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"Österreich ist noch immer ein Kakanien"

Österreich feiert 2005 60 Jahre Unabhängigkeit der zweiten Republik, 50 Jahre Unterzeichnung des Staatsvertrages und zehn Jahre EU-Mitgliedschaft. Der Staatsvertrag sei dabei für Österreich mit dem Eintritt in die EU vergleichbar, so der ungarische Publizist Paul Lendvai.

Moderation: Rainer-B. Schossig |
    Rainer-B. Schossig: Unser Nachbarland Österreich ist in diesem Jahr im dreifachen Jubiläums- und Erinnerungsfieber: 1945, vor 60 Jahren, Wiedergeburt Österreichs nach dem Ende des Dritten Reichs - wenn auch noch unter alliierter Besatzung - und seit zehn Jahren, seit 1995, ist Österreich Mitglied der Europäischen Union. Aber das bedeutendste Jubiläum - auf den Tag genau jährt sich heute die Unterzeichnung des Staatsvertrags, mit dem die zweite österreichische Republik, am 15. Mai 1955, aus der Taufe gehoben wurde. Ebenso wie damals alle Außenminister der Alliierten zur feierlichen Vertragsunterzeichnung ins Schloss Belvedere gekommen waren, so haben sich auch heute wieder die Außenamtschefs der USA, Frankreichs angesagt und Russlands, und England ist immerhin mit einer hochrangigen Delegation vertreten, um diesen historischen Tag Österreichs gebührend zu begehen. Ich habe vor der Sendung mit Paul Lendvai in Wien gesprochen. Er ist 1929 in Budapest geboren, er lebt seit 1957 als Publizist in Wien und ist Herausgeber und Chefredakteur der bekannten Zeitschrift "Europäische Rundschau". Und ich habe ihn zunächst gefragt: Herr Lendvai, sind Sie Zeitzeuge, Sie sind Zeitzeuge dieses denkwürdigen Ereignisses 1955 und Ihre Zeitschrift hat diesem Datum eine Sondernummer gewidmet. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag?

    Paul Lendvai: Ja ich habe vor mir die Ausgabe der Zeitung "Die Presse" vom 15. Mai 1955, und es war wirklich die Stadt im Banne des großen Ereignisses, Jubel umbraust das Schloss des Prinz' Eugen, Schönbrunn in feenhafter Beleuchtung, Festbankett und Galaempfang, Festtagsstimmung auch bei strömendem Regen. Das Einzige, was damals vielleicht die Stimmung in Belvedere beeindruckt hat, dass der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotov nicht drei Minuten gesprochen hat, wie das mit den anderen vereinbart war, sondern 15 Minuten. Aber diesen Preis der zusätzlichen zwölf Minuten, glaube ich, hat man gerne bezahlt.

    Schossig: Herr Lendvai, war man damals in Wien und in Österreich der - wie sich ja heute herausgestellt hat - irrigen Auffassung, man könne damals schon einen Schlussstrich zur Vergangenheit ziehen?

    Lendvai: Also, ich glaube, man hat diesen Schlussstrich unter die Vergangenheit, Sie meinen die NS-Vergangenheit, eigentlich schon vorher gemacht, weil man immer von der Opfer-Theorie ausgegangen ist. Eine Theorie, die nicht hier erfunden wurde, sondern 1943 im berühmten "Moskauer Memorandum" der Alliierten festgestellt wurde. Aber in Wirklichkeit war dieser Schlussstrich in dem Sinne, dass man die ganze Geschichte, die Mitschuld, die Mitverantwortung - nicht des Staates, weil der Staat nicht existiert hat, sondern der Österreicher - verdrängt hat, obwohl in der ersten frei gewählten österreichischen Regierung unter Leopold Figl von 17 Mitgliedern 13, einschließlich des Kanzlers, ehemalige KZ-Häftlinge waren.

    Schossig: Man hat diese Theorie von dem "reinen Opfer" Österreichs und eben des Verschweigens oder Nichtsehens der Mittäterschaft der Österreicher als Lebenslüge der Zweiten Republik bezeichnet. Wie hat sich das auf diese erste Phase der österreichischen Republik ausgewirkt?

    Lendvai: Danach hat man das eigentlich - ich würde sagen - total verdrängt. Zwei Punkte dieses Staatsvertrages, die sich mit der Bewältigung der Vergangenheit in dem Sinne Wiedergutmachung an die Opfer beschäftigt haben und den Rechten der Minderheiten aus der Linie der slowenischen Minderheit in Kärnten, diese zwei Punkte hat man jahrzehntelang in die Länge gezogen, nicht wirklich verwirklicht, erst in den letzten Jahren. Hier waren sicherlich, zum Teil wegen der Opfer-Theorie, Versäumnisse, aber vergessen Sie auch nicht, dass 1945 zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt war nur 60 Prozent jenes vor Kriegsbeginn, also '37, und man war vollauf mit dem Wiederaufbau und dann natürlich mit den "goldenen Zeiten" des Wirtschaftswunders beschäftigt.

    Schossig: Dieses Wirtschaftswunder, Herr Lendvai, hatte das auch mit dem Staatsvertrag zu tun? War da sozusagen, brachen da neue Zeiten an? Was hat dieser Staatsvertrag - und ich glaube, man kann ihn ja heute zu Recht durchaus feiern, nach 50 Jahren - was hatte er mit diesem Wirtschaftsaufschwung zu tun?

    Lendvai: Insofern - ich habe die erste Biografie des vielleicht größten österreichischen Staatsmannes, zumindest nach meiner Meinung, Bruno Kreisky geschrieben, der als Staatssekretär in Moskau war - und der schreibt in seinen Memoiren, das war der glücklichste Tag seines Lebens. Das war immerhin nach sieben Jahren Krieg und Anschluss, nach zehn Jahren Besatzung, ein unglaubliches Gefühl der Befreiung, dass man zum ersten Mal wirklich Herr im eigenen Lande ist. Und das gab natürlich dieser ganzen Entwicklung einen unglaublichen Auftrieb, was die Investitionen, was das Selbstbewusstsein betrifft und was die Stellung betrifft. Noch etwas: Obwohl die Schweiz das Vorbild war, Österreich trat schon im Dezember 1955 den Vereinten Nationen bei. Also es war von Anfang an eine aktive Neutralität, aber es waren auch natürlich Befürchtungen. Mir hat zum Beispiel Kreisky selbst erzählt, dass der britische Botschafter ihn gefragt hat: "Wie lange wird das dauern?". Man hat doch noch Angst gehabt, was noch in diesem Teil der Welt passieren könnte. Aber was die Österreicher betrifft, war der Staatsvertrag in seiner Art, Werdegang, Bedeutung vielleicht mit dem Eintritt in die EU - manche meinen, ich auch, das war auch sehr, sehr wichtig vor zehn Jahren - kann man vergleichen, jedenfalls es war ein Fanal, dass Österreich jetzt wirklich eine echte Chance hat.

    Schossig: Noch mal von den "goldenen Zeiten" zurück zu den unangenehmen Erinnerungen, zurück zum Erinnern - was uns ja auch in Deutschland in diesen Tagen und Wochen sehr stark beschäftigt: Dieser Staatsvertrag sah ja das Verbot von NS-Organisationen und Bestrafung von NS-Tätern vor. Dennoch, die Entnazifizierung war ja zuvor schon eine Art Zeitraffer-Farce gewesen. Wie kommt es, dass bis heute eigentlich sich Leute in der staatlich-österreichischen Institutionen-Landschaft, wie Schüssel das neulich nannte, tummeln, die ideologisch eigentlich ganz eng im Dunstkreis der Auschwitzlüge stehen?

    Lendvai: Ich habe mir erlaubt, ich habe die große Ehre gehabt, eine Festrede - obwohl ich Hinzugereister bin -, eine Festrede im Landtag, im steirischen Landtag in Graz vor einigen Tagen, vor drei Tagen zu halten in Anwesenheit des Bundespräsidenten und des Diozösanbischofs Kapellari, und ich habe selber dort gesagt, dass es eigentlich unglaublich ist, dass 2005 es noch Leute gibt, die eben die Gaskammer, Holocaust infrage stellen, und ich habe auch darüber gesagt, das ist natürlich eine unfassbare Dummheit, die vielleicht auch das Böse erklärt. Es war, viel zu lange war hier eine, sagen wir, versöhnlichere Haltung als in der Bundesrepublik. Ich glaubte, trotz allem, in dieser Hinsicht hätte Österreich mehr von der Bundesrepublik lernen können, aber da muss man auch bedenken, dass Österreich nicht nur ein besetztes Land war, sondern es war auch eben diese Lebenslüge, wie Sie erwähnt haben, die Opfer-Theorie, dass man nur das gesehen hat, dass man Opfer war und nicht das, dass sehr aktiv auch Österreicher ad personam, wenn Sie so wollen, von Kaltenbrunner bis Seyß-Inquart und natürlich Hitler da beteiligt waren. Und das ist aber vorbei, zum Beispiel im Fernsehen war eben jetzt eine vierteilige Geschichte von Hugo Portisch, wo auch die hässliche Fratze der Verdrängung, der Lügen, alles aufgezeigt wurde. Also ich glaube, das sind heute nur Ausnahmen, aber gleichzeitig muss man weiterhin die Aufklärung fortsetzen, denn nach einer Umfrage glauben noch immer - angeblich - 44 Prozent der Befragten, dass der Nationalsozialismus auch gute Seiten gehabt habe.

    Schossig: Herr Lendvai, Sie sind gebürtiger Ungar, Sie bezeichnen sich in Ihren Erinnerungen als einen Mitteleuropäer und Sie geben eine Zeitschrift heraus, die heißt "Europäische Rundschau", schon seit vielen Jahrzehnten. Wo ist Ihrer Ansicht nach das einstige Kakanien, die einstige Ostmark, wie sie in der NS-Zeit hieß, wo in Europa ist also Österreich heute politisch angesiedelt?

    Lendvai: Ich glaube, dass Österreich heute im Herzen Mitteleuropas ein Beispiel ist, was die Menschen aus einer schwierigen Lage machen können, ein Beispiel dafür auch, was für schwere Bürden man tragen muss, wenn man nicht in und mit der Wahrheit leben will. Ich glaube, Österreich in diesem Sinne, im Musil'schen Sinne, ist noch immer ein Kakanien, aber zugleich, würde ich sagen - vielleicht bin ich befangen -, ein sehr lebenswertes und liebenswertes Kakanien.