Als Kind war Yemisi Ogunleye Turnerin, erzählt sie im Dlf-Sportgespräch. Aber aufgrund ihrer Größe (heute 1.85 Meter) war irgendwann klar: Im Turnen sind ihre Möglichkeiten eingeschränkt. Darum probierte sie verschiedene Leichtathletik-Disziplinen aus. Nach zwei Kreuzbandrissen war davon aber nur noch eine möglich: das Kugelstoßen. "Was damals für mich als junge Athleten irgendwie wie ein Schreck war, weil es genau das war, was ich nicht machen wollte", sagt Ogunleye. Sie habe das aber angenommen.
Ihre heutige Trainerin Iris Manke-Reimers lernte Ogunleye noch verletzt kennen. Auf Krücken kam sie zu ihr nach Mannheim. Manke-Reimers sagt: "Ich habe mir bestimmt drei Wochen überlegt: Mach ich das weiter, oder wie soll das gehen und habe dann angerufen und habe gesagt: Okay, wir packen das an."
Besonders in dieser frühen Zeit ihrer Karriere hebt Ogunleye die Unterstützung durch ihre Eltern hervor, die sie permanent 60 Kilometer weit zum Training nach Mannheim brachten. Und auch die Verletzungen hätten sie weitergebracht, sagt Ogunleye heute: "Es ist natürlich erst einmal eine große Herausforderung, aber ich finde, ich habe durch die Zeit sehr, sehr viel lernen dürfen. Ich bin als Mensch sehr gewachsen und gereift, als Athletin durfte ich Durchhaltevermögen lernen." Bis zur vollen Leistungsfähigkeit dauerte es aber lange: "Ich würde sagen, es waren mindestens sieben Jahre, die wir auch gebraucht haben, bis das Knie sich wieder so regeneriert hat, dass es auch belastungsfähig ist."
Lange keine Medaillen
Sportlich half ihr auch die Abkehr von der früher üblichen Angleit-Technik: "Wir haben dann vor drei Jahren, vier Jahren die Technik verändert. Das war noch mal so ein neuer Anreiz für mein Trainerteam und mich und seitdem liebe ich das Kugelstoßen, muss ich sagen." Die Umstellung war ein Wagnis, doch die anspruchsvolle Drehstoßtechnik brachte schon nach relativ kurzer Zeit gute Ergebnisse - wohl auch aufgrund der turnerischen Erfahrung aus Kindertagen.
Der Olympiasieg war dennoch zunächst nicht das Ziel: "Also ich würde jetzt lügen, wenn ich sage, ich hatte nie den Wunsch, auch mal auf einem Podest stehen zu dürfen. Aber meine junge Karriere war halt nie geschmückt von Medaillen. Und das war auch hart für mich, irgendwo. Aber ich hatte immer diesen Traum, selbst mal eine Medaille zu gewinnen." Die Ebene war zunächst nicht wichtig. Der Gewinn der Silbermedaille bei der Hallen-WM im März 2024 gab dann einen Motivations-Push und Selbstvertrauen.
Nach Bronze trotz Knieproblemen bei den Europameisterschaften im Juni sagten ihre Trainer Ogunleye, nun fehle ja nur noch eine Medaillenfarbe bei der letzten großen Meisterschaft in diesem Jahr. Für sie selbst war der Olympiasieg zunächst nicht vorstellbar, für die Trainer aber nicht nur ein frommer Wunsch oder ein Motivationstrick, sagt Iris Manke-Reimers: "Es war eine realistische Zielsetzung, würde ich mal sagen sie hat sehr gut trainiert, die letzten zwei Jahre, und es ging immer aufwärts bei ihr. Und im Winter haben wir schon gesehen, dass die Kugel absolut über 20 Meter fliegt."
Glaube und Gemeinde als "Auffangbecken"
Zu den Spielen reiste Ogunleye dann gefestigt an, konnte sowohl in der Qualifikation als auch im Wettkampf im letzten Versuch den entscheidenden Stoß zeigen: "Das war wirklich auch geschuldet den Wettkämpfen davor, dem Training, das wir davor hatten. Ich wusste: Komme was wolle, ich werde dort meine 20 Meter stoßen", erzählt sie. "Wenn man in mein Notizbuch reinschaut, da steht fett: '20 Meter'. Und das dann natürlich im sechsten Versuch genau diese 20 Meter auch gefallen sind, war für mich einfach eine extreme Gebetserhörung. Es war nicht 20,01, es war nicht 19,99, sondern genau 20 Meter. Und das war für mich einfach das Größte."
Ihren Glauben habe sie noch nicht als Kind gehabt, sagt Ogunleye: Sie sei von ihrer Mutter in die Kirche "geschliffen" worden. Aber sie habe auch damals dort schon viel gelernt: Durch den Kinderchor habe sie vor Menschen gestanden und Instrumente gelernt. Heute hat ihre Kirchengemeinde für Ogunleye eine ganz zentrale Rolle in ihrem Leben: "Ich sage immer, das ist mein Auffangbecken. Das ist wie meine Tankstelle. Ich komme dort sonntags rein und bin einfach Yemi. Ich bin nicht Yemi die Kugelstoßerin, sondern ich bin dort groß geworden. Ich habe dort meine Freunde, meine Familie."
Auch sportlich half ihr der Glaube und die Gemeinde vor den Olympischen Spielen: "Ich habe keinen Mentaltrainer oder Sportpsychologen an meiner Seite gehabt, sondern wirklich verschiedene Menschen, die mich jeden Tag angerufen haben und mit mir zusammen für diesen Wettkampf gebetet haben." Iris Manke-Reimers sieht aber auch eine große Qualität in Ogunleye selbst: "Sie ist mental wirklich eine ganz, ganz starke Frau."
Kritik und Lob für deutsche Sportförderung
Ogunleye sieht das deutsche Sportfördersystem kritisch, sagt aber auch: "Ich kann wirklich nur aus meiner Perspektive sagen, dass ich durch die Förderung der Bundeswehr eine gute Absicherung habe, um den Leistungssport überhaupt auf dieser Eben betreiben zu können." Ihr Wunsch sei aber, dass mehr Athleten diese Möglichkeiten haben. Es gebe wirklich große Differenzen zwischen unterschiedlichen Nationen. Außerdem müsse es mehr Wertschätzung für Trainer geben.
Iris Manke-Reimers Mann ist ebenfalls Trainer und Vizepräsident Leistungssport des Badischen Leichtathletik-Verbandes. Er sagt: "Ich denke, wir müssen das schon so umstellen, dass wir das Vertrauen auch den jüngeren Athleten über eine längere Zeit geben. Wenn wir uns vorstellen: Deutschland will sich für die Olympischen Spiele 2040 bewerben. Und wir tun im unteren Bereich nichts. Das bedeutet: Wie alt sind die Athleten, die Kinder heute, die 2040 performen sollen? Die sind heute sechs, sieben, acht, neun, zehn Jahre alt. Und wenn ich da nicht anfange, dieses System zu ändern und nur das Belohnungssystem favorisiere, dann werden wir 2040 nicht ankommen." Gerade im jüngeren Bereich müsse man viel mehr fördern und nicht nur aussieben.
Bei der Wahl zur deutschen Sportlerin des Jahres wurde Ogunleye Zweite hinter der rhythmischen Sportgymnastin Darja Varfolomeev. Eine gute Platzierung, fand Ogunleye schon vorher: "Es wäre natürlich eine supergroße Wertschätzung, diesen Preis zu gewinnen. Aber ich wäre auch nicht traurig, wenn ich Zweite oder Dritte werde, weil alleine schon unter den Nominierten zu sein ist eine Ehre."