Sabine Adler: Herr Bischof Alfons Nossol, heute vor 68 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Dieses Ereignis wird gewürdigt mit einer eigenen Feierstunde. Was geht Ihnen an einem solchen Tag durch den Kopf? Kann ein Verhältnis zwischen zwei Ländern, in denen derart Schreckliches geschehen ist, überhaupt wieder irgendwann gut sein?
Alfons Nossol: Gut? Wie gut? Aber es kann sich in gewisser Weise doch menschlich normalisieren. Natürlich, man muss hier Realist bleiben. Das war die größte Todesfabrik, die wir in Europa, vielleicht in der Welt hatten. Es ging da nicht, allgemein gesagt, um pure Feinde, aber diese Lust an der totalen Vernichtung Menschen dieser Rasse, dieses Volk. Und das war die Tragödie.
Adler: Wenn wir uns heute das Verhältnis ansehen: In dieser Woche haben wir zurückgeblickt auf 50 Jahre Elysèe-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich, unterschrieben vor 50 Jahren. Ist das Verhältnis, wie es zwischen Frankreich und Deutschland war, das ja nun auch eine wirklich schwere Geschichte hat, denken wir an den Ersten Weltkrieg, ist dieses Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ein Vorbild vielleicht zwischen Deutschland und Polen, oder haben wir das schon längst erreicht?
Nossol: In gewisser Hinsicht schon. Jedenfalls für mich war das französisch-deutsche, deutsch-französische Verhältnis und diese Aussöhnung zwischen den zwei Nachbarvölkern, die sich als "Erzfeinde" bezeichneten, dass das reell, dass das möglich geworden ist, das war für mich ein Ansporn, warum könnte es auch nicht bei dem deutsch-polnischen Verhältnis ähnlich kommen. Es verlangt viel Geduld, viele feine, saubere, realistische Arbeit, Entgegenkommen, natürlich Objektivität, Einfühlungsvermögen. Allein schafft man es nicht. Man muss die ganze Kontextualität näher kennenlernen, denn manchmal hängt ja vom Kontext mehr ab als vom Text selbst. Und Schlesien betrachtete ich in dieser Hinsicht immer als ein Land, dem eine Vermittlerrolle zugekommen ist in diesem deutsch-polnischen Verhältnis. Denn hier kannte man eigentlich irgendwie das Geheimnis, das Herz beider Völker. Denn geschichtlich gesehen hatten wir dauernd diese Verbindungen. Hier in Großstein – zwölf Kilometer Luftlinie vom Sankt Annaberg - der Sankt Annaberg war immer ein Berg der Versöhnung zwischen diesen drei Völkern. Und insofern hatten wir hier ein gewisses Übungsfeld. Die Vergangenheit – die politische Vergangenheit, die geografische Vergangenheit, die ethnische Vergangenheit, die war hier eben in nuce, im Wesen, im Brennpunkt. Zum Beispiel am Sankt Annaberg: Die einzelnen Wallfahrten, die da abgehalten worden sind, sind eigentlich anfangs in drei Sprachen abgehalten worden. An einem Sonntag ging es dann später deutsch zu, den nächsten Sonntag polnisch und den übernächsten Sonntag die gleiche Wallfahrt tschechisch. Insofern kommt auf Schlesien, ganz besonders Oberschlesien, eine Mittlerfunktion zu und kann es als ein Versöhnungsmitglied dienen. Und das war auch der Fall.
Adler: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf Auschwitz. Sie sind öfter gefragt worden: Wo war Gott in Auschwitz? Was haben Sie da geantwortet?
Nossol: Am Kreuz, in den Menschen, die sich gegen den elektrisch bedrohten Draht geworfen haben, in den Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, weil es – menschlich genommen – nicht auszuhalten war. In dieser Hinsicht ein Beispielhaftes – ich weiß nicht, ob Sie damals mitgewesen sind beim Papstbesuch Benedikt XVI. in Auschwitz. Also, ich halte es für seine Meisterleistung, das war für ihn nicht leicht. Das hat er auch gleich zugegeben. Er sagte: Meinem Vorgänger Johannes Paul II. ist es einfacher gefallen, obwohl es auch traurig war. Er gehörte irgendwie zum Volk der Opfer, und ich komme aus dem Volk der Henker. Das hat er uns deutlich gesagt, dass er keine politischen Deutungen verwenden will. Er hat nämlich die Begriffe einmal oder zweimal angewandt "Schoah" und "Holocaust", aber sonst nichts. Er wollte theologisch religiös das tragischste Ereignis dieses Weltkrieges zu deuten versuchen. Und er meinte dann: Ich muss eben auch in meiner aktuellen Funktion, ich musste ja einfach kommen. Und ich muss auch jetzt die Frage stellen: Wo war Gott, als diese Todesfabrik so tragisch radikal gearbeitet hat? Wo war Gott? Und dann nach einer Weile sagte er: Am Kreuz. Und das kann dann nicht mehr hinterfragt werden. In jedem, der da gestorben ist, war er auch da. Und man hat es ihm im Westen übel genommen, dass er die Begriffe "Holocaust" und "Schoah" – beide –, dass er nicht direkt ideologisch oder politisch dazu Stellung genommen hat. Da sagte er: Nein, das lässt sich nicht auf diese oder andere Weise beschreiben, ich muss es versuchen, theologisch anzusprechen, denn auch für mich ist es ein unheimliches, ein tragisches Geheimnis. Alle Polen waren damit sehr zufrieden. Natürlich liefen die westlichen Berichterstatter Sturm. Ich musste sogar mit einer, die mich interviewt hat, weil sie alles schon – sie hatte eigentlich dieses Interview schon quasi fertig –, und weil ich nicht nach ihrer Zunge geredet habe, sagte ich: 'Wissen Sie, zum dritten Mal: Wir müssen es klarstellen, wer wird von uns interviewt, ich oder Sie? Wenn Sie alles wissen, rauben Sie mir bitte nicht die Zeit. Ich möchte auch zum Papst, ich möchte mit ihm reden. Und sehen Sie, ich muss jetzt hier Ihnen – und Sie widersprechen mir dauernd. Sie fragen mich doch, nicht ich frage Sie. Also wenn das noch weiter geht.' Und dann habe ich abgebrochen.
Adler: Also, das machen wir jetzt nicht. Wir machen das Interview der Woche für den Deutschlandfunk. Herr Bischof Nossol, Sie sind ja eine der wenigen Personen, die beide Päpste aus nächster Nähe kennen. Sie sind befreundet gewesen mit Johannes Paul II., Sie sind befreundet mit Benedikt XVI. Die Personen, Sie haben es gerade angesprochen, sind sehr, sehr unterschiedlich. Können Sie ein bisschen erläutern für Menschen, die sie nicht so gut gekannt haben – die beiden Päpste –, warum der eine so unglaublich populär war und der andere das vermutlich nie sein wird?
Nossol: Also, das ist das Verhältnis und die Differenz zwischen einem puren Theoretiker und einem zutiefst praktischen Menschen. Ratzinger war nie ein großer Seelsorger gewesen, er war eine Koryphäe, war ein profunder Wissenschaftler. Er gehört zu den größten Theologen, die wir bis dahin hatten. Er bemüht sich in klaren, einfachen Worten das zutiefst komplizierte theologische Wesen der Glaubenswahrheiten anzusprechen. Und das gelingt ihm. Sehen Sie, ich habe gebangt nach dem Tode Johannes Paul II.: Was wird jetzt aus den offiziellen Mittwochstreffen, Audienzen des Papstes werden, wo so viele Menschen gekommen sind, so viel Tausende. Und ich habe gebangt, das nimmt ab. Aber wissen Sie, es hat nicht abgenommen, es hat sogar noch zugenommen, der Zulauf. Früher kamen die Menschen auf den Petersplatz überwiegend deswegen. Sie wollten den Papst sehen. Und jetzt kommen sie: Sie wollen den Papst hören. Und Benedikt XVI. geht direkt ans Wesen ran, und seine profunden Kenntnisse der Philosophie, der Theologie, der ganzen Ökumene, der Literatur, auch die Sprachenkenntnisse. Das hatte natürlich Johannes Paul II. auch, aber er, Ratzinger, ist ja bereits das katholische Mitglied als Kardinal der Akademie Francais, seiner perfekten französischen Sprache wegen. Und sehen Sie, ich habe es ein paar Mal erlebt, ich habe ihn sogar übersetzt auch für unsere Geistlichen in Lublin. Er hatte manchmal ein lateinisches Manuskript und hat den Vortrag deutsch gelesen. Oder er hatte ein deutsches Manuskript und hat lateinisch gesprochen. Also in dieser Hinsicht ist er ein Genie, und das merkt man ihm an. Und ein zutiefst guter und demütiger Mensch. Und das ist Johannes Paul II. wirklich gelungen, dass er ihn zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt hatte. Er wollte nicht, denn er hat ja einmal abgesagt. Er will die Menschen, für die er Bischof werden musste, nicht enttäuschen. Erst nach drei Jahren ging er nach Rom, und Johannes Paul II. hat nicht nachgelassen. Er wusste, wen er in Ratzinger hat. Die beiden Päpste ergänzen sich sehr. Ein großer Wissenschaftler, aber mehr Philosoph, mehr Phänomenologe, als klassischer Theologe. Das war Johannes Paul II. nicht.
Adler: Geht man zu weit, wenn man sagt, dass Johannes Paul II. einfach der größere Politiker war?
Nossol: Jawohl, er war auch ein größerer Politiker als Ratzinger, ohne Weiteres. Er hat auch so manches gewagt. Zum Beispiel hat er den Ständigen Rat der polnischen Bischofskonferenz in der Zeit des Kriegszustandes zu sich in den Vatikan eingeladen. Mir nichts, dir nichts: Alle stimmberechtigten Mitglieder bekamen plötzlich den Reisepass und die Einreise. Wir durften hin! Und dort hat er uns auf so vieles aufmerksam gemacht, hat auch gesagt: Sie dürfen sich da politisch in der ganzen Solidaritätsbewegung nicht engagieren, aber Sie dürfen es auch nicht vergessen: Alle Probleme, alle Anliegen, die die Solidaritätsbewegung auf ihre Fahnen geschrieben hat, sind zutiefst menschliche Anliegen. Und diese menschlichen Anliegen, weil sie christlich zugleich sind, die müssen Sie angehen. Aber nicht als politisches Engagement, aber zutiefst christliches, auch im Hinblick auf die Solidarität, werden Sie mitmachen müssen.
Adler: Wenn man diesen Ansatz jetzt nimmt, Herr Bischof Nossol, sind Sie auch einverstanden mit dem zum Teil doch nach wie vor sehr sehr großen Engagement von polnischen Bischöfen in der Politik? Mit anderen Worten gefragt: Es gibt doch ein sehr, sehr enges Verhältnis zwischen zum Beispiel der Partei "Recht und Gerechtigkeit" und einzelnen Bischöfen, die – wenn man es vorsichtig ausdrückt – doch relativ stark polarisieren. Ist diese Form von Nähe zwischen Kirche und Politik, wie sie derzeit zum Teil geübt wird in Polen, etwas, was Ihnen gefällt, oder gehen die Kollegen damit möglicherweise zu weit?
Nossol: Mir gefällt sie nicht, aber ich verstehe sie. Geschichtlich genommen von vorneherein war die Kirche Polens mit der Politik Polens verbunden. Insofern war dauernd das Staatsanliegen in Polen irgendwie politisch verbunden. Und von vorneherein ist es auch Engagement. Man konnte so schlecht zwischen rein politischem und kirchlichem Anliegen differenzieren. Und deswegen fällt es einem echten Polen schwer, sich politisch zu enthalten, wenn er auch politisch oder kirchlich argumentiert. Mir sagt es persönlich nicht zu. Ich hasse es, ganz radikal gesagt, Politik mit Theologie, mit Kirchlichkeit zu verbinden.
Adler: Polen, das haben Sie gerade geschildert, Polen macht sehr aus, ein katholisches Land zu sein und ein konservatives Land zu sein. Wenn wir uns die Zahlen anschauen, wie die Besucher der Gottesdienste zurückgehen, in den letzten zehn Jahren um zehn Prozent, von 50 Prozent auf 40 Prozent, ist das eine Entwicklung, die Ihnen Angst macht?
Nossol: Sie macht mich traurig. Angst macht sie mir nicht, sie macht mich traurig. Aber das ist die Säkularisierungswelle, und um die kommt die Kirche nicht herum. Die hat es immer schon gegeben, in der Zeit der Aufklärung sah es noch trauriger aus. Natürlich, wir sind hier sehr empfindlich und wir denken, mein Gott, in diesem Fortschritt der Säkularisierung bangen wir gleich, wir bangen an erster Stelle um die Kirche. Das ist eigentlich falsch. Wir sollten nicht um die Kirche bangen. Wir glauben doch daran, die Pforten der Hölle werden sie nie überwinden. Wir müssen um den Menschen bangen, um die Welt bangen. Wenn sie sich wirklich total von Gott, dem absoluten Gut, entfremdet, wo steuert sie dann hin? Johannes Paul II. hat dann von der sogenannten Zivilisation des Todes geredet, die den Höhepunkt eigentlich in Auschwitz erhielt. Benedikt XVI. spricht von der Diktatur des Relativismus. Und dann ist es auch um den Menschen als geistiges Wesen geschehen, wenn wir dem Relativismus huldigen in jeder Hinsicht, wenn wir keinen absoluten Wert anerkennen. Und wir müssen auch unterscheiden zwischen Säkularisierung und Säkularismus. Säkularismus ist eine Ideologie. Säkularisierung ist ein normales, geschichtliches Anliegen. Schuld dran ist der Liebe Gott selbst. Er hat seinen Sohn mitten in die Welt geschickt.
Adler: Herr Bischof Nossol heute im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Herr Nossol, wenn wir auf den Ort, an dem wir uns jetzt hier treffen, nämlich in Kamien Slaski, in Großstein, also in Schlesien, dann ist das ein Ort, der geprägt ist auch von Diskussionen über das Unrecht der Vertreibung, wie Sie es immer genannt haben. Jetzt hat Ungarn in der vorigen Woche zum allerersten Male einen Gedenktag der Vertreibungsopfer begangen. Es gibt eine ganz starke Diskussion in Tschechien im Umfeld des Präsidentschaftswahlkampfes um Vertreibung als Unrecht, als Verbrechen. Glauben Sie, dass, wenn Deutsche und Polen auf dem Weg zu einem besseren Verhältnis zueinander sind, dass sie diese Diskussion noch einmal neu führen müssen?
Nossol: Neu, wie neu. Aber sie muss auch ergänzt werden. Man muss ja auch Realist bleiben. Nämlich jedes Volk, jedes Land hat das Anrecht, über die eigene Vertreibung zu diskutieren, auch sie geschichtlich plausibel zu machen, aufzuzeigen. Aber dann muss es auch ideologisch ganz realistisch zugehen, ideologisch also, was dazu getrieben hat. Bevor die großen Vertreibungen nach '45 stattgefunden haben, hatten schon so viele Vertreibungen in Mittel- und Osteuropa stattgefunden, wo die Wehrmacht die Länder einfach überfallen hat. Das muss auch mit gesagt werden. Und deswegen muss auch die Geschichte der Vertreibung nicht mit diesem Punkt Null beginnen, sondern schon mit der Vorgeschichte. Und in der Vorgeschichte sehen wir, dass es höchstwahrscheinlich zu den Vertreibungen nicht gekommen wäre, wenn nicht zuvor die mörderischen Vertreibungen auch stattgefunden hätten. Das ist die Realität. Bevor vielen Schlesiern die Heimat geraubt wurde, ist sie durch die SS, durch die Wehrmacht so vielen Menschen in Mittel- und Osteuropa auch schon geraubt worden. Eine gewisse Nachahmung. Natürlich, das ist keine Entschuldigung für die nächste Vertreibung.
Adler: Jetzt hat der Präsidentschaftskandidat Karel Schwarzenberg gesagt, für die Vertreibung, so wie sie nach '45 stattgefunden hat, würde man heute vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag landen.
Nossol: Nicht ausgeschlossen. Wenn es exakt zuginge, rein juristisch, dann ist es der Fall. Also, man hat es auch gerade so gemacht, weil die damalige Kontextualität vom gegenseitigen Hass geprägt war. Das, was da geschehen ist, da kommen wir wieder auf Auschwitz zurück, rein menschlich darauf zu antworten, da kann man gleich ins nächste Unrecht hineingeraten. Das ist eine Art psychologischer Antwort, die sich dann gleich bietet. Die Reflexion kann es dann erst zurechtweisen. Und man müsste diese unmittelbaren Reaktionen nach den Kriegsverbrechen – die Zeit ist vorbei. Wir müssten jetzt doch zutiefst menschlicher, rationalistischer, humaner handeln, eben – ich würde sagen – wissenschaftlicher, objektiver und nicht nur geprägt von der Emotion für oder dagegen.
Adler: An dem Tag, an dem heute der 68. Jahrestag der Befreiung des Lagers in Auschwitz begangen wird, muss man - oder kann man zumindest - auch über Antisemitismus sprechen, Antisemitismus, der in allen Ländern noch existiert, der auch in Polen existiert. Es ist vor Kurzem ein Film in den Kinos gelaufen über das Verbrechen in Jedwabne, der eine ungeheure Diskussion ausgelöst hat, auch eine sehr zugespitzte Reaktion, dass dieser polnischen Dorfbevölkerung dieses Verbrechen an jüdischen Mitbewohnern nachgewiesen werden konnte. Was zeigt Ihnen, Herr Bischof, diese Diskussion über Antisemitismus heute in Polen?
Nossol: Allein der Begriff Antisemitismus, der a priori anti ist, das ist schlecht. Man darf einem Menschen unwohl gesinnt sein wegen dieses oder jenes Verbrechens, aber wenn es eine apriorische Antibewegung ist und es bezieht sich auf die ganze Nation, auf die ganze Volksgruppe, dann ist es gefährlich. Natürlich, bei uns hier in Polen war es mit dem Antisemitismus nicht von vorneherein nach dem Krieg so einwandfrei, nämlich '46 in Kielce, da kam es auch zu einem Judenpogrom. Und das hat sich jetzt herausgestellt, das haben die Kommunisten inszeniert. Und alles bemüht sich jetzt, darauf hin zu deuten: Damals ging es schon los. Das war eigentlich nicht der Fall. Wissen Sie, jetzt endlich ist langsam die Zeit angebrochen, wo man auch in dieser Hinsicht objektiver bemüht ist, darüber zu handeln. Man ist bereit, Rede und Antwort zu stehen. Wir feierten am 17. Januar, also vergangene Woche, den Tag des Judaismus in Polen. Wir luden den israelischen Botschafter ein, den Oberrabbiner Polens. Ich versuchte plausibel zu machen: Ohne das erste Testament hätten wir nicht das zweite. Und sehen Sie, der erste, der eine Synagoge besucht hat in Rom war Johannes Paul II. Und dann auch an der Klagemauer. Ähnlich jetzt Benedikt XVI. an der Klagemauer, er hat die Synagoge auch besucht und nimmt auch rege teil an den religiösen Gesprächen zwischen allen großen Religionen der Welt. Und da ist in der Zwischenzeit enorm vieles geschehen. Ohne Dialog geht es nicht, denn der Dialog hilft, aus Feinden Gegner zu machen und Gegner in Freunde umzuschmieden. Und die Zukunft sieht in dieser Hinsicht bedeutend menschlicher aus.
Adler: Aber würden Sie sagen, dass die Polen, dass Johannes Paul II. mit seinem klaren Dialogbekenntnis, den Dialog mit den Juden zu führen, dass er da als Vorbild für die Glaubensbrüder in Polen nicht so richtig gesehen wird, dass er noch nicht wirklich Vorbild für Katholiken in Polen ist in dem Aufeinanderzugehen auf Juden?
Nossol: So allgemein darf man es nicht formulieren. Für eine Gruppe der Katholiken, für die radikal-nationalistisch, fast chauvinistisch Eingeengten, sie bewundern Johannes Paul II., aber seiner Lehre wollen sie nicht nachgehen. Er sagte auch oftmals, Patriotismus ist etwas Großartiges, aber Patriotismus muss eine Gestalt der Liebe und nicht des Hasses sein. Wir bauen dem Heiligen Vater gerne Denkmäler, aber sich so zutiefst in Gewalt seiner Lehre zu begeben, das wollen wir nicht, denn die Lehre ist ziemlich hart und sie ist sehr konsequent. Aber auch in dieser Hinsicht wird es immer besser. In der letzten Zeit ist vieles auch in dieser Hinsicht geschehen. Und das haben wir Johannes Paul II. zu verdanken. Ohne ihn hätte es dieses Verhältnis nicht gegeben, obwohl das Zweite Vatikanische Konzil in dieser Hinsicht auch absolut überzeugt war, da muss etwas Konkretes geschehen. Deswegen diese Deklaration über die Weltreligionen und wo der größte Teil dem Judentum geweiht wurde. Und da ist in der Zwischenzeit enorm viel Positives geschehen.
Adler: Ich möchte jetzt doch noch mal einen letzten Versuch unternehmen, eine Beschreibung von Ihnen zu bekommen des deutsch-polnischen Verhältnisses. Wo finden Sie, wo stehen unsere beiden Länder?
Nossol: Wenn ich dieses deutsch-polnische Verhältnis ins Visier genommen habe, wissenschaftlich, geschichtlich, theologisch, visionär, dann schwebte mir immer ein Schema vor, nämlich: Früher mal gab es ein sehr positives, quasi nachbarschaftliches Verhältnis. Der konkrete persönliche Beweis: Hedwig von Andechs, die kam nach Polen. Damals gehörte Niederschlesien dem polnischen Reich an und Hedwig von Andechs wurde mit dem schlesischen Piastenfürsten Heinrich dem Bärtigen vermählt.
Adler: Das war Jadwiga vor tausend Jahren.
Nossol: Vor tausend Jahren. Und jetzt, wo wir auch das deutsch-französische Verhältnis nachzuahmen versuchen, erreichen wir langsam diesen Punkt, wo wir nebeneinander leben möchten, aber eingestellt sind, füreinander zu leben, sich gegenseitig zu ergänzen. Der beste Weg dazu ist das vereinte Europa als Gemeinschaft des Geistes. Europa ist ein Antidoton gegen jedwede nationalistisch-chauvinistische und ethnische Einengung. Deswegen sollten wir der Vorsehung für das gemeinsame Europa dankbar sein.
Adler: Herr Bischof, ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch.
Nossol: Gern geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alfons Nossol: Gut? Wie gut? Aber es kann sich in gewisser Weise doch menschlich normalisieren. Natürlich, man muss hier Realist bleiben. Das war die größte Todesfabrik, die wir in Europa, vielleicht in der Welt hatten. Es ging da nicht, allgemein gesagt, um pure Feinde, aber diese Lust an der totalen Vernichtung Menschen dieser Rasse, dieses Volk. Und das war die Tragödie.
Adler: Wenn wir uns heute das Verhältnis ansehen: In dieser Woche haben wir zurückgeblickt auf 50 Jahre Elysèe-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich, unterschrieben vor 50 Jahren. Ist das Verhältnis, wie es zwischen Frankreich und Deutschland war, das ja nun auch eine wirklich schwere Geschichte hat, denken wir an den Ersten Weltkrieg, ist dieses Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ein Vorbild vielleicht zwischen Deutschland und Polen, oder haben wir das schon längst erreicht?
Nossol: In gewisser Hinsicht schon. Jedenfalls für mich war das französisch-deutsche, deutsch-französische Verhältnis und diese Aussöhnung zwischen den zwei Nachbarvölkern, die sich als "Erzfeinde" bezeichneten, dass das reell, dass das möglich geworden ist, das war für mich ein Ansporn, warum könnte es auch nicht bei dem deutsch-polnischen Verhältnis ähnlich kommen. Es verlangt viel Geduld, viele feine, saubere, realistische Arbeit, Entgegenkommen, natürlich Objektivität, Einfühlungsvermögen. Allein schafft man es nicht. Man muss die ganze Kontextualität näher kennenlernen, denn manchmal hängt ja vom Kontext mehr ab als vom Text selbst. Und Schlesien betrachtete ich in dieser Hinsicht immer als ein Land, dem eine Vermittlerrolle zugekommen ist in diesem deutsch-polnischen Verhältnis. Denn hier kannte man eigentlich irgendwie das Geheimnis, das Herz beider Völker. Denn geschichtlich gesehen hatten wir dauernd diese Verbindungen. Hier in Großstein – zwölf Kilometer Luftlinie vom Sankt Annaberg - der Sankt Annaberg war immer ein Berg der Versöhnung zwischen diesen drei Völkern. Und insofern hatten wir hier ein gewisses Übungsfeld. Die Vergangenheit – die politische Vergangenheit, die geografische Vergangenheit, die ethnische Vergangenheit, die war hier eben in nuce, im Wesen, im Brennpunkt. Zum Beispiel am Sankt Annaberg: Die einzelnen Wallfahrten, die da abgehalten worden sind, sind eigentlich anfangs in drei Sprachen abgehalten worden. An einem Sonntag ging es dann später deutsch zu, den nächsten Sonntag polnisch und den übernächsten Sonntag die gleiche Wallfahrt tschechisch. Insofern kommt auf Schlesien, ganz besonders Oberschlesien, eine Mittlerfunktion zu und kann es als ein Versöhnungsmitglied dienen. Und das war auch der Fall.
Adler: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf Auschwitz. Sie sind öfter gefragt worden: Wo war Gott in Auschwitz? Was haben Sie da geantwortet?
Nossol: Am Kreuz, in den Menschen, die sich gegen den elektrisch bedrohten Draht geworfen haben, in den Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, weil es – menschlich genommen – nicht auszuhalten war. In dieser Hinsicht ein Beispielhaftes – ich weiß nicht, ob Sie damals mitgewesen sind beim Papstbesuch Benedikt XVI. in Auschwitz. Also, ich halte es für seine Meisterleistung, das war für ihn nicht leicht. Das hat er auch gleich zugegeben. Er sagte: Meinem Vorgänger Johannes Paul II. ist es einfacher gefallen, obwohl es auch traurig war. Er gehörte irgendwie zum Volk der Opfer, und ich komme aus dem Volk der Henker. Das hat er uns deutlich gesagt, dass er keine politischen Deutungen verwenden will. Er hat nämlich die Begriffe einmal oder zweimal angewandt "Schoah" und "Holocaust", aber sonst nichts. Er wollte theologisch religiös das tragischste Ereignis dieses Weltkrieges zu deuten versuchen. Und er meinte dann: Ich muss eben auch in meiner aktuellen Funktion, ich musste ja einfach kommen. Und ich muss auch jetzt die Frage stellen: Wo war Gott, als diese Todesfabrik so tragisch radikal gearbeitet hat? Wo war Gott? Und dann nach einer Weile sagte er: Am Kreuz. Und das kann dann nicht mehr hinterfragt werden. In jedem, der da gestorben ist, war er auch da. Und man hat es ihm im Westen übel genommen, dass er die Begriffe "Holocaust" und "Schoah" – beide –, dass er nicht direkt ideologisch oder politisch dazu Stellung genommen hat. Da sagte er: Nein, das lässt sich nicht auf diese oder andere Weise beschreiben, ich muss es versuchen, theologisch anzusprechen, denn auch für mich ist es ein unheimliches, ein tragisches Geheimnis. Alle Polen waren damit sehr zufrieden. Natürlich liefen die westlichen Berichterstatter Sturm. Ich musste sogar mit einer, die mich interviewt hat, weil sie alles schon – sie hatte eigentlich dieses Interview schon quasi fertig –, und weil ich nicht nach ihrer Zunge geredet habe, sagte ich: 'Wissen Sie, zum dritten Mal: Wir müssen es klarstellen, wer wird von uns interviewt, ich oder Sie? Wenn Sie alles wissen, rauben Sie mir bitte nicht die Zeit. Ich möchte auch zum Papst, ich möchte mit ihm reden. Und sehen Sie, ich muss jetzt hier Ihnen – und Sie widersprechen mir dauernd. Sie fragen mich doch, nicht ich frage Sie. Also wenn das noch weiter geht.' Und dann habe ich abgebrochen.
Adler: Also, das machen wir jetzt nicht. Wir machen das Interview der Woche für den Deutschlandfunk. Herr Bischof Nossol, Sie sind ja eine der wenigen Personen, die beide Päpste aus nächster Nähe kennen. Sie sind befreundet gewesen mit Johannes Paul II., Sie sind befreundet mit Benedikt XVI. Die Personen, Sie haben es gerade angesprochen, sind sehr, sehr unterschiedlich. Können Sie ein bisschen erläutern für Menschen, die sie nicht so gut gekannt haben – die beiden Päpste –, warum der eine so unglaublich populär war und der andere das vermutlich nie sein wird?
Nossol: Also, das ist das Verhältnis und die Differenz zwischen einem puren Theoretiker und einem zutiefst praktischen Menschen. Ratzinger war nie ein großer Seelsorger gewesen, er war eine Koryphäe, war ein profunder Wissenschaftler. Er gehört zu den größten Theologen, die wir bis dahin hatten. Er bemüht sich in klaren, einfachen Worten das zutiefst komplizierte theologische Wesen der Glaubenswahrheiten anzusprechen. Und das gelingt ihm. Sehen Sie, ich habe gebangt nach dem Tode Johannes Paul II.: Was wird jetzt aus den offiziellen Mittwochstreffen, Audienzen des Papstes werden, wo so viele Menschen gekommen sind, so viel Tausende. Und ich habe gebangt, das nimmt ab. Aber wissen Sie, es hat nicht abgenommen, es hat sogar noch zugenommen, der Zulauf. Früher kamen die Menschen auf den Petersplatz überwiegend deswegen. Sie wollten den Papst sehen. Und jetzt kommen sie: Sie wollen den Papst hören. Und Benedikt XVI. geht direkt ans Wesen ran, und seine profunden Kenntnisse der Philosophie, der Theologie, der ganzen Ökumene, der Literatur, auch die Sprachenkenntnisse. Das hatte natürlich Johannes Paul II. auch, aber er, Ratzinger, ist ja bereits das katholische Mitglied als Kardinal der Akademie Francais, seiner perfekten französischen Sprache wegen. Und sehen Sie, ich habe es ein paar Mal erlebt, ich habe ihn sogar übersetzt auch für unsere Geistlichen in Lublin. Er hatte manchmal ein lateinisches Manuskript und hat den Vortrag deutsch gelesen. Oder er hatte ein deutsches Manuskript und hat lateinisch gesprochen. Also in dieser Hinsicht ist er ein Genie, und das merkt man ihm an. Und ein zutiefst guter und demütiger Mensch. Und das ist Johannes Paul II. wirklich gelungen, dass er ihn zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt hatte. Er wollte nicht, denn er hat ja einmal abgesagt. Er will die Menschen, für die er Bischof werden musste, nicht enttäuschen. Erst nach drei Jahren ging er nach Rom, und Johannes Paul II. hat nicht nachgelassen. Er wusste, wen er in Ratzinger hat. Die beiden Päpste ergänzen sich sehr. Ein großer Wissenschaftler, aber mehr Philosoph, mehr Phänomenologe, als klassischer Theologe. Das war Johannes Paul II. nicht.
Adler: Geht man zu weit, wenn man sagt, dass Johannes Paul II. einfach der größere Politiker war?
Nossol: Jawohl, er war auch ein größerer Politiker als Ratzinger, ohne Weiteres. Er hat auch so manches gewagt. Zum Beispiel hat er den Ständigen Rat der polnischen Bischofskonferenz in der Zeit des Kriegszustandes zu sich in den Vatikan eingeladen. Mir nichts, dir nichts: Alle stimmberechtigten Mitglieder bekamen plötzlich den Reisepass und die Einreise. Wir durften hin! Und dort hat er uns auf so vieles aufmerksam gemacht, hat auch gesagt: Sie dürfen sich da politisch in der ganzen Solidaritätsbewegung nicht engagieren, aber Sie dürfen es auch nicht vergessen: Alle Probleme, alle Anliegen, die die Solidaritätsbewegung auf ihre Fahnen geschrieben hat, sind zutiefst menschliche Anliegen. Und diese menschlichen Anliegen, weil sie christlich zugleich sind, die müssen Sie angehen. Aber nicht als politisches Engagement, aber zutiefst christliches, auch im Hinblick auf die Solidarität, werden Sie mitmachen müssen.
Adler: Wenn man diesen Ansatz jetzt nimmt, Herr Bischof Nossol, sind Sie auch einverstanden mit dem zum Teil doch nach wie vor sehr sehr großen Engagement von polnischen Bischöfen in der Politik? Mit anderen Worten gefragt: Es gibt doch ein sehr, sehr enges Verhältnis zwischen zum Beispiel der Partei "Recht und Gerechtigkeit" und einzelnen Bischöfen, die – wenn man es vorsichtig ausdrückt – doch relativ stark polarisieren. Ist diese Form von Nähe zwischen Kirche und Politik, wie sie derzeit zum Teil geübt wird in Polen, etwas, was Ihnen gefällt, oder gehen die Kollegen damit möglicherweise zu weit?
Nossol: Mir gefällt sie nicht, aber ich verstehe sie. Geschichtlich genommen von vorneherein war die Kirche Polens mit der Politik Polens verbunden. Insofern war dauernd das Staatsanliegen in Polen irgendwie politisch verbunden. Und von vorneherein ist es auch Engagement. Man konnte so schlecht zwischen rein politischem und kirchlichem Anliegen differenzieren. Und deswegen fällt es einem echten Polen schwer, sich politisch zu enthalten, wenn er auch politisch oder kirchlich argumentiert. Mir sagt es persönlich nicht zu. Ich hasse es, ganz radikal gesagt, Politik mit Theologie, mit Kirchlichkeit zu verbinden.
Adler: Polen, das haben Sie gerade geschildert, Polen macht sehr aus, ein katholisches Land zu sein und ein konservatives Land zu sein. Wenn wir uns die Zahlen anschauen, wie die Besucher der Gottesdienste zurückgehen, in den letzten zehn Jahren um zehn Prozent, von 50 Prozent auf 40 Prozent, ist das eine Entwicklung, die Ihnen Angst macht?
Nossol: Sie macht mich traurig. Angst macht sie mir nicht, sie macht mich traurig. Aber das ist die Säkularisierungswelle, und um die kommt die Kirche nicht herum. Die hat es immer schon gegeben, in der Zeit der Aufklärung sah es noch trauriger aus. Natürlich, wir sind hier sehr empfindlich und wir denken, mein Gott, in diesem Fortschritt der Säkularisierung bangen wir gleich, wir bangen an erster Stelle um die Kirche. Das ist eigentlich falsch. Wir sollten nicht um die Kirche bangen. Wir glauben doch daran, die Pforten der Hölle werden sie nie überwinden. Wir müssen um den Menschen bangen, um die Welt bangen. Wenn sie sich wirklich total von Gott, dem absoluten Gut, entfremdet, wo steuert sie dann hin? Johannes Paul II. hat dann von der sogenannten Zivilisation des Todes geredet, die den Höhepunkt eigentlich in Auschwitz erhielt. Benedikt XVI. spricht von der Diktatur des Relativismus. Und dann ist es auch um den Menschen als geistiges Wesen geschehen, wenn wir dem Relativismus huldigen in jeder Hinsicht, wenn wir keinen absoluten Wert anerkennen. Und wir müssen auch unterscheiden zwischen Säkularisierung und Säkularismus. Säkularismus ist eine Ideologie. Säkularisierung ist ein normales, geschichtliches Anliegen. Schuld dran ist der Liebe Gott selbst. Er hat seinen Sohn mitten in die Welt geschickt.
Adler: Herr Bischof Nossol heute im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Herr Nossol, wenn wir auf den Ort, an dem wir uns jetzt hier treffen, nämlich in Kamien Slaski, in Großstein, also in Schlesien, dann ist das ein Ort, der geprägt ist auch von Diskussionen über das Unrecht der Vertreibung, wie Sie es immer genannt haben. Jetzt hat Ungarn in der vorigen Woche zum allerersten Male einen Gedenktag der Vertreibungsopfer begangen. Es gibt eine ganz starke Diskussion in Tschechien im Umfeld des Präsidentschaftswahlkampfes um Vertreibung als Unrecht, als Verbrechen. Glauben Sie, dass, wenn Deutsche und Polen auf dem Weg zu einem besseren Verhältnis zueinander sind, dass sie diese Diskussion noch einmal neu führen müssen?
Nossol: Neu, wie neu. Aber sie muss auch ergänzt werden. Man muss ja auch Realist bleiben. Nämlich jedes Volk, jedes Land hat das Anrecht, über die eigene Vertreibung zu diskutieren, auch sie geschichtlich plausibel zu machen, aufzuzeigen. Aber dann muss es auch ideologisch ganz realistisch zugehen, ideologisch also, was dazu getrieben hat. Bevor die großen Vertreibungen nach '45 stattgefunden haben, hatten schon so viele Vertreibungen in Mittel- und Osteuropa stattgefunden, wo die Wehrmacht die Länder einfach überfallen hat. Das muss auch mit gesagt werden. Und deswegen muss auch die Geschichte der Vertreibung nicht mit diesem Punkt Null beginnen, sondern schon mit der Vorgeschichte. Und in der Vorgeschichte sehen wir, dass es höchstwahrscheinlich zu den Vertreibungen nicht gekommen wäre, wenn nicht zuvor die mörderischen Vertreibungen auch stattgefunden hätten. Das ist die Realität. Bevor vielen Schlesiern die Heimat geraubt wurde, ist sie durch die SS, durch die Wehrmacht so vielen Menschen in Mittel- und Osteuropa auch schon geraubt worden. Eine gewisse Nachahmung. Natürlich, das ist keine Entschuldigung für die nächste Vertreibung.
Adler: Jetzt hat der Präsidentschaftskandidat Karel Schwarzenberg gesagt, für die Vertreibung, so wie sie nach '45 stattgefunden hat, würde man heute vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag landen.
Nossol: Nicht ausgeschlossen. Wenn es exakt zuginge, rein juristisch, dann ist es der Fall. Also, man hat es auch gerade so gemacht, weil die damalige Kontextualität vom gegenseitigen Hass geprägt war. Das, was da geschehen ist, da kommen wir wieder auf Auschwitz zurück, rein menschlich darauf zu antworten, da kann man gleich ins nächste Unrecht hineingeraten. Das ist eine Art psychologischer Antwort, die sich dann gleich bietet. Die Reflexion kann es dann erst zurechtweisen. Und man müsste diese unmittelbaren Reaktionen nach den Kriegsverbrechen – die Zeit ist vorbei. Wir müssten jetzt doch zutiefst menschlicher, rationalistischer, humaner handeln, eben – ich würde sagen – wissenschaftlicher, objektiver und nicht nur geprägt von der Emotion für oder dagegen.
Adler: An dem Tag, an dem heute der 68. Jahrestag der Befreiung des Lagers in Auschwitz begangen wird, muss man - oder kann man zumindest - auch über Antisemitismus sprechen, Antisemitismus, der in allen Ländern noch existiert, der auch in Polen existiert. Es ist vor Kurzem ein Film in den Kinos gelaufen über das Verbrechen in Jedwabne, der eine ungeheure Diskussion ausgelöst hat, auch eine sehr zugespitzte Reaktion, dass dieser polnischen Dorfbevölkerung dieses Verbrechen an jüdischen Mitbewohnern nachgewiesen werden konnte. Was zeigt Ihnen, Herr Bischof, diese Diskussion über Antisemitismus heute in Polen?
Nossol: Allein der Begriff Antisemitismus, der a priori anti ist, das ist schlecht. Man darf einem Menschen unwohl gesinnt sein wegen dieses oder jenes Verbrechens, aber wenn es eine apriorische Antibewegung ist und es bezieht sich auf die ganze Nation, auf die ganze Volksgruppe, dann ist es gefährlich. Natürlich, bei uns hier in Polen war es mit dem Antisemitismus nicht von vorneherein nach dem Krieg so einwandfrei, nämlich '46 in Kielce, da kam es auch zu einem Judenpogrom. Und das hat sich jetzt herausgestellt, das haben die Kommunisten inszeniert. Und alles bemüht sich jetzt, darauf hin zu deuten: Damals ging es schon los. Das war eigentlich nicht der Fall. Wissen Sie, jetzt endlich ist langsam die Zeit angebrochen, wo man auch in dieser Hinsicht objektiver bemüht ist, darüber zu handeln. Man ist bereit, Rede und Antwort zu stehen. Wir feierten am 17. Januar, also vergangene Woche, den Tag des Judaismus in Polen. Wir luden den israelischen Botschafter ein, den Oberrabbiner Polens. Ich versuchte plausibel zu machen: Ohne das erste Testament hätten wir nicht das zweite. Und sehen Sie, der erste, der eine Synagoge besucht hat in Rom war Johannes Paul II. Und dann auch an der Klagemauer. Ähnlich jetzt Benedikt XVI. an der Klagemauer, er hat die Synagoge auch besucht und nimmt auch rege teil an den religiösen Gesprächen zwischen allen großen Religionen der Welt. Und da ist in der Zwischenzeit enorm vieles geschehen. Ohne Dialog geht es nicht, denn der Dialog hilft, aus Feinden Gegner zu machen und Gegner in Freunde umzuschmieden. Und die Zukunft sieht in dieser Hinsicht bedeutend menschlicher aus.
Adler: Aber würden Sie sagen, dass die Polen, dass Johannes Paul II. mit seinem klaren Dialogbekenntnis, den Dialog mit den Juden zu führen, dass er da als Vorbild für die Glaubensbrüder in Polen nicht so richtig gesehen wird, dass er noch nicht wirklich Vorbild für Katholiken in Polen ist in dem Aufeinanderzugehen auf Juden?
Nossol: So allgemein darf man es nicht formulieren. Für eine Gruppe der Katholiken, für die radikal-nationalistisch, fast chauvinistisch Eingeengten, sie bewundern Johannes Paul II., aber seiner Lehre wollen sie nicht nachgehen. Er sagte auch oftmals, Patriotismus ist etwas Großartiges, aber Patriotismus muss eine Gestalt der Liebe und nicht des Hasses sein. Wir bauen dem Heiligen Vater gerne Denkmäler, aber sich so zutiefst in Gewalt seiner Lehre zu begeben, das wollen wir nicht, denn die Lehre ist ziemlich hart und sie ist sehr konsequent. Aber auch in dieser Hinsicht wird es immer besser. In der letzten Zeit ist vieles auch in dieser Hinsicht geschehen. Und das haben wir Johannes Paul II. zu verdanken. Ohne ihn hätte es dieses Verhältnis nicht gegeben, obwohl das Zweite Vatikanische Konzil in dieser Hinsicht auch absolut überzeugt war, da muss etwas Konkretes geschehen. Deswegen diese Deklaration über die Weltreligionen und wo der größte Teil dem Judentum geweiht wurde. Und da ist in der Zwischenzeit enorm viel Positives geschehen.
Adler: Ich möchte jetzt doch noch mal einen letzten Versuch unternehmen, eine Beschreibung von Ihnen zu bekommen des deutsch-polnischen Verhältnisses. Wo finden Sie, wo stehen unsere beiden Länder?
Nossol: Wenn ich dieses deutsch-polnische Verhältnis ins Visier genommen habe, wissenschaftlich, geschichtlich, theologisch, visionär, dann schwebte mir immer ein Schema vor, nämlich: Früher mal gab es ein sehr positives, quasi nachbarschaftliches Verhältnis. Der konkrete persönliche Beweis: Hedwig von Andechs, die kam nach Polen. Damals gehörte Niederschlesien dem polnischen Reich an und Hedwig von Andechs wurde mit dem schlesischen Piastenfürsten Heinrich dem Bärtigen vermählt.
Adler: Das war Jadwiga vor tausend Jahren.
Nossol: Vor tausend Jahren. Und jetzt, wo wir auch das deutsch-französische Verhältnis nachzuahmen versuchen, erreichen wir langsam diesen Punkt, wo wir nebeneinander leben möchten, aber eingestellt sind, füreinander zu leben, sich gegenseitig zu ergänzen. Der beste Weg dazu ist das vereinte Europa als Gemeinschaft des Geistes. Europa ist ein Antidoton gegen jedwede nationalistisch-chauvinistische und ethnische Einengung. Deswegen sollten wir der Vorsehung für das gemeinsame Europa dankbar sein.
Adler: Herr Bischof, ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch.
Nossol: Gern geschehen.
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