Mario Dobovisek: Am Abend habe ich über die Förderung strukturschwacher Regionen mit Heinz-Josef Bontrup gesprochen. Er ist Wirtschaftswissenschaftler an der Westfälischen Hochschule in Recklinghausen. Ich habe ihn gefragt, ob er Recklinghausen und das Ruhrgebiet darum herum heute als strukturschwache Region bezeichnen würde.
Heinz-Josef Bontrup: Das Ruhrgebiet hat sicherlich in den letzten Jahren massiv gelitten. Der Strukturwandel ist in vielen Städten des Ruhrgebiets – so muss man es, glaube ich, formulieren – nicht richtig gelungen. Ich denke da auch an Recklinghausen, ich denke auch an Gelsenkirchen, da wo meine Hochschule zuhause ist. Da kann man sicherlich sagen, da ist einiges im Argen. Da ist der Strukturwandel, der bitter notwendig ist, nicht so richtig gelungen.
Dobovisek: Warum nicht?
Bontrup: Ja, warum nicht? Das ist eine gute Frage. Wenn man das genau wüsste, dann könnte man das ja schnell abstellen. Aber so einfach ist das nicht. Wir haben insgesamt in Deutschland ja viele abgehängte Regionen. Wir haben viele abgehängte Städte. Das gilt auch nicht nur für Ostdeutschland, obwohl da ja viel nach der Wende auch investiert worden ist. Wir haben das genauso in den alten Bundesländern. Dort gibt es auch mittlerweile verarmte Regionen, so muss man wohl sagen, und ich habe auch eine einfache Erklärung dafür. Wir sind zu lange dem neoliberalen Paradigma aufgesessen, obwohl ich immer dagegengehalten habe, der Markt regelt alles, lasst den Markt mal nur machen, der Staat ist was ganz Böses, der Staat soll nicht intervenieren. Dann bekommt man am Ende solche Ergebnisse. Das sind Marktergebnisse, die wir jetzt haben, und ich finde das immer ein bisschen merkwürdig, wenn das auf einmal die Politik erkennt. Viele Wissenschaftler haben das schon seit langem gesagt und dazu gehöre ich auch.
Dobovisek: Erkennen Sie denn nach den Äußerungen der Bundesminister heute tatsächlich ein Umdenken in der Strukturförderung, weg auch vom reinen Aufbau Ost?
Bontrup: Wenn der Innenminister Seehofer da sagt, wir haben hier keine Milliarden jetzt versprochen, dann zeigt das, dass das alles nur Lippenbekenntnisse sind. Die Milliarden sind notwendig. Die müssen investiert werden und die werden aus der privaten Wirtschaft heraus nicht kommen. Ein Unternehmen geht nun mal da nicht hin, wo keine Produktrate lockt. Das ist völlig klar. Das ist eine naive Vorstellung der Bundesregierung, dass man hier auf Appelle setzen kann. Nein! Der Staat muss endlich …
"Das muss der Staat machen. Sonst sind das Lippenbekenntnisse"
Dobovisek: Aber ist es vielleicht genauso naiv, auch zu sagen, dass die Politik dann so viel Geld in die Hand nehmen könnte, um da wirklich tatkräftig gegenzusteuern?
Bontrup: Ja, das muss der Staat machen. Sonst sind das Lippenbekenntnisse. Das kann ich nur noch mal ganz dick unterstreichen. Da frage ich mich allerdings vor dem Hintergrund, wie wir Politik machen mittlerweile, nicht nur in Deutschland, in ganz Europa: Politik restringiert sich selbst über die Schuldenbremse. Der Staat ist ja quasi handlungsunfähig. Er kann ja gar nicht mehr ausgeben. Er kann sich nicht mehr verschulden, obwohl das heute in jedem, ich hätte fast gesagt, Lehrbuch, in jedem drittklassigen Lehrbuch steht, dass der Staat nun mal in die Märkte intervenieren muss, dass der Staat nicht nur Rahmenbedingungen setzen kann. Das reicht einfach vorne und hinten nicht aus, und das sehen wir auch insgesamt an der Wirtschaftspolitik. Die EZB macht eine richtige Geldpolitik. Sie hat das Geld verbilligt und trotzdem wird nicht investiert. Der Staat könnte investieren. Wir haben Negativzins und trotzdem tut der Staat es nicht und pocht auf eine Schuldenbremse.
Insofern bleibe ich dabei: Das was da heute vorgestellt worden ist in Berlin, das sind Lippenbekenntnisse.
"Das ist barer ökonomischer Unsinn"
Dobovisek: Hinter der Schuldenbremse steckt ja auch die Idee, unseren Kindern nicht noch mehr Schulden zu hinterlassen. Eher eine Frage der besseren Verteilung vorhandener Mittel?
Bontrup: Das ist barer ökonomischer Unsinn. Sehen Sie, wenn der Staat heute investiert und das auf Kredit macht, zum Beispiel in Sachen Umwelt, dann sind ja gerade die zukünftigen Generationen die Profiteure. Das heißt, die Verschuldung ist das richtige Instrument, um alle, die heutigen mitzunehmen und an der Finanzierung dieses Gutes zu beteiligen und auch die Zukünftigen.
Dobovisek: Müssen wir uns da vielleicht an den Gedanken gewöhnen, dass es weiter eine Art Soli geben wird, einen Soli vielleicht, den Menschen in wohlhabenden Regionen zahlen, um strukturschwachen zu helfen?
Bontrup: Letztlich bleibt die Strukturfrage eine Verteilungsfrage. Wir haben eine völlige Schieflage in der Verteilung in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland, aber jetzt sind wir hier in Deutschland, beim Einkommen und vor allen Dingen auch beim Vermögen.
"Die Reichen wissen doch gar nicht mehr wohin mit ihrem Geld"
Dobovisek: Welche Kriterien sollte es denn geben für diese Verteilung?
Bontrup: Wir müssen die Überschuss-Liquidität, die nun mal da ist, anlegen. Die Reichen wissen doch gar nicht mehr, wohin mit ihrem Geld. Sie können es doch gar nicht mehr anlegen. Sie finden keine Verzinsung und jammern dann darüber, weil zu viel umverteilt worden ist von unten nach oben. Die abhängig Beschäftigten – ich habe es ausgerechnet – haben 1,8 Billionen Euro verloren seit der Wiedervereinigung an Einkommen. Das ist zu den Reichen und Vermögenden geflossen. Man wundert sich, dass da Regionen absterben. Das ist doch völlig klar: Das ist doch nur eine ökonomisch logische Folge.
Dobovisek: Das heißt, Sie wollen Reiche besser oder stärker besteuern, auf die Gefahr hin, dass die dann das Land verlassen?
Bontrup: Ja, dann sollen die das Land verlassen. Sie werden das Land nicht verlassen. Das sind alles nur hohle Drohungen, die da ausgesprochen werden, die überhaupt nicht zielführend sind. Nein, wir brauchen in der Tat eine gigantische Umverteilung, nicht nur in Deutschland. Wir brauchen eine völlig andere Steuerpolitik, um dieses Geld sinnvoll, auch um bessere Lebensverhältnisse, um gleiche – so steht es auch in der Verfassung -, einigermaßen gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland zu machen. Und wir sehen ja wohl, welche politischen Implikationen das hat, wenn Politik weiter so versagt, wie sie versagt seit Jahrzehnten, hätte ich fast gesagt, unter dem neoliberalen Paradigma. Damit muss Schluss gemacht werden, das erwarte ich.
"Das ist eine Sprechblasen-Politik. Da ist nichts hinter"
Dobovisek: Dann kommen wir noch mal zu den gleichwertigen Lebensverhältnissen. Unser Plan für Deutschland, steht in großen Lettern auf dem Pappschild, das die drei Minister heute in die Kameras gehalten haben. Gleichwertige Lebensverhältnisse überall, der Untertitel. Am Ende gleichwertige Lebensverhältnisse in Pirow in der Prignitz und in Berlin-Mitte mit Zugang zu Krankenhäusern, Internet, Schulen, Arbeitsplätzen, Bussen, Bahnen und so weiter und so fort. Ist das überhaupt realistisch?
Bontrup: Das sind hohle Sprechblasen. Das ist eine Sprechblasen-Politik. Da ist nichts hinter. Das verlangt massive Investitionen und da frage ich als Ökonom sofort, wenn ich identifiziert habe – das gilt genauso auf der einzelwirtschaftlichen Ebene für jedes Unternehmen -, ich muss investieren, dann stellt sich danach sofort die Finanzierungsfrage. Wir brauchen einen Staat, der diese Infrastruktur bereitstellt und der sogar auch öffentliche Beschäftigung schafft. Das wird von selbst nicht kommen. Die private Wirtschaft macht das nicht. Jeder private Unternehmer arbeitet nur nach der Profitfunktion. Der fragt, wenn ich investiere, mache ich damit Profit und wie schnell kommt das Geld, das ich für eine Investition ausgebe, wie schnell fließt das zurück. Das funktioniert deshalb nicht und deshalb haben wir leider Regionen in Deutschland, die von Niedergang und von Elend gekennzeichnet sind.
Dobovisek: Und genau da sagen Ihre Kollegen vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, dass das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse unrealistisch und falsch sei. Sie schlagen vor, das Geld vor allem in die Städte zu stecken und dann tatsächlich auch Regionen abgehängt zu lassen. Ist das ein realistischer Weg zumindest für die Jahre, in denen wir jetzt stecken?
Bontrup: Das ist ja eine Bankrotterklärung, was die Kollegen da aussprechen. Ja, es mag sein, ich will das nicht ausschließen, dass wir den Punkt, den Zenit überschritten haben, dass es bereits längst zu spät ist, um diese Förderung wirklich noch flächendeckend zu machen, dass man dann wirklich den ländlichen Raum aufgeben muss, weil man in der Vergangenheit – das kann ich nur noch mal dick unterstreichen – ein völliges Politikversagen hatte. Die hat das zu verantworten. Man muss doch mal endlich erkennen, dass dieses Experiment des Neoliberalen völlig gescheitert ist.
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