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Özdemir: Steuersätze haben uns in die Defensive gebracht

Beim Thema Steuerpläne habe seine Partei nicht alles richtig gemacht, räumt Grünen-Chef Cem Özdemir ein. An Koalitionsgesprächen mit der Union würden die Grünen teilnehmen. Übereinstimmung in grundlegenden Fragen zu erreichen, stelle er sich jedoch schwer vor.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Schadenfreude gab es gestern Abend fast überall, als das FDP-Debakel über die Bildschirme flimmerte, auch bei den Grünen. Doch dann kamen die Grünen selbst dran: nur 8,4 Prozent, mehr als zwei Prozent verloren. Da hatte die Ökopartei viel, viel mehr erwartet, zumindest über viele Monate, vor allem noch vor einem Jahr. Da war für alle klar, für Rot-Grün wird es dicke, dicke reichen. Und nun? – Nichts da! – Grünen-Chef Cem Özdemir ist jetzt am Telefon. Guten Morgen.

    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: Herr Özdemir, was haben Sie falsch gemacht?

    Özdemir: Das ist jetzt, glaube ich, noch ein bisschen zu früh für eine detaillierte Analyse. Das werden wir auch in den Gremien und mit der Partei diskutieren, da werden wir uns diese Woche viel Zeit lassen. Aber dass wir was falsch gemacht haben, scheint offensichtlich zu sein. Ansonsten hätten wir nicht in einer Situation, wo wir uns mehr Stimmen erwartet haben, weniger Stimmen bekommen.

    Ich glaube, eins kann man schon sagen: Den Grünen ist es nicht gelungen, das was wir in den Ländern geschafft haben, in vielen Kommunen geschafft haben, uns zu verbreitern, Stimmen zu holen von unterschiedlichen Milieus. Das ist uns im Bund nicht gelungen.

    Müller: Steuern?

    Özdemir: Auch das muss natürlich auf die Tagesordnung, wobei ich davor warne, dass man das jetzt bei einzelnen ablädt oder zu einer Flügeldebatte nutzt. Das hilft, glaube ich, niemandem, sondern das wurde alles gemeinsam beschlossen.

    Müller: Das ist ja eine inhaltliche Frage, war ja noch gar keine Flügelfrage.

    Özdemir: Ja, weil ich jetzt schon lese, dass da die Flügeldebatten zum Teil wieder anfangen. Da rate ich dringend ab. Das ist nicht das, was unsere Mitglieder hören wollen, die jetzt harten Wahlkampf gemacht haben, sondern die wollen von der Führung wissen, wie stellt man sich so auf, dass ja richtige Dinge auch mehrheitsfähig werden.

    Dass wir runter müssen von den Schulden, scheint klar, dass wir auf jeden Fall in die Infrastruktur investieren müssen. Aber die Frage stellt sich natürlich: Ist nicht manchmal das zu viel der Feind des guten. Und wenn so viele Leute geglaubt haben, dass sie von unseren Steuerplänen getroffen werden, dann muss man sich sicherlich fragen, ob wir da alles richtig gemacht haben. Sie hören ja raus, dass ich der Meinung bin, offensichtlich nicht.

    Müller: Na ja. Da haben viele darüber nachgedacht, sinniert und waren ein bisschen enttäuscht beziehungsweise auch entsetzt darüber, weil sie zumindest gedacht haben, das ist ja auch der Streit, über welche Summen reden wir beziehungsweise über welche Einkommenstarife reden wir. Aber dass die Grünen so weit gehen, die eigene Klientel zu besteuern, das macht man in der Politik in der Regel nicht.

    Özdemir: Wir hätten sicherlich etwas noch anders machen können, indem man einfach nach der Wahl dann, so wie es wahrscheinlich jetzt geschehen wird unter der Regierung von Frau Merkel, sich überlegt, wie man dafür sorgt, dass man die Einnahmenseite des Staates verbessert, denn ansonsten verrottet unsere Infrastruktur. Wir haben ja jetzt bereits eine Situation: Denken Sie daran, in welchem Zustand das Schienennetz in Deutschland ist, denken Sie daran, welche Schlaglöcher wir mittlerweile in den Straßen haben, dass wir die Ganztagesschulen nicht schnell genug bekommen, dass wir bei den Kitas Kompromisse machen bei der Qualität. Über solche Fragen muss man diskutieren und hätten wir auch diskutieren müssen.

    Wir haben aber vor allem über Steuersätze diskutiert, das hat viele Leute von uns in die Defensive gebracht auf den Podien. Da muss man sich sicherlich überlegen, wie man das klüger macht künftig, und eins ist natürlich klar: Wenn man eine Energiewende möchte, wie wir sie wollen, muss man natürlich auch klar sagen, für diese Energiewende braucht man Partner. Das ist das Handwerk, das sind kleine und mittelständische Unternehmen. Gerade mit denen haben wir wenig über die Energiewende diskutiert, über eine gemeinsame Bildungspolitik, sondern vor allem über Steuersätze, über Vermögensfragen diskutiert. Auch das hat uns in die Defensive gebracht.

    Müller: Aber dann wissen Sie, Herr Özdemir, ja doch schon eine ganze Menge. Sie haben ja zu Beginn gesagt, dann muss man erst mal gucken, woran das gelegen hat. Ihnen war das schon klar, in den zurückliegenden Wochen zumindest, als die Umfragen nicht mehr so gut waren, wo da was falsch gelaufen ist?

    Özdemir: Na ja, das merkt man ja, wenn man auf dem Podium ist und offensichtlich Elfmeter hat, die man verwandeln möchte. Beispielsweise wenn die Wirtschaft in Baden-Württemberg sagt, dass sie die CDU auffordert, ihre Blockade bei der Bildungspolitik aufzugeben, und man würde dann gerne gemeinsam diesen Elfmeter verwandeln, man kommt aber nicht dazu, weil man ständig Metadiskussionen hat über andere Themen, die erst vorab abgeräumt werden müssen.

    Aber noch mal: Das sind alles Dinge, die müssen wir gemeinsam besprechen und daraus Konsequenzen ziehen, und ich rate dazu, dass man jetzt weder vorschnell Köpfe rollen lässt, weil das Köpferollen ist was für die Französische Revolution, für die Jakobiner, aber nicht für eine Partei, die einen humanistischen Anspruch hat.

    Ich rate auch dazu, dass man jetzt nicht Flügeldiskussionen anfängt, denn da haben beide Flügel gemeinsam sich beteiligt an den Beschlüssen. Das gilt für alle, übrigens auch natürlich für meinen Bundesvorstand.

    Müller: Aber, genau weil Sie das raten oder den anderen raten, ist es ja klar, dass genau das passieren wird, über neue Köpfe, die ja nicht rollen müssen, denn man kann die ja auch auswechseln an der Parteispitze. Daran werden Sie nicht vorbei kommen.

    Özdemir: Darüber werden wir diskutieren jetzt diese Woche. Das ist doch klar. Da gibt es keine Tabus. Bei so einem Wahlergebnis hätten wir den Schuss nicht gehört, wenn wir das nicht tun würden. Aber ich bitte um Verständnis dafür, bei aller Liebe zum Deutschlandfunk werde ich das jetzt nicht heute Früh bei Ihnen machen.

    Müller: Aber Sie haben schon so ein kleines Tableau im Kopf?

    Özdemir: Ich habe ein ganz großes Tableau sogar im Kopf, aber auch da bitte ich um Verständnis dafür, dass ich das nicht bei Ihnen ausbreiten werde, sondern das diskutieren wir heute mit den Kollegen im Bundesvorstand, dann mit dem Parteirat. Morgen trifft sich ja die neue Fraktion zum ersten Mal. Wir treffen die Landesvorsitzenden und schließlich die Delegierten zum Länderrat. Mir tut es leid um all die vielen Leute, die jetzt aus dem Parlament rausfliegen beziehungsweise nicht gewählt sind. Aber es geht ja nicht nur um Abgeordnete, es geht auch um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, deren Existenz daran hängt, und das ist schon wichtig, dass wir auch diese Demut erkennen lassen, dass wir da als Führungspersönlichkeiten auch Verantwortung haben, gerade jetzt in der Situation.

    Müller: Herr Özdemir, wir haben eben mit unseren Korrespondenten auch über dieses Modell Rot-Rot-Grün geredet. Das ist jetzt rechnerisch möglich, das ist eine Alternative zu zwei anderen Alternativen. Für Sie nach wie vor Tabu?

    Özdemir: Demokratische Parteien müssen untereinander gesprächsfähig sein. Aber im Vorfeld hat ja auch vor allem die deutsche Sozialdemokratie, aber auch wir haben sehr klar erklärt, wie es mit den inhaltlichen Hürden aussieht. Die Linkspartei weigert sich zu akzeptieren, dass wir eine Schuldenbremse in Deutschland haben. Eine Arbeitsteilung, die so aussieht, die einen müssen den Haushalt sanieren und sparen und die anderen geben Versprechen ab und geben das Geld aus, die wird nicht funktionieren. Wir haben als Deutschland gerade angesichts des AfD-Ergebnisses eine ganz klare europäische Verpflichtung. Da darf Deutschland nicht wanken. Wir stehen zum Euro, wir stehen zur europäischen Einigung. Auch da wankt die Linkspartei und macht einen auf Linkspopulismus. Das sehe ich nicht, wie das auf Bundesebene zusammenkommen soll.

    Müller: Das heißt, in der Konsequenz, Herr Özdemir, könnte das sein, dass Sie eine Große Koalition besser finden als Rot-Rot-Grün?

    Özdemir: Nein. Ich finde starke Grüne in der Regierung immer am besten, weil ich glaube, dass wir das am besten können. Aber nach diesem Wahlergebnis kann man jetzt ja nicht gerade sagen, dass wir einen Regierungsauftrag bekommen haben, sondern jetzt müssen wir analysieren, was da schief lief. Die Bundeskanzlerin hat diese Wahl fulminant gewonnen, der gratulieren wir, wie sich das als gute Demokraten gehört.

    Wenn sie uns zum Gespräch einlädt, werden wir uns diesem Gespräch selbstverständlich nicht verweigern, so wie wir das 2005 ja auch schon mal gemacht haben. Ob dieses Gespräch von Erfolg gekrönt ist, da darf man sicherlich ein Fragezeichen dahinter machen, aber selbstverständlich gehen wir dahin und hören uns das an, was sie uns zu sagen hat.

    Müller: Aber Sie haben schon die Hoffnung, wenn die Kanzlerin auf Sie zukommt, Gespräche führen möchte, dass das auch ein bisschen ernst gemeint sein könnte?

    Özdemir: Ich nehme die Bundeskanzlerin immer ernst und höre ihr immer zu, wie sich das gehört unter erwachsenen Menschen. Da wird sie ja nicht allein sitzen, da wird ein Horst Seehofer mit am Tisch sitzen, der vor Kraft nicht laufen kann angesichts seines Ergebnisses von vor einer Woche, und ich bin schon sehr gespannt, wie das dann ablaufen wird, auch zwischen den Zweien.

    Aber für uns ist doch klar: Wir können nirgendwo mitmachen, wo es nicht eine ganz klare Energiewende gibt, in Richtung erneuerbare Energien. Unsere Vision ist nicht, dass wir Atomenergie durch Kohleenergie ersetzen. Für uns ist klar: Wir wollen nicht eine Landwirtschaftspolitik machen, die die bäuerliche Landwirtschaft kaputtmacht und nach dem Motto 'Wachse oder weiche' die industrielle Massentierhaltung in Deutschland durchsetzt. Oder nehmen Sie die Verkehrspolitik: Wir wollen nicht, dass Landeshauptstädte nicht mehr angefahren werden von der Bahn. Das sind einfach so grundlegende Fragen und da habe ich noch nichts gesagt zum Thema offene Gesellschaft, Umgang mit Schwulen, Lesben, Frauenrechte. Das stelle ich mir sehr schwer vor.

    Müller: Da hat die Union sich wunderbar bewegt mit Blick auf diesen Wahlabend in all diesen Faktoren.

    Özdemir: Ja, sie hat sich bewegt, und zwar immer in zwei Richtungen, zwei entgegengesetzte Richtungen gleichzeitig. Nehmen Sie das Thema Kita, nehmen Sie das Thema Betreuungsgeld. Sie haben recht: In der Union gibt es für alles vernünftige Positionen, aber halt auch das Gegenteil.

    Müller: Herr Özdemir, jetzt bekomme ich ganz aufgeregte Signale aus der Regie. Ich hätte fast vergessen, unser Gespräch zu beenden, weil es hier weitergeht im Deutschlandfunk. Ich danke ganz herzlich, auf Wiederhören nach Berlin. Der Grünen-Chef Cem Özdemir, tschüss!

    Özdemir: Schönen Tag noch, tschüss!


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