Der Präsident des PEN-Zentrums Deutschland sagte, es sei entscheidend, dass die Intellektuellen wieder mitredeten und nicht das Feld den politischen Strategen überließen. "Man muss an die Zukunft Europas denken, und nicht an die nächste Wahl", sagte Haslinger angesichts der Flüchtlingskrise. Diese übersteige europäische Dimensionen. "Die Welt ist überraschend nach Europa gekommen, jetzt weiß man nicht, wie man damit umgehen soll". Man sollte langfristige Perspektiven diskutieren, ergänzte der Schriftsteller.
Rund hundert österreichische Künstler haben sich an die Kritik an der Flüchtlingspolitik ihres Landes beteiligt. In einem Aufruf protestierten sie gegen die "Politik des Hochziehens von Grenzzäunen" und die Einführung "willkürlicher" Obergrenzen bei der Aufnahme von Asylsuchenden. Dies habe zu einer menschlichen Katastrophe in Griechenland geführt. Zu den Unterzeichnern zählen Schriftsteller wie Christoph Ransmayr, Elfriede Jelinek und Ilia Trojanow, außerdem Schauspieler und Regisseure.
Jasper Barenberg: Robert Schindel, Raoul Schrott, Wolf Haas, Elfriede Jelinek, Ilija Trojanow - nur einige der vielen Unterzeichner der Protestnote gegen die Politik der Regierung in Wien, einer Politik des Abschottens, der Obergrenzen und der Grenzzäune, wie es in dem Manifest heißt. Die Unterzeichner beklagen die menschliche Katastrophe, die vor allem in Griechenland damit ausgelöst wurde, und fordern vehement politische und finanzielle Solidarität mit Ländern wie Griechenland und Italien, die jetzt die Last tragen müssen, außerdem direkte Einreisemöglichkeiten ohne lebensgefährliche Überfahrten übers Mittelmeer, eine schnelle Integration, eine gerechte Aufteilung der Geflüchteten in Europa. Am Telefon ist der Schriftsteller Josef Haslinger. Schönen guten Morgen.
Josef Haslinger: Guten Morgen.
Barenberg: Herr Haslinger, wann und wo ist Ihnen eigentlich die Hutschnur geplatzt mit Blick auf die Politik der österreichischen Regierung und des sozialdemokratischen Regierungschefs?
Haslinger: Die Hutschnur geplatzt? Wenn das so ein einmaliger Akt gewesen wäre. Sondern das ist sozusagen etwas, was sich schon systematisch seit einiger Zeit zuschnürt. Insbesondere hat ja unsere Innenministerin sich als Scharfmacherin einen Namen gemacht und sie wurde von der Sozialdemokratie eine Weile gebremst, weil ja Faymann eine Zeit lang den Kurs von Angela Merkel mitgetragen hat und auch gute Verhältnisse mit Tsipras hatte in Griechenland. Nun aber, spätestens seit der Bundespräsidenten-Wahlkampf in Österreich offiziell ausgerufen wurde, ist die Sozialdemokratie eingeknickt und damit haben so Scharfmacherinnen wie die Frau Mikl-Leitner, unsere Innenministerin, Oberhand bekommen und seither ist diese restriktive Politik angesagt, auf die man jetzt auch noch stolz ist. Gerade heute Morgen hat der österreichische Bundeskanzler verkündet, Österreich habe gleichsam den Weg vorgegeben, Österreich habe den Anstoß gegeben, damit nun endlich gehandelt werde - leider im Sinne von Österreich. Das heißt, Flüchtlinge werden als Feinde behandelt.
Barenberg: Von einem Weckruf sprach Werner Faymann, der Bundeskanzler, ja auch für die anderen Staaten und sieht sich jetzt bestärkt auf dem Gipfel in seiner Haltung. Wie erklären Sie sich denn das, was Sie Einknicken der österreichischen Sozialdemokraten vor allem nennen?
Haslinger: Das hat einfach mit dem Bundespräsidenten-Wahlkampf zu tun. Das ist jetzt nicht die Haltung, sagen wir mal, der Genossen in den sozialdemokratischen Sprengeln, denn diese Haltung war immer schon völlig unterschiedlich. Da gibt es durchaus auch jede Menge Menschen, die geneigt wären, notfalls auch zur FPÖ zu wechseln, wenn die Sozialdemokratie hier bei dieser internationalen Solidaritätshaltung bleibt, und das hat sich nun vollzogen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich diejenigen, die diese alte humanitäre Haltung beibehalten und tatsächlich weiter daran denken, dass Österreich hier eine Politik der europäischen Solidarität gegenüber jeder Abschottungspolitik vorziehen sollte. Aber das hat mit dem Bundespräsidenten-Wahlkampf zu tun. Wenn die SPÖ diese Richtung beibehalten hätte, hätte ihr Kandidat von vornherein keine Chance, in die Stichwahl zu kommen. So einfach, glaube ich, ist die Logik dieses Vollzugs zu erklären.
"Entscheidend ist, dass die Intellektuellen überhaupt wieder mitreden"
Barenberg: Nun sagt man ja, dass Papier geduldig ist. Aus dem Protest spricht ja eine große Ungeduld, eine große Empörung auch. Sie sagen, es gibt Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, wie man es anders und besser machen könnte. Was erhoffen Sie sich bestenfalls zu erreichen mit dem, was Sie jetzt da aufgeschrieben haben?
Haslinger: Entscheidend ist, glaube ich, dass die Intellektuellen überhaupt hier wieder mal mitreden, dass man dieses Feld nicht einfach den politischen Strategen überlassen kann. Es sind ja nicht einfach die politischen Denker, die hier an Bord sind, sondern es sind die politischen Strategen, diejenigen, die nichts anderes im Sinn haben, außer die nächste Wahl zu gewinnen, und das ist bei einer solchen fundamentalen Krise, bei einer solchen Bewegung, Flüchtlingsbewegung, die seit dem Zweiten Weltkrieg in dieser Größenordnung in Europa nicht mehr stattgefunden hat, ein völlig falscher Denkansatz. Da kann man nicht an die nächste Wahl denken, sondern da muss man an die Zukunft Europas denken und an ein gedeihliches Zusammenleben der europäischen Staaten mit den Staaten der Weltgemeinschaft. Das ist ja eine Sache, die eigentlich auch europäische Dimensionen übersteigt. Wir sind nicht einmal in der Lage, die europäische Dimension in den Griff zu kriegen, geschweige denn die Weltdimension, denn im Grunde bedeutet es eine Neuorientierung Europas. Europa ist in der Welt angekommen, zwar auf andere Weise, als Europa sich das vorgestellt hat, nämlich dass es sich langsam auf die einen oder anderen Konflikte einlässt, als Vermittler, als Partner oder vielleicht auch als Waffenbruder mit Großmächten - das war etwa die Vorstellung -, sondern es ist umgekehrt gelaufen. Die Welt ist überraschend nach Europa gekommen und jetzt weiß man nicht, wie man damit umgehen soll, und das ist das Problem, dass man hier diese wahlstrategischen Überlegungen völlig bei Seite lassen sollte, und das sind halt auch die Überlegungen der Visegrád-Staaten, jener osteuropäischer Staaten, die sich da völlig raushalten sollten und stattdessen langfristige Perspektiven diskutieren sollten, und deswegen sind wir intellektuell gefordert.
"Man kauft sich die Türkei als Kettenhund Europas"
Barenberg: Aus diesem Gefühl der Besorgnis und der Sorge vor Überforderung - das wird in Österreich nicht anders sein als in Deutschland - wächst sozusagen der Impuls, mit Abschottung, mit Abwehr zu reagieren. Wie lässt sich dieser Reflex durchbrechen? Allein mit dem Appell an die Solidarität und an die Mitmenschlichkeit?
Haslinger: Zunächst einmal: Appell ist wichtig, damit man überhaupt Gehör findet. Man muss sich zu Wort melden. Das ist sozusagen der Anfang. Aber der Weg, der jetzt europäisch beschritten wird, das kann nicht die Ultima Ratio sein. Denn was jetzt passiert, dass man sich die Türkei gleichsam als Kettenhund Europas kauft, und die Türkei lässt sich dann auch sofort in Preisverhandlungen ein und lässt sich diese Funktion auch teuer abkaufen und will sich gleichsam über die Hintertür auf diese Weise auch in die Europäische Union hineinschmuggeln, das sind ja völlig missratene Ansätze, meiner Ansicht nach, denn das ist ja im Grunde das, was die Schlepper im Kleinen betreiben und was man ihnen vorwirft, dass man sagt, Menschenhandel und Schlepperbanden, das ist das, was man bekämpfen will. Aber hier wird ein Menschenschacher, ein Menschenhandel en gros betrieben und das widerspricht ja auch völlig eigentlich dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention, der darauf beruht, dass jeder einzelne Flüchtling Anspruch hat, dass sein Schicksal gehört wird und dass sein Fall geprüft wird. Und wenn man jetzt sagt, alle diejenigen, die nach Griechenland kommen, werden en bloc in die Türkei zurückgeschickt, dafür werden dann irgendwelche anderen, die in Flüchtlingslagern in der Türkei sitzen, eine Chance haben, nach Europa zu kommen, falls die Europäer sich überhaupt einigen können, wer sie nimmt - das ist ja noch eine andere Frage -, das widerspricht, dieser ganze Vorgang widerspricht eigentlich der Idee des Asyls.
"Das sind militärische Zwangsmaßnahmen"
Barenberg: Und es bietet auch insofern keine Perspektive, als die Türkei ja sagt, na gut, wenigstens ein Ziel erreichen wir damit, nämlich dass man den Menschen diese lebensgefährliche Passage übers Mittelmeer erspart und ihnen klar macht, es gibt sozusagen Kontingente, die von der Türkei in die EU übergesiedelt werden, und damit ist eine große Gefahr vom Tisch. Dem können Sie gar nichts abgewinnen?
Haslinger: Das was passiert ist ja: Mit welchen Mitteln macht man das? Indem man zu den Leuten sagt, Kinder das ist jetzt ein falscher Weg gewesen, seid doch so nett und steigt jetzt in dieses Boot und fahrt wieder zurück? In Wirklichkeit sind das ja alles Zwangsmaßnahmen. Das sind militärische Zwangsmaßnahmen. Das heißt, der Geist, der vorher herrschte, der vor diesem Flüchtlingsstrom herrschte, nämlich dass es keine legalen Fluchtwege nach Europa gab und dass man nur darüber nachdachte, wie kann man die EU-Außengrenzen militärisch noch besser sichern, möglichst vielleicht auch, indem man in Nordafrika die Boote zerstört, damit die gar nicht übers Mittelmeer kommen können, dieser Geist ist nach wie vor vorherrschend. Man beginnt, darüber nachzudenken, wie kann man Frontex militärisch aufrüsten, wie kann man verschiedene militärische Geräte beiziehen, Schiffe, Fregatten und so weiter, um auch von der europäischen Seite her eine effiziente Grenzsicherung zu betreiben. Und dann zusätzlich will man noch das Militär und die Polizei der Türkei in die europäische Flüchtlingspolitik einspannen, denn dass die Türkei so etwas handhaben kann, dass sie Massen gleichsam militärisch in Schach halten kann, das hat sie immer wieder bewiesen. Und die Türkei, mit der wir es heute zu tun haben, ist zuletzt in einem vergleichbaren Status gewesen in den 70er-Jahren während der Militärdiktatur, was die Menschenrechtsangelegenheiten betrifft.
Barenberg: Der Schriftsteller Josef Haslinger heute Morgen hier live im Deutschlandfunk. Herr Haslinger, ganz herzlichen Dank für das Gespräch. Danke Ihnen.
Haslinger: Bitte schön.
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