Der 38-jährige Valerij trommelt nervös gegen das Lenkrad. Er ist schon vor über einem Tag in Charkiw in der Ostukraine losgefahren, 1100 Kilometer haben er, seine Frau und die beiden Töchter hinter sich. Nun wird es ernst:
"Wir haben die Hotels zwölf Tage im Voraus gebucht. Denn ohne Buchung dürfen wir nicht über die Grenze. Wenn es jetzt Probleme gibt oder sie uns sogar zurückschicken, dann verlieren wir sehr viel Geld."
Die vierköpfige Familie will ohne Visa in die EU einreisen. Das ist für Ukrainer seit gestern möglich, wenn sie einen Pass mit biometrischen Angaben haben, also mit einem Chip, der unter anderem ihre Fingerabdrücke speichert. Noch fünf Autos stehen vor der Familie in der Schlange, dann werden sie die polnischen Grenzbeamten kontrollieren, am ukrainisch-polnischen Übergang bei Medyka. Valerij ist Unternehmer, er handelt mit Milchprodukten. Jahrelang hat seine Familie für diese Reise gespart. Seine Tochter Daryna wird in wenigen Tagen 15, dann wollen sie alle in Venedig sein. Die Visumsfreiheit hätten sich die Ukrainer verdient, meint Valerij:
"Wir strengen uns an, ein europäisches Land zu werden. Es liegt noch viel im Argen. Aber sehen Sie sich zum Beispiel die neue Polizei an. Sie nimmt kein Schmiergeld mehr und ist nett, wenn man Hilfe braucht."
Genaue Kontrollen an den Grenzen
Die Grenzbeamten sind genau: Die Familie muss das ganze Gepäck aus dem Kofferraum nehmen und auf eine Holzpritsche legen. Auch die Kartons mit Nudeln und Reis: Die Verpflegung von zu Hause soll die Reise ein bisschen billiger machen.
Ukrainer können seit gestern zwar ohne Visum in den Schengen-Raum einreisen, aber nur für 90 Tage und nur als Besucher. Wenn sie in der EU arbeiten oder studieren wollen, brauchen sie weiterhin ein Visum, sagt Monika Rosicka-Gargol, Mitarbeiterin des polnischen Grenzschutzes in Medyka:
"Ukrainische Bürger müssen genügend Geld für seinen Aufenthalt in der EU vorweisen können, Bar oder mit einer Bescheinigung von der Bank. Wer der Ukrainer ein Tourist ist, kontrollieren wir seine Hotelbuchungen. Wenn er eine Privatperson besucht, muss er eine Einladung vorlegen."
Auch die Zollbeamten in Medyka schauen seit gestern noch genauer hin. Ein Schäferhund beschnüffelt ein Auto rundherum. In der Ferne ist die Sirene aus der Halle für die Lastwagen zu hören. Sie würden dort genau durchleuchtet, um den Schmuggel so weit wie möglich einzudämmen, sagt Zollbeamtin Edyta Chabowska:
"Vor drei Jahren haben wir genau hier eine Rekordmenge an Heroin sichergestellt - 150 Kilogramm. Wir liegen hier also an einem wichtigen Weg für Schmuggelware. Ein neuer Trend im vergangenen Jahr waren lebende Flusskrebse, die vor allem für Restaurants in Deutschland bestimmt waren."
Keine Einreise ohne Pass mit biometrischen Angaben
Der Andrang an der ukrainisch-polnischen Grenze war gestern nur wenig größer als sonst. Für die nächsten Wochen rechnen die polnischen Behörden mit einem Anstieg der Reisenden um zehn Prozent. Ein Grund: Erst 3,5 Millionen Ukrainer haben einen Pass mit biometrischen Angaben. Wer einen solchen Pass beantragt, wartet derzeit mindestens ein Monat. Den anderen Grund erfährt, wer sich hinter der Grenze umhört. So in einem kleinen Park in der ukrainischen Kleinstadt Horodok. Ljudmila Iwaniwna und ihr Mann ruhen sich auf einer Bank aus:
"Wir haben die Visafreiheit bekommen, aber in den vergangenen Jahren sind die Kommunalabgaben stark gestiegen und die Lebensmittel teurer geworden. Viele können es sich einfach nicht leisten, in den Westen zu reisen. Trotzdem: Wir fühlen uns jetzt freier."
Trotzdem wollen auch die beiden bald nach Polen reisen: Die 30-jährige Lyudmilla ist hochschwanger. Sie hat sich deshalb schon in einer Geburtenklinik im ostpolnischen Rzeszow angemeldet:
"Viele Menschen von hier haben dort schon ihre Kinder geboren. Die medizinische Versorgung ist in Polen einfach auf einem höheren Niveau. Bei uns ist es ja schon ein Problem, die nötigen Impfstoffe für das Kind zu besorgen."
Die Ukraine rückt durch die neue Visaregelung näher an die EU heran. Experten befürchten, dass das auch negative Folgen für das Land haben könnte. Noch mehr Ukrainer könnten, wenn sie den reicheren Westen gesehen haben, ihr Land verlassen wollen, fürchtet Anna Dabrowska, die im ostpolnischen Lublin Projekte für ukrainische Migranten organisiert:
"Ich mache mir Sorgen, dass die Ukraine einfach nach und nach alle vernünftigen, aktiven Menschen verliert. Denn die gehen ja als erste. Das geht seit langem, aber das könnte nun noch viel schneller entwickeln."
Auch für Polen, wo schon jetzt Hunderttausende Ukrainer arbeiten, wird der Kampf um die Fachleute aus dem Osten härter. Die könnten bald weiter Richtung Westen ziehen.
Auf Valerij und Oksana, die Familie aus Charkiw, trifft das nicht zu. Sie wollen nur ein bisschen Urlaub machen im Westen. Nach zwei Stunden an der Grenze haben sie es geschafft: Die beiden klatschen ab vor Freude. Die polnischen Grenzer hatten bei ihnen nichts zu beanstanden. Für sie geht es - ganz ohne Visum - weiter Richtung Venedig.