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Özil und die neue Integrationsdebatte
"Das könnte man auch als Integrationserpressung bezeichnen"

Die Schriftstellerin Jagoda Marinic hält das Konzept einer Nationalkultur für "gestrig" und kritisiert die Anspruchshaltung an Ausländer: "Man möchte den idealen Deutschen." In dem Moment, in dem so ein Mensch Fehler mache, sei er wieder desintegriert, sagte sie im Dlf.

Jagoda Marinic im Gespräch mit Karin Fischer |
    Jagoda Marinic, Schriftstellerin und Leiterin des Interkulturellen Zentrums in Heidelberg, zu Gast bei Anne Will im Ersten Deutschen Fernsehen, 11.09.2016
    Die deutsch-kroatische Schriftstellerin Jagoda Marinic (imago stock&people)
    Karin Fischer: Der Fall Mesut Özil - also sein umstrittenes Foto mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan - ist zu einer Integrationsdebatte geworden. Anfang der Woche standen nach wochenlangem Schweigen nicht nur Özils Rückzug aus der Nationalmannschaft im Raum, mit Vorwürfen an die Adresse des DFB und manche Medien, denen Özil Rassismus vorwarf. Am Montag veröffentlichte auch das Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung eine aktuelle Studie, nach der das Zugehörigkeitsgefühl zur Türkei bei Diskriminierungserfahrungen in Deutschland steige. Das sind nun zwei sehr unterschiedliche Ebenen, die des hochbezahlten Fußballstars und des Jugendlichen aus der dritten Generation türkischer Zuwanderer. Jagoda Marinic ist Schriftstellerin, Theaterautorin, Journalistin und Leiterin des "Interkulturellen Zentrums" in Heidelberg. Sie habe ich gebeten, das für uns zusammen zu denken.
    Jagoda Marinic: Ich habe das eigentlich in meinem Buch "Made in Germany" sehr ausführlich getan. Es gibt eine Form von negativer Selbstdefinition. Das heißt: In dem Moment, in dem ich nicht angenommen werde von der Gesellschaft, wende ich mich ab und suche jene Quellen, die mir diese Anerkennung geben. Und in diesem Fall ist das im Moment für viele Türkeistämmige natürlich die Türkei.
    Einerseits ist Mesut Özil natürlich ein Spitzenverdiener, ein Multimillionär und andererseits ist er nach wie vor der Junge aus Gelsenkirchen, der sich ganz nach oben gekickt hat und der der Inbegriff der Erfüllung aller Träume für sehr viele junge Menschen war.
    "Wir diskutieren letztlich, wie deutsch er ist"
    Fischer: In der Studie geht es um Identifikation und politische Partizipation. Bei Mesut Özil und Ilkay Gündogan ging es ja eher um die Frage: Muss sich ein Spieler der Nationalmannschaft nicht auch für die Werte seines Heimatlandes einsetzen statt mit einem Staatschef zu posieren, der von manchen in die Nähe eines Diktators gerückt wird?
    Marinic: Ich denke, dass die Frage sehr legitim ist, zu sagen, welche Werte haben Nationalspieler. Sie ist genauso legitim wie zu fragen, welche Werte haben Funktionäre des DFB, welche Werte hat ein Franz Beckenbauer, welche ein Uli Hoeneß. Bei all diesen Menschen haben wir diskutiert, wie rechtschaffend sie sind, ob sie vor Gericht müssen, ob sie Dinge getan haben, die falsch sind. Bei Mesut Özil diskutieren wir aber gar nicht mehr die Werte, sondern wir diskutieren letztlich, wie deutsch er ist. Das heißt, man stellt an Ausländer einen ganz besonderen Anspruch. Man möchte den idealen Deutschen, der alle Werte verkörpert, die Deutschland als ideales Selbstbild hat. Man nennt das dann integriert. In dem Moment, in dem so ein Mensch Fehler macht, ist er wieder desintegriert. Dann ist es falsch gelaufen. Das könnte man auch als Integrationserpressung bezeichnen: Dass nur dann, wenn du perfekt bist, wenn du so bist wie sich Deutschland seinen idealen, eingebürgerten Deutschen vorstellt, bist du wirklich Deutscher. Und in dem Moment, in dem du Fehler machst, bist du eben nicht mehr Deutscher. Und da beginnt eigentlich schon die Rassismus-Debatte, die Özil gerade zum Thema macht.
    Eine "gestrige" Debatte
    Fischer: Welche Erfahrungen machen Sie im Interkulturellen Zentrum mit dem Thema Mehrfach-Identitäten – abgesehen davon, dass Sie ja selbst eine haben, wenn ich richtig informiert bin?
    Marinic: Ich beobachte diese Debatte als sehr gestrig, als etwas, was der Lebensrealität der Menschen überhaupt nicht gerecht wird. Wir leben in Zeiten, da leben Menschen in einem Leben in zwei bis drei Ländern. Die meisten migrieren aus Arbeitsgründen, aus Gründen der Krisen, warum auch immer. Das heißt: So zu tun, als wäre eine nationale Identität etwas wie früher, wo man in einem Ort geboren wird und stirbt und man hat immer die gleiche Gemeinschaft, ist eigentlich schon nicht mehr Teil dieser Realität. Und gerade die jungen Menschen, die Eltern haben aus einer anderen Region dieser Welt, die sind ganz selbstverständlich Hybride. Die werfen diese Debatten völlig zurück. Die sagen, Mensch, das war doch mal für mich normal, in meiner Klasse hat jeder zweite eine Migrationsgeschichte. Da wird eigentlich ein Prozess, der sich allmählich normalisiert hat, völlig nach hinten geworfen. Das ist eigentlich auch die große Gefahr dieser Debatte, dass noch mehr Menschen sagen, irgendwie gelingt das hier nicht, und dass Deutschland einen nächsten Schritt macht, um all die Erfolge, die es in der Integration eigentlich erreicht hat, nämlich sehr viele Menschen auch an wirtschaftlichem Erfolg teilhaben zu lassen zum Beispiel, auf politischer Ebene nicht zu übersetzen weiß.
    Fischer: In Ihrem Buch "Made in Germany. Was ist Deutsch in Deutschland" haben Sie sich ja schon 2016 mit Deutschland als Einwanderungsland auseinandergesetzt. Wie sehen Sie diese Thematik denn heute, nach der Flüchtlingsdiskussion und einer gefühlt neuen Fremdenfeindlichkeit, die ja unter Umständen auch den schon lange heimischen deutsch-türkischen Mitbürger als Muslim identifiziert und möglicherweise zum Feindbild macht?
    "Das Deutschsein ist vielfältig geworden"
    Marinic: Ich setze mich schon seit meiner Kindheit mit diesen Dingen auseinander – früher unbewusst, später dann bewusst. Das ist auch ein Aufarbeitungsprozess, was es bedeutet, in zwei Ländern aufzuwachsen. Und tatsächlich sehe ich diesen ganz großen Rechtsruck einerseits ja und andererseits nein, denn genau diese Rhetorik hat die deutsche Einwanderungsgeschichte seit jeher begleitet. Wir sind aufgewachsen mit Duldungen. Die Eltern mussten alle zwei Jahre in Ausländerbehörden und mussten sich gestatten lassen, ob sie hier sein konnten. Daher kam es auch, dass es überhaupt nie eine Bürgerrechtsbewegung gab, dass Ausländer eingefordert haben, politisch wahrgenommen zu werden, weil sie dachten, wenn ich Rechte einfordere, werde ich einfach wieder ausgewiesen oder muss gehen. Das heißt, diese emanzipatorische Möglichkeit, die die junge Generation, meine Generation, die jetzt deutsch ist, hat, die hatte die alte Generation nicht. Das ganze Reden über Integration war geprägt von der Mehrheitsgesellschaft, die entscheidet, wie jetzt diese Minderheiten sich zu benehmen haben.
    Das hat Kohl natürlich perpetuiert mit seinem "Wir sind kein Einwanderungsland", also eine totale Spaltung zwischen den Eingewanderten und den hier Lebenden. Diese Spaltung, die gibt es heute so nicht mehr. Wir sind eine vielfältige Gesellschaft. Das Deutschsein ist vielfältig geworden. Wir erzielen ganz neue Narrative. Und zu behaupten, dass das, was wir heute an rechten Tönen haben, Töne sind, die wir als Kinder hier nicht gehört hätten, klingt ein bisschen deplatziert, zumal man weiß, was Anfang der 90er geschah, als die Flüchtlinge aus dem Bürgerkrieg in Jugoslawien kamen. Deutschland ist eigentlich tatsächlich immer wieder durchsät worden von solchen krassen Diskursen, und das einzige, was einem auch wirklich Hoffnung macht, ist, dass sich am Ende das Ganze doch so durchgesetzt hat, dass man sagte, wir sind eine humanitäre Gesellschaft, wir sind auch eine weltoffene Gesellschaft. Im Moment gibt es Momente, da zweifelt man daran, ob es wieder gelingt, aber natürlich möchte man das hoffen und auch darum kämpfen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.