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Özil, Dreyfus und "frequency 2156"
Mürrisches Werkzeug des Weltgeistes

Was die Causa Özil mit der Dreyfus-Affäre vor 120 Jahren und dem postapokalyptischen Radio "frequency 2156" zu tun hat - Arno Orzessek spannt den Bogen. Eine Glosse über Vergangenes und Gegenwärtiges. Und die Frage, wie alles weitergeht.

Von Arno Orzessek | 25.07.2018
    Mesut Özil während der WM 2018
    Kurz: Die Causa Özil zeigt teutonisch verzerrte Züge einer neuen Dreyfus-Affäre. (dpa/ picture alliance/ Ina Fassbender)
    Fragen Sie sich auch, wie alles weitergeht, liebe Hörer? Dann wird Sie Folgendes interessieren: Im Internet kann man unter "frequency 2156" postapokalyptisches Radio aus der Zukunft hören - atmosphärisch düster und unheilvoll dröhnend. Über 138 Jahre hinweg ist der Empfang halt nicht so sauber wie auf dieser Welle.
    Doch die zentrale Botschaft kommt rüber. Und wir verraten sie auch. Aber erst, nachdem wir den Bogen zu Alfred Dreyfus und einem gewissen Mesut Özil geschlagen haben, zwei Männern, an denen sofort die Unterschiede ins Auge stechen. Und zwar nicht nur, Freunde des Flachwitzes, weil der französische Artillerist einst mit Kanonen schoss, während der deutsche Kicker gern mit dem linken Fuß schießt. Nein, es gibt eine schicksalhaftere Differenz.
    Der arme Dreyfus wurde wegen vermeintlichen Landesverrats im späten 19. Jahrhundert auf die garstige Teufelsinsel unten im Atlantik verbannt; Özil aber residiert trotz Selbstverbannung aus der Nationalelf in seiner Londoner Luxusvilla, samt PS-Monstern, Heim-Kino und Klamotten vom Feinsten. Dafür sind die beiden in puncto Medienhype von gleichem Kaliber.
    Publizisten, die am Senf-Syndrom leiden
    Bitte sehr! 1898 war Dreyfus in allen Pariser Zeitungen unangefochten Thema Nr. 1. 120 Jahre später dominiert der Özil-Komplex seinerseits die hiesigen Medien, papierene, digitale, soziale. Damals skandierten die Dreyfus-Gegner: Landesverräter! Und die Gegner der Dreyfus-Gegner skandierten: Ihr Antisemiten! Heute skandieren die Özil-Gegner: Du Erdogan-Untertan, Speichellecker des Diktators! Und die Gegner der Özil-Gegner skandieren: Ihr islamophoben, rassistischen Bio-Deutschen.
    Zudem leiden heute wie damals unzählige Publizisten am Senf-Syndrom: Sie müssen ihren unbedingt dazugeben. Kurz: Die Causa Özil zeigt teutonisch verzerrte Züge einer neuen Dreyfus-Affäre.
    Und die Fragen in der Causa Özil
    Für sich betrachtet ist das übrigens positiv. Die Dreyfus-Affäre setzte letztlich den Verbannten ins Recht und war die Geburtsstunde der Intellektuellen. Die unter dem frischen Label ihr kritisches Geschäft allerdings sehr lange exklusiv in Frankreich ausübten. Eben darum titelte die "Die Zeit" 1946 im betrübten Rückblick auf zwei Weltkriege: "Die Affäre, die uns leider fehlte...".
    Die junge Wochenzeitung vermutete, mit mehr öffentlicher Investition an Hirnschmalz hätte alles besser laufen können. Nun gibt es keinen Zeugen dafür, dass Özil mit seiner Vorwurfs-Fontäne nach dem Rücktritt auf die ganz großen Zusammenhänge abzielte. Aber hat nicht seine Körpersprache auf dem Rasen oft zu erkennen gegeben: Hey, da trägt einer eine Bürde weit über die Verantwortung als 10er hinaus? Vielleicht haben wir Özil als mürrisches Werkzeug des Weltgeistes zu akzeptieren.
    Ob blanker Rassismus ausbricht oder Integration eine Chance hat, ob der zornige Diskurs zivile Formen annimmt oder den Bürgerkrieg vorzeichnet, ob Einwanderung das Ende der Demokratie oder deren Vervollkommnung provoziert - das sind die Fragen in der Causa Özil. Unterdessen interessieren sich die versprengten Überlebenden von Radio "frequency 2156" brennend für die Antworten.
    Vertrauen wir auf "frequency"
    Denn im Jahr 2156 steht fest: Alles ist komplett schiefgegangen! Es weiß nur keiner mehr, ob aus politischen, ökonomischen oder klimatischen Gründen. An uns Heutige ergeht deshalb die Aufforderung, alle denkbaren Auslöser der Katastrophe aufs Penibelste zu beobachten. Wozu, wenn ohnehin Untergang angesagt ist?, werden Schlaumeier fragen.
    Nun, schalten Sie "frequency 2156" ein! Hören Sie der Postapokalypse zu. Es ist eine üble Ära. Doch die Leute von "frequency" deuten an: Es muss nicht so weit kommen. Die finstere Zukunft, durch die sie taumeln, sie lässt sich offenbar abwenden. Wie das im Detail funktioniert? Keine Ahnung! Aber wir vertrauen auf "frequency". Wer schlau genug ist, uns aus der Zukunft zu erreichen, dürfte ja wohl auch wissen, wie man sie verhindert.