Ann-Kathrin Büüsker: Seit Monaten kreisen Truppen der Demokratischen Kräfte Syriens, in englischer Abkürzung SDF, die syrische Stadt Rakka ein, Hochburg von Daesh, dem selbsternannten Islamischen Staat. Anfang der Woche hat nun der Sturm auf die Stadt begonnen. Zehntausende Zivilisten haben bereits versucht, sich in Sicherheit zu bringen, auch vor den Luftschlägen, die bereits zivile Opfer gefordert haben. Der Kampf werde schwierig und langwierig, so ein Sprecher des Bündnisses gestern, ähnlich dem in Mossul also.
Über die Initiative gegen Rakka und die Folgen für den selbsternannten Islamischen Staat und die Zivilbevölkerung möchte ich jetzt mit Volker Perthes sprechen, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ende 2015 hat er für die Vereinten Nationen versucht, im syrischen Konflikt zu vermitteln. Guten Morgen, Herr Perthes.
Volker Perthes: Schönen guten Morgen, Frau Büüsker.
Büüsker: Herr Perthes, lassen Sie uns zunächst mal auf die schauen, die Rakka einzunehmen versuchen. Die Allianz, die da jetzt gegen die Stadt zieht, wie setzt die sich zusammen, was sind das für Menschen?
Perthes: Im Wesentlichen sind es kurdische Truppen von den sogenannten kurdischen Selbstverteidigungskräften, die bereits große Teile Syriens, zehn Prozent etwa des Territoriums entlang der türkischen Grenze kontrollieren. Die werden unterstützt von arabischen Truppen, tribalen Truppen aus der Region um Rakka im Nordosten Syriens, und ganz massiv unterstützt etwa mit Luftangriffen von den Vereinigten Staaten und der von den USA geleiteten Koalition gegen den sogenannten Islamischen Staat.
Schlacht um Rakka kann bis zu drei Monate dauern
Büüsker: Für wie realistisch halten Sie es, dass das Ziel, Daesh aus Rakka zu vertreiben, erreicht werden kann?
Perthes: Ich denke, es wird erreicht werden. Es wird noch dauern. Auch die vorsichtige Meldung des amerikanischen Kommandos, die Sie eben zitiert haben, es wird lang und schwierig werden, ist zweifellos zutreffend. Man hat begonnen, wie es scheint - ich bin ja nicht da -, mit Straßenkämpfen in den Vororten von Rakka. Wir können davon ausgehen, dass der Islamische Staat hier ähnliche Verteidigungsanstrengungen unternommen hat, wie er das in Mossul gemacht hat, dass Häuser und Straßen vermint worden sind, dass es Sprengfallen gibt, dass es Selbstmordattentäter gibt, und deshalb kann eine solche Schlacht um eine mittlere Stadt durchaus ein, zwei, drei Monate dauern. Es ist aber auch denkbar und im Übrigen schließt das eine das andere nicht aus, dass die wichtigsten Führer des IS, des sogenannten IS, sofern sie noch in Rakka sind, und auch wichtige Kämpfer von ihnen versuchen, bei Nacht und Nebel gewissermaßen aus Rakka zu fliehen und sich in Deir ez-Zor, einer weiteren Stadt am Euphrat etwas weiter nach Südosten zu verschanzen, eine Stadt, die sie jetzt auch schon halten, die logistisch und strategisch wichtig ist, weil sie relativ nah an der Grenze zum Irak sich befindet.
Weniger Macht, aber fähig zu weiteren Terroranschlägen
Büüsker: Wenn Sie eine Befreiung Rakkas für realistisch halten, heißt das dann, der Islamische Staat ist doch militärisch zu besiegen?
Perthes: Ja! Der Islamische Staat ist da, wo er Territorium hält, militärisch zu besiegen, wie letztlich jede Truppe, jedes Militär, insbesondere auf fremdem Gebiet besiegbar ist, wenn man genügend Kräfte einsetzt. Das heißt aber nicht, dass der Islamische Staat oder die Ideologie des sogenannten Islamischen Staates tot wäre oder die Organisation gar nicht mehr existiert. Sie wird schwer geschlagen werden, denn ihr Projekt war ja, einen Staat mit Territorium zu errichten. Dieser Staat schrumpft zunehmend, selbst wenn sich die Hauptkräfte des sogenannten IS zurückziehen nach Deir ez-Zor. Das heißt aber nicht, dass der IS nicht in der Lage wäre, Terroranschläge außerhalb Syriens und des Irak zu planen, und das sehen wir ja auch seit einigen Monaten, dass der IS seine Anhänger in Europa etwa auffordert, nicht mehr nach Syrien zu kommen, sondern in Europa selbst Anschläge zu verüben.
Fehler bei US-Luftangriffen
Büüsker: Wir haben bei der Initiative auf Mossul gesehen, dass es in hohem Maße zivile Opfer gibt. Über 750.000 Zivilisten sind aus der Stadt geflohen. Es gibt immer wieder Berichte über gezielte Hinrichtungen von Seiten der Islamisten. Wenn wir jetzt auf Rakka schauen, sehen Sie da irgendeine Möglichkeit, wie verhindert werden kann, dass auch hier die Zivilisten zwischen den Fronten aufgerieben werden?
Perthes: Lassen Sie uns ganz realistisch sein. Wo Krieg geführt wird, kommen Zivilisten ums Leben, und insbesondere wenn Krieg in Städten geführt wird, kommen Zivilisten ums Leben. Und Sie haben das richtig gesagt: Der sogenannte Islamische Staat hat überhaupt kein Interesse daran, die Zivilisten, über die er hier herrscht, zu schützen. Er wird versuchen, seine eigenen Leute zu schützen, jedenfalls die politischen Kader, die, die er nicht als Kanonenfutter benutzt. Und auch wenn die amerikanischen Streitkräfte vermutlich versuchen werden, dort, wo sie Bombenangriffe fliegen, das gezielt zu tun, haben wir gesehen auch in den letzten Tagen, dass es dabei Fehler gibt. Da werden Menschen, die versuchen, der Stadt zu entfliehen, verwechselt mit Einheiten, mit Truppen des IS. Da sind Flüchtlingsboote im Euphrat beschossen worden. Wir haben hier eine Situation, wo die Kräfte, die am Grund, am Boden operieren, die sogenannten syrischen Selbstverteidigungskräfte, die kurdischen Kräfte den Zivilisten in Rakka sagen, flieht, versucht aus der Stadt herauszugehen, das macht es für uns leichter und schneller, die Stadt zu erobern. Es gibt auch Flüchtlingslager, die vorbereitet worden sind in den kurdischen Gebieten. Aber gerade bei diesen Fluchtbewegungen, die an sich humanitär schwierig sind, die viel Elend mit sich bringen, kommt es auch immer wieder zu Fehlern.
Kurden arrangieren sich mit Assad
Büüsker: Gehen wir davon aus, die Stadt kann tatsächlich befreit werden, der Islamische Staat zieht sich komplett aus Rakka zurück. Das ist ja eine syrische Stadt, also eigentlich Einflussgebiet von Baschar al-Assad. Nun haben Sie uns erläutert, es sind vor allem Kurden, die diese Allianz führen. Wer könnte dann neue Strukturen in Rakka etablieren? Sind das die Kurden?
Perthes: Das ist eine völlig richtige Frage, die Sie hier stellen. Die ist so wichtig, weil sie noch nicht geklärt ist. Die Kurden, die auch Syrer sind, die kurdischen Truppen aus dem Norden Syriens wissen, dass in dieser ethnisch überwiegend arabischen Stadt eine kurdische Verwaltung vermutlich nicht akzeptiert würde und nur als neue Art Besatzung wahrgenommen wird. Deshalb haben sie, ich habe darauf hingewiesen, arabische Hilfstruppen, insbesondere aus den ländlichen Gebieten, tribale Truppen, die mit ihnen kämpfen, und man wird sicherlich versuchen, aus der Kombination derer, die hier kämpfen und die Stadt befreien, und derer, die mit ihnen zusammen ziehen und den ursprünglichen Einwohnern von Rakka eine neue Verwaltung dieser Stadt zu errichten. Und dann steht die Frage, wie ist das Verhältnis der Stadtverwaltung in Rakka zu den Autoritäten im Rest des Landes. Ich gehe davon aus, dass man versuchen wird, zumindest ein gedeihliches Verhältnis mit der Regierung von Baschar al-Assad in Damaskus zu errichten. Das ist das, was die Kurden im Norden, wo sie Territorium unter Kontrolle haben, selber tun. Man verwaltet die Gebiete selbst, aber man bekämpft die Regierung in Damaskus nicht. Man arrangiert sich mit ihnen.
Büüsker: So die Einschätzung von Volker Perthes. Er ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Wir haben gesprochen über die begonnene Initiative auf Rakka. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk, Herr Perthes.
Perthes: Sehr gerne, Frau Büüsker.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.