Allem Anfang wohnt ein Zauber inne: Als Christian Kern im Mai 2016 seinen glücklosen Vorgänger Werner Faymann als Bundeskanzler ablöste, betörte der smarte Neo-Politiker das Publikum mit seinen passgenau geschnittenen Slim-Fit-Anzügen und mit erfrischend unkonventionellen Wortmeldungen. Auf die wenig mitreißende Performance der Großen Koalition in Wien angesprochen, meinte Kern damals:
"Wenn wir dieses Schauspiel weiterliefern, ein Schauspiel der Machtversessenheit und der Zukunftsvergessenheit, dann haben wir nur noch wenige Monate bis zum endgültigen Aufprall. Wenige Monate, bis das Vertrauen und die Zustimmung in der Bevölkerung restlos verbraucht sind. Ich kann ihnen sagen, mir ist es so gegangen wie Ihnen. Nach jeder Pleite, nach jeder Panne, nach jeder Niederlage zu hören: Wir müssen in den Gremien beraten und die Leute da draußen und ich weiß nicht, was für Formeln es alle gibt. Mir ist es genauso gegangen wie Ihnen als Staatsbürger. Ich konnte das schlicht und einfach nicht mehr hören."
Solche Töne hatten die Österreicherinnen und Österreicher bis dato nicht vernommen, zumindest nicht aus dem Mund eines Bundeskanzlers. Die Folge: Christian Kerns Umfragewerte schnellten nach oben. Wo immer der unkonventionelle Sozi auftrat, rissen sich die Leute um Autogramme und Selfies mit dem neuen Hoffnungsträger der österreichischen Sozialdemokratie.
Sozialdemokratie links der Mitte
Der Wiener Publizist Robert Misik - er schreibt unter anderem für die "taz" und den Wiener "Falter" - ist mit Christian Kern seit Jahrzehnten befreundet. Misik legt das im Vorwort seines Buchs auch unmissverständlich offen, insofern überrascht es nicht, dass in seiner Biographie ein sympathisierender Tonfall überwiegt, ohne dass der Autor in plumpe Hagiographik verfiele.
"Politisch steht Christian Kern für die Neuformulierung einer sozialdemokratischen Idee links der Mitte. Dabei ist er aber nicht so links wie Corbyn und Sanders. Dabei geht er an die Grenze dessen, was als amtierender Kanzler möglich ist."
Robert Misik beschreibt den Lebensweg Christian Kerns anschaulich und unter Einarbeitung zahlreicher farbiger Details. Wir erfahren, dass Österreichs Kanzler als kleiner Leute Kind im Wiener Arbeiterbezirk Simmering aufgewachsen ist; dank der Kreisky'schen Bildungspolitik konnte er das Gymnasium besuchen. In jungen Jahren engagiert sich Kern bei der katholischen Jungschar, später, als Jugendlicher begeistert er sich für die Theorien des klassischen Anarchismus.
Der Aufstieg in der Partei
Ein Buch des undogmatischen Wiener Sozialdemokraten Günther Nenning bringt den ambitionierten jungen Mann aus der Vorstadt zurück in den Schoß von Mutter Sozialdemokratie. Der Publizistik-Student schließt sich dem SPÖ-Studentenverband an und heiratet jung. Nach der Trennung von seiner ersten Frau sorgt Kern einige Jahre lang als Alleinerzieher für Sohn Niko, ein biographisches Detail, mit dem der 51-Jährige bis heute Punkte vor allem bei der weiblichen Wählerschaft sammelt.
Bevor er zum Kanzler und SPÖ-Vorsitzenden aufsteigt, legt Kern in den 2000er- und 2010er-Jahren eine steile Karriere als Spitzenmanager im staatsnahen Bereich hin, im Energiesektor und als Vorstandsvorsitzender der "Österreichischen Bundesbahnen", denen er einen erfolgreichen Modernisierungskurs verpasst. In Misiks Buch beschreibt Kern seine Lebens- und Arbeitsphilosophie so:
"Mittelmäßige Manager geben die paar Stunden nicht, die zusätzlich noch nötig sind, um wirklich gut zu sein. Die investieren diese Arbeit eben nicht. Sie werden selbstgefällig, sitzen im Büro und denken, ich weiß eh schon alles. Aber ein Unternehmen kannst du nicht elegant auf der Kommandobrücke führen. Du musst auch selber Kohle schippen."
Vor der Parlamentswahl
Als Spitzenrepräsentant der österreichischen Sozialdemokratie steht Christian Kern vor einer schweren, wenn nicht unlösbaren Aufgabe: Er muss die liberalen Mittelschichten ebenso dazu bringen, ihr Kreuzchen bei der SPÖ zu machen, wie das nach rechts und rechtsaußen drängende Proletariat.
"Diese Aufgabe ist natürlich lösbar, aber nicht mit der Golden Ballad, also mit einer einfachen Lösung. Dafür braucht es eine ganze Reihe von Maßnahmen. Ich glaube überhaupt, dass Kern von seinem Habitus, von seiner ganzen Body Language für eine linksliberale Modernisierungs-Sozialdemokratie steht. Aber gleichzeitig weiß er natürlich auch, dass die Sozialdemokratie in den Vorstädten, in den Gemeindebauten, bei den einfachen Leuten punkten muss."
"Wir müssen uns öffnen, wir müssen die Fenster aufmachen, und wir müssen frische Luft hereinlassen. Die Sozialdemokratie in Österreich war immer dann erfolgreich, wenn sie sich für den sozialen Ausgleich und für Aufstiegschancen von normalen, einfachen Leuten einsetzt. Wenn sie sich als Kraft der Modernisierung verstanden hat."
Ein Wahlkampfskandal lastet schwer auf der SPÖ
Zur Zeit kämpft Christian Kern allerdings weniger um die Modernisierung der Sozialdemokratie, als mehr mit hausgemachten Problemen. Als Wahlkampfhelfer heuerte er den mit allen 'Abwassern' moderner Polit-Manipulation gewaschenen israelischen Berater Tal Silberstein an. Im Sommer 2017 wanderte Silberstein im Zusammenhang mit windigen Geschäften in Guinea wegen Geldwäsche und Betrugs für einige Tage in ein israelisches Gefängnis. Die SPÖ löste den Vertrag mit ihm auf. Wenige Wochen später wurde ruchbar, dass der israelische Berater mit SPÖ-Geldern offenbar auch gefakte Facebook-Seiten erstellt hat, in denen der ÖVP-Kanzlerkandidat Sebastian Kurz angegriffen wurde. Die Folge: ein unerhörter Skandal, der den österreichischen Wahlkampf nun überschattet.
Christian Kern, der von Silbersteins Aktivitäten nichts gewusst haben will, geriet in Erklärungsnotstand. Plötzlich redete niemand mehr über den von ihm entworfenen "Plan A", mit dem er Österreichs Gesellschaft gerechter, sozialer und moderner machen möchte. Kern will die Vorfälle aufklären lassen, während er im Wahlkampf unermüdlich weiter seine Inhalte trommelt.
"Ich glaube, dass es vielleicht sogar ein Vorteil ist: Jetzt sieht man den Kanzler als einen, der kämpft. Ich glaube, dass das die Leute auch beeindruckt."
Robert Misik hat einen Amtsträger gekonnt, wenn auch parteiisch proträtiert. Ob seine Christian Kern-Biographie auch in Zukunft Absatz finden wird, hängt vom Ergebnis der österreichischen Parlamentswahlen am kommenden Sonntag ab.
Robert Misik: "Christian Kern - Ein politisches Porträt"
Residenz-Verlag, Salzburg, 191 Seiten, EUR 22 Euro.
Residenz-Verlag, Salzburg, 191 Seiten, EUR 22 Euro.