Andreas Main: Zum wiederholten Male musste das Land Berlin Ende vergangenen Jahres einer Muslimin eine Entschädigung zahlen, weil sie wegen ihres Kopftuchs nicht in den Schuldienst übernommen wurde. Das Landesarbeitsgericht sprach der Frau eineinhalb Monatsgehälter zu. Sie sei aufgrund ihrer Religion benachteiligt worden.
Gleichwohl stellte das Gericht das Berliner Neutralitätsgesetz nicht infrage, das Polizisten, Justizmitarbeitern und Lehrern allgemeinbildender Schulen das Tragen religiös geprägter Kleidungsstücke im Dienst untersagt. Dieses Gesetz, es sei verfassungskonform auslegbar. Im konkreten Einzelfall sei allerdings keine Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität durch das Kopftuch erkennbar gewesen, so das Gericht.
Wir wollen nicht in die Berliner Landespolitik einsteigen, aber die hinlänglich bekannten Wünsche der Religionsgemeinschaften konfrontieren mit dem Wunsch eines erfahrenen Lehrers, der sagt: Schule muss neutral bleiben. Der Lehrer heißt Rainer Werner. Er arbeitete 30 Jahre lang als Lehrer für Deutsch und Geschichte an unterschiedlichen Schulen Berlins. Auch nach der Pensionierung hat er freiwillig unterrichtet. Ein Vollblutlehrer, der didaktische Bücher geschrieben hat und sich zu pädagogischen Themen in Tageszeitungen und im Rundfunk äußert. Das Gespräch mit Rainer Werner haben wir in unserem Berliner Funkhaus aufgezeichnet. Danke, Rainer Werner, dass Sie ins Studio gekommen sind, guten Morgen.
Rainer Werner: Guten Morgen.
Main: Herr Werner, um erst mal die Grundlagen zu schaffen: Was ist aus Ihrer Sicht der Kern des Neutralitätsgesetzes und der Stand der Rechtsprechung?
Werner: Das Neutralitätsgesetz hilft uns Lehrern im Grunde zu gewährleisten, dass die Schule und der Unterricht neutral durchgeführt werden. Es hält religiöse Konflikte von der Schule fern und auch vom Unterricht, wo ja die Kinder schutzlos den Lehrkräften ausgeliefert sind. Es gibt das sogenannte Überwältigungsverbot. Lehrkräfte dürfen die Schüler nicht mit ihrer eigenen Weltanschauung oder mit ihrem religiösen Bekundnis im Grund überrumpeln, weil sie in der Regel da keine Gegenwehr parat haben.
Bisher hat das Neutralitätsgesetz das hervorragend geschafft und es wurde auch von Lehrern nie beanstandet oder von Schülern und von Eltern schon gar nicht. Bis dann eben die Diskussion aufkam nach diesen diversen Urteilen, die Sie erwähnt haben, und die vor allem von grüner Seite, also von grünen Politikern losgetreten wurde und die nun das Neutralitätsgesetz entweder verändern oder aufweichen wollen.
"Lehrer müssen ihre Neutralität sichtbar machen"
Main: Was ist der Stand der Rechtsprechung aus Ihrer Sicht?
Werner: Also, wie Sie gesagt haben, wurde das Neutralitätsgesetz von Gerichten nie infrage gestellt. Es wurde nur zu bedenken gegeben, ob es nicht möglich sei, etwas mehr Toleranz walten zu lassen. Das heißt also zum Beispiel eine Lehrerin, die eine Muslima ist und die gerne aus religiöser Überzeugung ein Kopftuch tragen würde, ihr das zu gestatten.
Das Gericht hat sozusagen die Glaubensfreiheit, die auch im Grundgesetz gewährleistet ist durch Artikel 4, höher veranschlagt als das Gebot, vor den Kindern neutral aufzutreten und sich also im Grunde auch Kleidungsstücken zu enthalten, auch sich religiösen Symbolen zu enthalten, die im Grunde zu erkennen geben würden, welcher Glaubensrichtung die Lehrerin angehört.
Das sollen die Schüler im Grunde nicht wissen. Wie auch ein Bahnreisender nicht wissen soll, ob der Schaffner ein Hindu oder ein Buddhist oder ein Moslem ist. Deshalb trägt er auch ja eine Uniform, um die Neutralität auch zu bekunden. Aber da Lehrer keine Uniform tragen, müssen sie sich sozusagen religiöser Symbole oder auch Kleidungsstücke enthalten, um die Neutralität eben für alle, die im Schulleben beteiligt sind, auch für die Eltern, sichtbar zu machen.
"Manchmal tragen schon zehnjährige Kinder ein Kopftuch"
Main: Der Knackpunkt in der ganzen Frage scheint mir ja die Begründung des Gerichts zu sein, wenn es sagt, eine Lehrerin mit Kopftuch gefährdet nicht den Schulfrieden. Würden Sie so weit gehen und aus der Praxis heraus das Gegenteil behaupten, also dass eine Lehrerin mit Kopftuch den Schulfrieden gefährdet?
Werner: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Sondern Unterricht spielt sich auch quasi viel subtiler ab. Ich will es an einem Beispiel erläutern. In der Grundschule – gerade in Berlin, wahrscheinlich auch in anderen Großstädten – sitzen inzwischen viele Mädchen, die dem muslimischen Glauben angehören und die von ihren Eltern gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Manchmal tragen schon zehn-/elfjährige Kinder ein Kopftuch, weil ihnen das verordnet worden ist.
So, wenn nun eine Grundschullehrerin auftreten würde, die selbst ein Kopftuch trägt, dann würde diesen Mädchen signalisiert: Es ist doch alles in Ordnung, auch die Lehrerin trägt ein Kopftuch. Während ich der Meinung bin, eine Lehrerin, die muss zuerst signalisieren, dass Bildung wichtig ist und nicht ein religiöses Bekenntnis. Und gerade für muslimische Mädchen ist der Aufstieg durch Bildung essentiell. Durch Bildung können die alles gewinnen.
Deshalb habe ich muslimische Mädchen auch immer darin unterstützt, auf alle Fälle Abitur zu machen. Wenn sie nämlich dann einen akademischen Beruf ergreifen, dann können sie ein für alle Mal dem patriarchalischen Familienverband entkommen und eigenbestimmt leben, auch einen eigenen Partner suchen usw. Und das würde eine weltanschaulich neutrale Lehrerin eher unterstützen als eine, die ein Kopftuch trägt. Die würde eher den rückwärtsgewandten Gedanken befördern. Und das kann doch nicht im Sinne der Kinder sein.
"Wir stellen uns mal vor, eine Muslima wäre Richterin"
Main: Wir haben jetzt mehrfach den Begriff "neutral" benutzt. Ich halte jetzt einfach mal dagegen: Kein Mensch ist neutral. Wenn eine Lehrerin mit Kopftuch nicht versucht, die Kinder zu missionieren, dann könnte man doch sagen, sie ist neutral, obwohl sie ein Kopftuch trägt.
Werner: Ich will es mal an einem anderen Beispiel erläutern, was im Grunde noch sinnfälliger ist. Wir stellen uns mal vor, eine Muslima wäre Richterin. Das Neutralitätsgesetz gilt ja auch für andere staatliche Bereiche, nicht nur für Schulen, sondern auch für Gerichte und für die Polizei.
Und wenn diese Richterin nun einen Jugendlichen aburteilen müsste, der aus einer arabischen Familie stammt und der Autos gestohlen hat und das Urteil würde milde ausfallen – in der Meinung der Öffentlichkeit –, dann würde ihr sofort unterstellt werden, sie hätte sozusagen einen Glaubensgenossen aus ihrer Glaubensgemeinschaft bevorzugt, indem sie ihn milde abgestraft hat – was gar nicht stimmen muss. Vielleicht ist es gerichtlich oder juristisch geboten, ein mildes Urteil zu fällen in diesem Fall. Gerade bei Jugendlichen. Die müssen ja eine zweite Chance bekommen.
Übertragen auf die Schule will man das einfach verhindern. Auch die Lehrer können Noten geben und müssen Noten geben. Und mit der Notengebung verteilen sie auch Sozialchancen, Berufschancen für die Zukunft. Und um das im Grunde unanfechtbar zu machen, sollten im Grunde religiöse Bekundungen außen vor bleiben, genauso Symbole und Kleidung.
"Schüler müssen besonders geschützt werden"
Main: Aber können wir den Kindern und Jugendlichen nicht zutrauen, dass sie das trennen können, also, dass sie erkennen, dass das eine die Religiosität einer Frau ist, und das andere ist der Inhalt und der Schulstoff, den sie vermittelt?
Werner: Ich würde sagen, einem Schüler, der in der gymnasialen Oberstufe ist, dem kann man das zutrauen. Aber kleine Kinder, Grundschüler oder auch Schüler der Sekundarstufe I können das eben noch nicht. Und die müssen besonders geschützt werden.
Und ich frage mich: Warum muss denn eine Frau, die Lehrerin werden will und eine Muslima ist, partout einfach das Kopftuch tragen? Sie könnte es doch vorher abnehmen und sagen: Okay, wenn ich aus dem Klassenzimmer rausgehe und auf mein Fahrrad steige und nach Hause fahre, dann trage ich das Kopftuch wieder. Da fällt ihr doch kein Zacken aus der Krone. Sie bleibt doch Muslima.
Ich finde, der Glaube ist doch was Inwendiges, egal von welcher Glaubensgemeinschaft. Er hat etwas mit dem Herzen zu tun. Es hängt doch nicht davon ab, ob man nun den Gegenstand trägt, die Halskette trägt oder den Sticker oder meinetwegen das Kleidungsstück.
"Das konservative Lager verteidigt das Neutralitätsgesetz"
Main: Der Pädagoge Rainer Werner im Deutschlandfunk im Gespräch über Neutralität und Religion in Schulen hierzulande. Sie haben eben die Grünen erwähnt, dass die hier in Berlin dazu neigen, das Neutralitätsgesetz aufweichen zu wollen. Es war ja eigentlich immer so, dass die Anhänger des Neutralitätsgesetzes eher dem linken Lager zugehörten. Von daher entsteht da jetzt eine gewisse Verwirrung. Wo sehen Sie die Gegner und wo sehen Sie die Sympathisanten dieses Neutralitätsgesetzes?
Werner: Also, ich würde sagen, das ganze konservative Lager möchte das Neutralitätsgesetz verteidigen. Da hat sich wirklich ein Wechsel, ein Paradigmenwechsel vollzogen.
Main: Aber die SPD ist auch noch in dem Lager?
Werner: Die SPD ist gespalten. Es gibt zum Beispiel die Senatorin für Schulwesen, die Sandra Scheeres, die möchte an dem Gesetz festhalten. Es gibt aber linke Abgeordnete in der Fraktion, die dann eher mit den Grünen stimmen würden, wenn es darauf ankäme, das Gesetz zu kippen, weil sie sagen: Toleranz über alles.
"Sie haben ihre Haare frei flattern lassen"
Main: Rainer Werner, Sie haben mal geschrieben, dass es mit Blick auf türkischstämmige Schüler einst, als Sie Junglehrer waren, dass es da um Rabaukentum ging und um ähnliche Konflikte, die vor allem auch mit der sozialen Stellung der Herkunftsfamilie zu tun hatten. Jetzt seien die meisten Konflikte scheinbar religiös grundiert. Beschreiben Sie das mal aus dem Alltag. Wie erleben Sie diese Veränderung?
Werner: In den 80er Jahren war ich an einer Gesamtschule im Berliner Märkischen Viertel. Und das war damals ein Brennpunktgebiet und der Ausländeranteil war sehr hoch mit 50 bis 60 Prozent. Von diesen Ausländern waren 90 Prozent Muslime. Und da hat – ich kann es heute noch kaum fassen, wenn ich zurückdenke, ich habe auch mit Kollegen darüber gesprochen – kein muslimisches Mädchen hat ein Kopftuch getragen. Sie haben ihre Haare frei flattern lassen und haben sich genauso gekleidet wie die deutschen Mädchen.
Und die Jungs waren eben, ähnlich wie die deutschen Jungs, sportbetont und körperbetont. Rangeleien waren an der Tagesordnung. Wenn es Konflikte gab, dann weil sie einfach die Grenzen überschritten haben. Und wir haben das dann immer auf ihre Herkunft geschoben, und zwar nicht auf die religiöse Herkunft, sondern auf die soziale Herkunft.
Und das hat sich geändert, ich würde sagen, nach dem einschneidenden Datum 11.09.2001, also der Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Da kamen ja anschließend zwei Kriege, nämlich in Afghanistan und im Irak. Und das hat den Islam weltweit in Aufruhr versetzt.
"Dann schicke ich sie lieber in die Türkei zurück"
Main: Das erleben Sie auch quasi auf dem Schulhof?
Werner: Und das haben wir erlebt, dass dann sozusagen auch im politischen Unterricht die Schüler, die muslimischen Schüler plötzlich gegen die USA polemisiert haben, natürlich auch gegen Israel, die ja mit den USA verbündet waren. Aber auch gegen die deutsche Regierung, weil die sich zwar am Irak-Krieg nicht beteiligt hat, aber immerhin am Afghanistan-Krieg.
Main: Israel im Übrigen auch nicht.
Werner: Ja, genau. Das war mehr die politische Bekundung der Schüler. Aber es gab noch eine andere Form der Einflussnahme, nämlich, dass plötzlich Schülerinnen, muslimische Schülerinnen aufgetreten sind und sich geweigert haben, am Schwimmunterricht, am Sportunterricht insgesamt teilzunehmen, dass sie einen Schrieb ihrer Eltern mitgebracht haben, dass sie bei der Klassenfahrt nicht beteiligt sein können oder Schulfeste nicht besuchen dürften, um sozusagen vor sündigen Einflüssen, die dort stattfinden, geschützt zu werden.
Ich habe da sogar einen Vater erlebt, der hat es so begründet, er hat gesagt: Meine Tochter hat einen Körper und der Körper darf anderen Schülern nicht gezeigt werden. Und, wenn sie am Sportunterricht sich beteiligen muss, dann schicke ich sie lieber in die Türkei zurück, um sie dort an eine türkische Schule zu geben. Dort können Mädchen vom Sportunterricht befreit werden. Und das hat der Vater gemacht. Und er hat dem Mädchen die Chance, in Deutschland ein Abitur zu machen, geraubt.
"Warum sollen wir das Rad der Geschichte zurückdrehen?"
Main: Aber sind das nicht am Ende – trotz dieses individuell für das Mädchen wahrscheinlich dramatischen Schicksals – sind das nicht am Ende des Tages alles Bagatellen, die wir hinnehmen müssen, weil es ja auch ein hohes Gut ist, in einer pluralen Gesellschaft abweichendes Verhalten zu ertragen und auszuhalten?
Werner: Ich bin durchaus dieser Meinung, dass man gerade auch im schulischen Bereich, wo ja Toleranz auch ein Bildungsziel ist, dass man tolerant sein muss. Aber wenn man all diese Vorfälle zusammenfasst, dann kommt man nicht umhin, um doch eine politische Agenda zu vermuten, dass zum Beispiel auch die Islamverbände da im Grunde Eltern und Schüler instrumentalisieren, um die Schule in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Das hat man jetzt jüngst gemerkt: Beim letzten Ramadan ist in Deutschland eine Diskussion entstanden, weil Islamverbände gefordert haben, zum Beispiel Klassenarbeiten während des Ramadans zu unterlassen, weil die Kinder unterzuckert seien und sie könnten dann nicht die volle Leistung bringen, was sie dann benachteiligt.
Und als Höhepunkt ist hier ein Fall aufgetreten, dass ein Vater zu einem Direktor einer Sekundarschule gekommen ist und ihn aufgefordert hat, aus der Klasse, wo seine beiden Söhne sitzen, die Lehrerinnen abzuziehen, weil die Lehrerinnen sozusagen bei den Söhnen weniger Respekt genießen als eben männliche Lehrer. Und das würde bedeuten, dass der Schüler dann weniger lernt.
Und das muss man sich einfach mal vorstellen. In Deutschland wurde der Lehrerberuf vor 150 Jahren für Frauen geöffnet. Warum sollen wir das Rad der Geschichte zurückdrehen um diese lange Zeit und wieder bei null anfangen?
Auch Kreuz und Kippa "widersprechen dem Neutralitätsgesetz"
Main: Der Pädagoge Rainer Werner im Deutschlandfunk im Gespräch über die neutrale staatliche Schule. Herr Werner, in der Praxis, im Schulalltag, von dem Sie gerade berichtet haben: Wie oft sind Ihnen Kolleginnen und Kollegen begegnet mit deutlich sichtbaren Kreuzen?
Werner: Ich würde sagen eher wenige. Ein paar gibt es. Allerdings sind die Kreuze dann nicht sehr groß. Sie sind nicht sehr demonstrativ. Aber es kommt durchaus vor, dass Frauen, Männer weniger, aber Frauen Kreuze tragen, um zu signalisieren, dass sie Christinnen sind.
Main: Widerspricht das dem Neutralitätsgesetz?
Werner: Ich würde sagen: Gleiches Recht für alle. Es widerspricht dem Neutralitätsgesetz. Genauso wie die Kippa eines jüdischen Lehrers, wenn er denn an einer staatlichen Schule auftreten würde. Oder …
Main: Die hätte er dann auch abzusetzen?
Werner: Die hätte er dann auch abzusetzen. Sonst könnten wir den muslimischen Frauen das Kopftuchverbot nicht schmackhaft machen, wenn gleichzeitig Christen oder andere Religionsgemeinschaften ihre Kleidungsstücke dann tragen dürften.
Religions- statt Ethikunterricht
Main: Es gibt den Sonderfall, dass es einen konfessionellen Religionsunterricht in staatlichen Schulen gibt. Wenn jetzt eine Ordensfrau oder ein Benediktinermönch als Beispiel zum Religionsunterricht geht, durch das Gebäude, die staatliche Schule, darf er dann ein Ordensgewand oder sie ein Ordensgewand tragen?
Werner: Aber selbstverständlich. Wenn der Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach ist, was sogar im Grundgesetz garantiert ist in Artikel 7, dann darf er natürlich in jedem Habit, in jedem Aufzug kann er dann in die Schule kommen, den Unterrichtsraum aufsuchen, wo der Religionsunterricht stattfindet und dann eben diesen Religionsunterricht nach seinen Regeln, nach den Regeln seiner Religionsgemeinschaft durchführen, weil der Staat ihm nicht hineinreden kann.
Main: Das würde dann eben auch bedeuten, in einem islamischen Religionsunterricht würden Sie eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch akzeptieren?
Werner: Ja, auf alle Fälle. Deshalb bin ich ja ein großer Vertreter des Religionsunterrichts. Ich habe es auch schlecht gefunden, dass der Ethik-Unterricht eingeführt wurde, weil das im Grunde die Dimension der Religion, nämlich die transzendente oder metaphysische Dimension der Religion verkürzt auf ein freundliches Miteinander. Das ist der Grundmodus des Ethik-Unterrichts. Und das ist für meine Begriffe zu wenig für Kinder, die nach einem Sinn, nach einem Lebenssinn fragen.
Deshalb möchte ich gerne, dass der Religionsunterricht wiederbelebt wird, und zwar von möglichst allen Religionsgemeinschaften, die es in einer Großstadt gibt. Die sollen quasi ein Angebot unterbreiten und dann können die Schüler aussuchen, welchen Religionsunterricht sie aufsuchen. Und dann werden sie dort mit den Grundtatsachen, den Glaubensvorstellungen dieser Religionsgemeinschaften vertraut gemacht.
"Das verkürzt die Religion"
Main: Also, ein eindeutiges Plädoyer für den konfessionellen Religionsunterricht. Es hat in jüngster Zeit immer wieder mal Forderungen gegeben, den konfessionellen Religionsunterricht möglichst ganz abzuschaffen. Der Integrationsexperte Ahmad Mansour zum Beispiel hat das jüngst in dieser Sendung getan. Aber auch die bayrische FDP und sicher auch andere, die dafür plädieren, stattdessen einen Religionskundeunterricht für alle Schüler einzuführen. Was haben Sie gegen diese Idee, die doch auch vielen erst mal plausibel erscheinen dürfte?
Werner: Aber das macht doch im Grunde der Ethikunterricht. Der Ethikunterricht hat außer philosophischen Tatbeständen alle Weltreligionen sozusagen im Blick, aber eben verkürzt um den Glauben, weil natürlich ein Sozialkundelehrer, der dann das Christentum erklären muss, der erklärt es nicht so wie ein Religionslehrer, der selbst Christ ist, sondern er erklärt es so, wie man sozusagen das Grundgesetz erklärt oder eine chemische Formel, nämlich als Wissenstatbestand. Das verkürzt die Religion.
Aber die Religion hat immer eine Dimension der Transzendenz. Und das ist für Schüler, für Heranwachsende wichtig. Die wollen doch wissen: Woher komme ich und wohin gehe ich? Was geschieht nach dem Tod mit mir? Und da kann nur eine Religion eine bündige Antwort geben. Und deshalb halte ich den Religionsunterricht gerade auch unter philosophischen Gesichtspunkten für sehr viel wertvoller als einen Religionskundeunterricht, wo nur Wissen vermittelt wird oder als den Ethikunterricht, wo das sozusagen herunterbuchstabiert wird auf die unmittelbare Lebenswelt.
"Im Unterricht haben religiöse Bekundungen nichts verloren"
Main: Ich fasse das mal für mich so zusammen: Sie sind Vollblutlehrer. Sie sind ein großer Anhänger der staatlichen säkularen Schule, was nicht ausschließt, dass es kirchliche oder islamische oder jüdische Schulen gibt. Und vor diesem Hintergrund ist Ihnen Religion so wichtig, dass Sie sagen: Das darf nicht alles vermischt und verwaschen werden. Ist das ungefähr richtig versucht zusammenzufassen?
Werner: Ja. Und deshalb ist eine klare Trennung wichtig. Im reinen Fachunterricht, ob das nun Spanisch ist oder Chemie oder Physik oder Musik, dort haben religiöse Bekundungen, genauso weltanschauliche Bekundungen nichts verloren. Die gehören nur in den konfessionellen Unterricht, nämlich in den Religionsunterricht. Dort haben sie ihren Platz. Und das muss quasi ein junger Mann oder eine junge Frau, die Lehrer oder Lehrerin werden wollen, wissen.
Also, wenn ich zum Beispiel – ich versetze mich jetzt mal in den Kopf einer Frau, die Muslima ist, wenn sie nun partout Lehrerin werden will, dann muss sie überlegen: Kann ich das werden, ohne, dass ich dann mit meinem Kopftuch in den Unterricht gehen will, um das zu bekunden? Wenn ich das Kopftuch unbedingt brauche für meine Identität oder für meine religiöse Glaubensüberzeugung, dann muss ich entweder in eine Privatschule gehen, die von Muslimen betreut wird …
Main: Oder auch in eine katholische Schule, die hat da auch kein Problem mit.
Werner: Zum Beispiel, ja. Oder eben ich muss in den muslimischen Religionsunterricht, der ja in manchen Bundesländern auch schon angeboten wird. Dort ist dann der richtige Platz, aber nicht im weltlichen Unterricht.
"Warum nicht auch die Weltanschauung?"
Main: Abschließend kehren wir noch mal zum Ausgangspunkt zurück, zum Neutralitätsgebot. Würde das übermorgen in Berlin komplett abgeschafft, wie es eben Teile der Regierungskoalition wollen, was würde dann im Schulalltag konkret passieren?
Werner: Auf Anhieb würde sich wahrscheinlich wenig ändern. Es würde aber ein schleichender Prozess einsetzen, dass dann glaubensfeste Menschen unterschiedlicher Religionen – da zähle ich jetzt auch die Christen dazu –, dass die im Grunde die Gunst der Stunde nutzen würden, um, wenn sie Lehrer geworden sind, durch Symbole, durch auch Äußerungen, die sie tätigen, und durch Kleidungsstücke, die sie tragen, quasi ihrer religiösen Identität Ausdruck zu verleihen.
Main: Vielleicht sogar auch politische Überzeugung.
Werner: Das ist der entscheidende Punkt. Wenn zum Beispiel die religiöse Bekundung erlaubt wäre, dann könnte sofort ein Weltanschauungsverband oder eine politische Partei kommen und sagen: Warum nicht auch die Weltanschauung? Dann kommt Greenpeace und sagt: Ja, Lehrer müssen unseren Sticker tragen dürfen. Und so weiter.
Das heißt, dann wäre die Büchse der Pandora geöffnet auch für weltanschauliche Symbole und für Sticker von politischen Parteien. Und was wäre dann, wenn die AfD dann auf den Plan tritt, ihre Anhänger auffordert, Lehrer zu werden, weil dann eine gute Beeinflussungsmöglichkeit gegeben ist, im normalen Fachunterricht immer zu signalisieren: Schaut, ich bin in der richtigen Partei.
"Dann hätten wir einen Kulturkampf"
Main: Und das würde dann wiederum jene auf den Plan rufen, die, wenn die Büchse der Pandora geöffnet ist – wie Sie es formuliert haben – die versuchen würden, Religionsgemeinschaften eher noch stärker aus der Öffentlichkeit herausdrängen zu wollen.
Werner: Ja. Dann hätten wir im Grunde einen Kulturkampf, wie wir ihn im 19. Jahrhundert hatten unter Bismarck, der ja der deutschen Gesellschaft nicht gutgetan hat. Und deshalb plädiere ich dafür, ein Gesetz wie das Neutralitätsgesetz, das 2005 – also, das Berliner Gesetz wurde 2005 erlassen, ist jetzt 14 Jahre alt und es hat sich bestens bewährt. Und warum soll ein Gesetz, das im Grunde bisher den Frieden in der Schule gewährleistet hat, partout aufgeweicht oder verändert werden?
Main: Würden Sie womöglich sogar so weit gehen, das auch anderen Bundesländern, die es nicht haben, zu empfehlen?
Werner: Ja, unbedingt.
Main: Rainer Werner, ehemaliger Lehrer und Autor diverser pädagogischer Fachbücher zur Debatte rund um Neutralitätsgesetze, ganz herzlichen Dank.
Werner: Keine Ursache.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.