Prozent der Neuinfektionsfälle in Alten- und Pflegeheimen stattfinden. Und es gilt unverändert in hoher Robustheit, dass 88 Prozent der Todesfälle 70 Jahre und älter sind, 68 Prozent 80 Jahre und älter. Das zeigt ja doch, dass es offenkundig keine Gleichverteilung der Risiken gibt, und deshalb ist es so wichtig, dass wir auch differenzierte Antworten finden. Ich kann jeden Gastronomen, ich kann auch jeden Hotelier und auch jeden Einzelhändler verstehen, wenn er sagt, ich verstehe es auch nicht mehr, was wir da machen, denn das, was uns die Infektiologen ja auch sagen, ist, dass wir gar keine Chance haben, im Winter überhaupt eine Inzidenz von 50 zu erreichen.
Nicht am Anfang der Pandemie - "wir sind zehn Monate danach"
May: Einige sagen das. Andere sagen, es ist schon möglich.
Hüther: Nee, nee, nee, nee, nee! Die überwiegende Zahl ist ja der Vergleich mit anderen Atemwegserkrankungen und dieser Vergleich mit Atemwegserkrankungen zeigt, dass Sie einfach im Winter eine ganz andere Dynamik haben. Warum tun wir das? – Wir tun das alles, damit die medizinischen Kapazitäten, vor allen die intensivmedizinischen Kapazitäten ausreichen, und das tun sie. Dass man gelegentlich regional unterschiedliche Entwicklungen hat und dass wir in Sachsen einen Hotspot haben, dass wir in Bayern einen Hotspot haben, das sind ja Dinge, die man zur Kenntnis zu nehmen hat. Aber das heißt ja nicht, dass man nur noch die Antwort hat, alles runterzufahren. Wir sind nicht im Anfang der Pandemie, sondern wir sind zehn Monate danach.
"Schutzkonzepte für dort, wo die Risiken besonders hoch sind"
May: Trotzdem sinken die Infektionszahlen nicht. Im Gegenteil! Es scheint eher so zu sein, als würden die Infektionszahlen weiter steigen. Was wäre denn Ihre differenzierte Antwort?
Hüther: Wir sollten einfach mal ein paar Befunde zur Kenntnis nehmen. Es ist ja nicht so, dass dort, wo es den schärferen Lockdown immer gegeben hat, beispielsweise in Bayern, die Inzidenz auf 100.000 besser ist als in Nordrhein-Westfalen, wo 18 Millionen Menschen wohnen, wo wir aber eine etwas lockerere Regelung hatten oder etwas weniger einschränkende. Das heißt, auch mal genau hinzuschauen und dann wirklich sich die Mühe zu machen, dort, wo die Risiken besonders hoch sind, in Alten- und Pflegeheimen, besondere Schutzkonzepte zu machen. Auch das ist schon im Sommer vom Corona-Expertenrat mit in diesen Überlegungen gewesen zu sagen, wir müssen dafür Antworten finden. Das hat man auch teilweise gemacht, aber nicht flächendeckend.
Wir hätten längst die EDV-Ausstattung und die IT-Vernetzung der Gesundheitsämter vorantreiben müssen. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten haben mit der Bundeskanzlerin beschlossen, bis Jahresende sollen 90 Prozent der Gesundheitsämter digital vernetzt sein. Nichts davon ist passiert. Unsere Corona-Warn-App ist im Grunde eine Investitionsruine. Das heißt, all die großen Dinge, die angekündigt wurden, wo man auch Beschlüsse gefasst hat, das ist nie nachgehalten worden. Dann kann doch am Ende des Tages nicht die Ableitung sein, dass man alles einfach dichtmacht, sondern wir brauchen auch dann noch die Kraft zu differenzierenden Entscheidungen, zumal wir in einer Situation sind, wo die Impfung begonnen hat.
Von besonderer Infektiösität in Büros, der Industrie "nirgends gehört"
May: Verstehe ich! Aber nichts desto trotz: Am Ende des Tages ist das, was Sie jetzt sagen, alles "hätte, hätte, Fahrradkette". Wir sind jetzt nun mal in der Position oder in der Situation, in der wir sind, die im Prinzip, was das Pandemie-Geschehen angeht, ja auch deutlich schlimmer ist, als wie sie im April war.
Wenn sich jetzt zum Beispiel alle Leute zwei Wochen zuhause verbarrikadieren, ist die Pandemie vorbei, überspitzt formuliert natürlich. Die Frage dahinter ist ja: Kurz und heftig, ist das am Ende nicht vielleicht besser, als wenn sich das jetzt so, wie es momentan läuft, bis weit in den Februar hinein hinzieht?
Hüther: Erstens haben wir massive Eingriffe. Die Schulen sind weitgehend geschlossen. Wir haben jetzt einen harten Lockdown hinter uns. Und all das, was gemacht wurde, haben uns die großen Mathematiker mit ihren Modellen als richtig und hinreichend beschrieben. Dann würde das schon wirken. Auch das fragt keiner mehr nach.
Wir haben nur noch die Antwort zuzumachen, und zwar flächendeckend. Das ist aber nicht die Antwort, sondern wir müssen auch jetzt den Mut haben zu gucken, bessere und umfassendere Schutzkonzepte für Alten- und Pflegeheime, beschleunigtes Impfen, und dann zu schauen, zu lernen, wo denn die Hygiene-Konzepte auch gewirkt haben. Ich habe bisher nirgends gehört, dass wir in den normalen Büroliegenschaften, auch in den sonstigen Produktionseinheiten der Industrie einen Befund haben, dass das besondere Infektiösität mit sich gebracht hat. Die Unternehmen haben ja darauf reagiert.
Auch ein Institut wie das Institut der Deutschen Wirtschaft hat seit November Homeoffice und seit Dezember die Devise, bleibt zuhause, und trotzdem sind immer wieder Bedarfe da und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen, wo habe ich mein Problem, wenn ich mit dem Auto hinfahre, gehe ins Gebäude, habe dort gesicherte Arbeitsverhältnisse und habe mehr Ruhe als zuhause, habe überhaupt einen Arbeitsplatz, den ich zuhause vielleicht gar nicht habe. Diese Eindimensionalität des politischen Denkens, die sollten wir uns jetzt nicht mehr gestatten. Das kann nicht sein und wir kommen ja mit den intensivmedizinischen Kapazitäten zurecht, und es ist auch nicht so, dass alles permanent nur ansteigt, sondern wir haben offensichtlich ein Plateau erreicht mit diesen 25.000 oder einer Inzidenz von 137. Wir werden – das sagen die Infektiologen – kaum unter die 100 kommen können, und dann ist die Frage, was ist der Preis, den wir dafür zahlen. Die Aussagen, zwei Wochen helfen, das haben wir schon oft gehört, haben aber bisher nicht wirklich den Ertrag gebracht. Und noch mal: Wir können uns ja Länder anschauen, Bundesländer, die schärfer eingegriffen haben. Wir können uns auch andere Länder in Europa anschauen, die schärfer eingegriffen haben und auch nicht nachhaltig unter die 100 gekommen sind.
Wirtschaft dort aufrecht halten, wo sie hohe Wertschöpfungsbeiträge hat
May: DGB-Chef Hoffmann, der fordert jetzt ein Recht auf Homeoffice. Ist das auch eine eindimensionale Forderung?
Hüther: Na ja, gut. Was hat das jetzt für eine Hilfe? Ich meine, die Beschäftigten haben diese Homeoffice-Freiheit in dieser Situation. Dort, wo es überall möglich ist - ich habe nichts anderes darüber gehört -, wird dies auch offeriert. Das kann ich halt nicht in jedem Arbeitsplatz. Im Einzelhandel geht es ja auch nicht, im Lebensmittel-Einzelhandel, wo wir froh sind, dass wir ihn offen haben. Die Lieferdienste können nicht vom Homeoffice betrieben werden. Das heißt, bestimmte Dinge finden auch statt. Aber dort, wo Büromöglichkeiten da sind, habe ich nirgends gehört, dass das nicht genutzt wird. Und es ist ja vielleicht auch mal zu fragen, ob die Bundes- und Landesministerien eigentlich alles tun, was sie tun könnten, mit ihren Homeoffice-Möglichkeiten. Wenn ich mir das in Berlin anschaue - die Bundestagsverwaltung beispielsweise hinkt weit hinterher. Wir haben einige Ministerien, die es können.
Es hilft alles nichts, jetzt gegeneinander anzutreten, sondern Homeoffice ist eine Entscheidung in den Unternehmen. Und wir können Unternehmen nicht nur von zuhause betreiben. Das hat was mit Innovationsfähigkeit zu tun und mit Unternehmenskultur, wie wir miteinander umgehen. Wir leben dabei von der Substanz mittlerweile, wenn wir uns so lange nicht persönlich sehen. Auch das ist ein Preis und deswegen: Auf der einen Seite Wirtschaft dort aufrecht zu halten, wo sie hohe Wertschöpfungsbeiträge hat und die Finanzierung all der Maßnahmen möglich macht, und sehr gezielt dann zu schließen an den Stellen, wo wir Befunde haben, dass es Probleme auslöst. Aber dann müssen wir wirklich genauer hinschauen und ich kann es auch nicht hinnehmen, dass wir immer nur sagen, das haben wir bisher nicht gemacht. Dann müssen wir es halt jetzt machen. Die Daten sind kein großes Problem, die zu erheben.
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