Silvia Engels: Ja, in den vergangenen Tagen wurde viel protestiert in Europa. In Portugal, Griechenland, Spanien oder auch in Frankreich gingen vorwiegend junge Menschen auf die Straße. Angesichts von Rekordständen bei der Arbeitslosigkeit fürchten sie um ihre Zukunft. Sie demonstrieren gegen den aktuellen Sparkurs ihrer jeweiligen Regierungen in Zeiten der Euro-Krise. Am Telefon zugeschaltet ist uns Martin Schulz (SPD). Er ist der Präsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen, Herr Schulz!
Martin Schulz: Guten Morgen!
Engels: Geht Europa langsam die Akzeptanz durch die Jugend verloren?
Schulz: Das ist zu befürchten. Wir haben in einigen der Länder der Eurozone fast 50 Prozent Arbeitslosigkeit bei unter 30-Jährigen, das ist zerstörerisch. Es handelt sich zudem um die wahrscheinlich am besten ausgebildete Generation, die diese Länder je hatten, und wenn wir nicht kurzfristig handeln, wenn wir nicht wirklich von einem Tag auf den nächsten – das drängt gewaltig – Initiativen ergreifen, um diesen jungen Leuten eine Perspektive zu geben, dann, glaube ich, kriegen wir große Probleme.
Engels: Wie sollte das aussehen?
Schulz: Ich mache es mal an einem Beispiel praktisch klar. Ich war vor ein paar Monaten in Athen, habe den Präsidenten der Deutsch-Griechischen Industrie- und Handelskammer getroffen, der mir gesagt hat, wir haben hier im Land die Möglichkeit, Hunderte von Projekten unmittelbar umzusetzen, bei denen wir im Bereich von kleineren und mittleren Unternehmen Projekte in der erneuerbaren Energie, in der Touristik, in der medizinalen Infrastruktur, im Erziehungswesen umsetzen könnten, und da könnten wir auch sofort gut ausgebildete junge Leute einsetzen, aber unser Problem ist: Wir bekommen keine Kredite, Banken geben uns in diesem Land keine Kredite – ein Problem, das übrigens in Spanien und Portugal gleich ist.
Ein Mikrokreditprogramm der Europäischen Union, das über die Europäische Investitionsbank aufgelegt werden könnte, wäre eine Sofortmaßnahme, da braucht man nicht lange herumzubasteln, da kann man mit den Unternehmen direkt sprechen. Es gibt Möglichkeiten, unmittelbar was zu tun. Da bringen Sie nicht alle jungen Leute sofort in Arbeit, aber Sie schaffen wieder Hoffnung, und ich glaube, eine der ganz großen Lasten, die auf uns drückt, ist, dass diese jungen Leute das Gefühl von Hoffnungslosigkeit haben. Und wie gesagt: Mit konkreten Maßnahmen, die man auch sofort ergreifen könnte, könnte man dem entgegenwirken.
Engels: Mikrokredite als eine Möglichkeit, um zu handeln. Müssen auf der anderen Seite auch nicht EU-Parlamentarier, Politiker generell besser als Erklärer in die Bresche springen, warum dieser Sparkurs nötig ist?
Schulz: Absolut! Man muss erklären, warum der Sparkurs nötig ist, man müsste allerdings auch erklären, warum keine Investitionspolitik betrieben wird, denn der Sparkurs ist ja nur eine Seite, den ich mit aller Konsequenz verteidige, übrigens auch den jungen Leuten gegenüber sage, das ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit, weil die immer weitere Verschuldung der heutigen Generation, also zum Beispiel meiner Generation, nicht dazu führen darf, dass ihre und eure Kinder noch meine Schulden bezahlen müssen, dann gewinnt man die auch für die jungen Leute.
Aber man ist natürlich genauso verpflichtet, ihnen eine Antwort auf die Frage zu geben, warum habt ihr Hunderte Milliarden zur Bankenrettung, aber nicht ein paar Milliarden zur Ankurbelung der Wirtschaft? Und deshalb: Es gibt da eine Fehlentwicklung in der europäischen Politik, nämlich dass diese einseitige Haushaltskürzungsorgie, die wir erleben, als Begründung hergenommen wird, sie sei nötig, um Wirtschaftswachstum zu schaffen, aber das Wirtschaftswachstum stellt sich nicht ein durch Haushaltskürzungen, sondern nur durch innovative Investitionen.
Übrigens in der Beantwortung Ihrer konkreten Frage: Müssten nicht Politiker mehr erklären, und zwar vor Ort? Meine Antwort: ja! Ich bin da hingegangen, ich war in Spanien, ich war in Griechenland, ich mach das regelmäßig, fahre morgen nach Irland, um da mit jungen Leuten zu diskutieren. Ich schau mich häufig um und bin dann doch manchmal auch alleine.
Engels: Greifen wir mal das Beispiel Frankreich heraus. Präsident Hollande hat ja im Wahlkampf auch Stimmen damit gemacht, indem er sich etwas gegen den europäischen Konsolidierungskurs gestemmt hat. Kaum ist er im Amt, trägt er ihn mit, wenn auch um eine Investitionskomponente ergänzt. Ist es fahrlässig, so Wahlkampf zu machen, wenn man weiß, dass man am Ende den Kurs doch mittragen muss, den die EU und den vor allen Dingen die Nationalregierungen im Moment vorgeben?
Schulz: Francois Hollande hat nicht sich gegen den Sparkurs gewendet. Diese Darstellung halte ich für nicht haltbar. Der hat ähnlich wie ich argumentiert: Die Haushaltskonsolidierung ist zwingend erforderlich, da stehen wir auch zu, aber sie ist einseitig. Ohne wachstumsstimulierende Maßnahmen läuft nichts und es war Francois Hollande, der, nachdem er Präsident in Paris geworden ist, ja im europäischen Rat, gemeinsam mit Mario Monti, unterstützt vom Europäischen Parlament, einen Wachstumspakt gefordert hat, der ja auch beschlossen worden ist mit 120 Milliarden, wo ich mich allerdings frage, wo ist die Umsetzung und wann kommt die Kommission, wann kommen die nationalen Regierungen mit ihren Vorschlägen. Also man kann, glaube ich, da Hollande nur bedingt einen Vorwurf machen.
In einem Punkt hatte der allerdings, finde ich, Recht. Da ist ja dann zwischenzeitlich eine Reihe anderer Regierungen eingeschwenkt. Hollande hat immer argumentiert, wir brauchen nicht nur Kürzungen in den Haushalten, wir brauchen auch Einnahmeverbesserungen der öffentlichen Hand, und deshalb brauchen wir eine andere Steuerpolitik. Sie erinnern sich, ich glaube, wir beide haben sogar schon mal darüber gesprochen: die Finanztransaktionssteuer europaweit einzuführen, das heißt eine Art Mehrwertsteuer auf Finanztransaktionen, ist zwingend nötig, um die Einnahmeseite der Staaten zu verbessern, und da sind wir ja jetzt Gott sei Dank auch seit dem vorletzten europäischen Rat auf einem guten Weg.
Engels: Aber dennoch gehen seine enttäuschten Wähler in Frankreich auf die Straße. Haben die da was nicht mitbekommen?
Schulz: Ich bin ein bisschen erstaunt immer über diese Fragen. Ich weiß, Sie werden sich ja ähnlich wie ich noch daran erinnern, als die Bundesrepublik Deutschland Haushaltskürzungen beschlossen hat, als wir zum Beispiel eine Maßnahme beschlossen haben, dass wir zehn Euro Praxisgebühr in Deutschland einführen wollten, gab es ja Leute, die Montagsdemonstrationen durchgeführt haben, Oskar Lafontaine in Leipzig. Also ich glaube, dass man sich nicht wundern darf, wenn eine Regierung sagt, wir kürzen Leistungen, wir sparen, wir strukturieren um – das ist ja das, was in Frankreich gerade geschieht -, oder wir erhöhen Steuern und Abgaben, um den Haushalt auszugleichen; ich habe noch nie erlebt, dass dann eine Bevölkerung La Ola macht, sondern die gehen auf die Straße, weil sie das nicht wollen.
Ich glaube, in Frankreich und in anderen Ländern gehen allerdings auch Leute auf die Straße, um dagegen zu demonstrieren - und das war ja auch in Ihrer Anmoderation so hörbar durch das Interview mit dem jungen Mann und der jungen Frau in Lissabon -, weil sie das Gefühl haben, dass die Umschichtungen, die erfolgen, eben nicht zur Sanierung der Haushalte herangezogen werden können, sondern wegen der Zinsspekulationen, also erhöhter Zinszahlungen für die Staatsschuld, am Ende aus den Taschen kleiner Bürger in die Taschen der Banken fließen. Und da muss ich sagen, da rebelliere ich auch gegen.
Engels: Sie haben jetzt das Stichwort Banken mehrfach erwähnt: zum einen in ihrer wichtigen Rolle, um beispielsweise Mikrokredite bereitzustellen, wenn auch mit meinetwegen staatlicher Unterstützung. Auf der anderen Seite werden jetzt ja Pläne bekannt rund um die Expertengruppe von EU-Kommissar Barnier. Die "Süddeutsche Zeitung" will dort verschärfte Bankenkontrolle als Konzept ausgemacht haben. Sie berichtet darüber, dass dieser Kommission eine Trennung zwischen dem Einlagengeschäft der Sparer und der Sparguthaben einerseits und spekulativen Geschäften andererseits vorschwebt, also ein klassisches Trennbankensystem. Ist dieses Modell, wenn es so kommt, nach Ihrem Geschmack?
Schulz: Absolut! Peer Steinbrück hat ja gestern Ähnliches oder fast Identisches gefordert. Das ist eine Forderung, die im Europäischen Parlament übrigens seit langer Zeit auf dem Tisch liegt. Ich finde es gut, dass Michel Barnier jetzt unsere Ideen da aufgreift. Das große Problem ist ja, dass wir über Jahre erlebt haben, dass Banken eben nicht mehr Kredite an die mittleren und kleinen Unternehmen ausgelobt haben. Das war ein bisschen so, wenn ich da mal ein drastisches Bild gebrauchen darf: Wenn Sie oder ich zur Bank gegangen sind, hätten wir unsere Häuser verpfänden müssen, um einen Kredit zu kriegen. Wenn Sie mit irgendwelchen windigen Projekten gekommen sind, die sich am Ende als Luftblasen herausgestellt haben, Sie aber den Titel "Investmentbanking" da draufgeklebt haben, dann bekamen Sie Geld ohne Ende, und das hat ja am Ende zu einem Desaster geführt, für das die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die kleinen Einlagenbesitzer haften müssen.
Engels: Aber die Banken warnen, so würde ihre Stabilität und die Liquidität bedroht werden.
Schulz: Ja. Das habe ich auch gehört und das ist das ewige Klagen der Banken, dass jedes Mal, wenn man an ihr Spekulationsgeschäft heran will, sie sagen, da wird unsere Liquidität gefährdet. Ich habe nur festgestellt, dass die Liquidität der Großbanken in unserem Lande und in anderen Landen gefährdet wurde durch ihre hemmungslose Spekulation und Zockerei und nicht etwa durch ein Aufspalten ihres Geschäfts in ein Risikogeschäft, für das sie selbst das Risiko übernehmen müssen und nicht der Steuerzahler, und ein normales Kreditgeschäft, in dem sie nach alten Kriterien Kredite ausloben und für die Risiken Rückstellungen bilden müssen. Ich glaube, das ist eine Rückkehr zum traditionellen Bankengeschäft und eine Abkehr vom kasinospekulativen Kapitalismus der letzten Jahre. Deshalb: Ich bin da mit Barnier und auch mit Peer Steinbrück absolut auf einer Linie.
Engels: Martin Schulz (SPD), er ist der Präsident des Europäischen Parlaments. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.
Schulz: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Martin Schulz: Guten Morgen!
Engels: Geht Europa langsam die Akzeptanz durch die Jugend verloren?
Schulz: Das ist zu befürchten. Wir haben in einigen der Länder der Eurozone fast 50 Prozent Arbeitslosigkeit bei unter 30-Jährigen, das ist zerstörerisch. Es handelt sich zudem um die wahrscheinlich am besten ausgebildete Generation, die diese Länder je hatten, und wenn wir nicht kurzfristig handeln, wenn wir nicht wirklich von einem Tag auf den nächsten – das drängt gewaltig – Initiativen ergreifen, um diesen jungen Leuten eine Perspektive zu geben, dann, glaube ich, kriegen wir große Probleme.
Engels: Wie sollte das aussehen?
Schulz: Ich mache es mal an einem Beispiel praktisch klar. Ich war vor ein paar Monaten in Athen, habe den Präsidenten der Deutsch-Griechischen Industrie- und Handelskammer getroffen, der mir gesagt hat, wir haben hier im Land die Möglichkeit, Hunderte von Projekten unmittelbar umzusetzen, bei denen wir im Bereich von kleineren und mittleren Unternehmen Projekte in der erneuerbaren Energie, in der Touristik, in der medizinalen Infrastruktur, im Erziehungswesen umsetzen könnten, und da könnten wir auch sofort gut ausgebildete junge Leute einsetzen, aber unser Problem ist: Wir bekommen keine Kredite, Banken geben uns in diesem Land keine Kredite – ein Problem, das übrigens in Spanien und Portugal gleich ist.
Ein Mikrokreditprogramm der Europäischen Union, das über die Europäische Investitionsbank aufgelegt werden könnte, wäre eine Sofortmaßnahme, da braucht man nicht lange herumzubasteln, da kann man mit den Unternehmen direkt sprechen. Es gibt Möglichkeiten, unmittelbar was zu tun. Da bringen Sie nicht alle jungen Leute sofort in Arbeit, aber Sie schaffen wieder Hoffnung, und ich glaube, eine der ganz großen Lasten, die auf uns drückt, ist, dass diese jungen Leute das Gefühl von Hoffnungslosigkeit haben. Und wie gesagt: Mit konkreten Maßnahmen, die man auch sofort ergreifen könnte, könnte man dem entgegenwirken.
Engels: Mikrokredite als eine Möglichkeit, um zu handeln. Müssen auf der anderen Seite auch nicht EU-Parlamentarier, Politiker generell besser als Erklärer in die Bresche springen, warum dieser Sparkurs nötig ist?
Schulz: Absolut! Man muss erklären, warum der Sparkurs nötig ist, man müsste allerdings auch erklären, warum keine Investitionspolitik betrieben wird, denn der Sparkurs ist ja nur eine Seite, den ich mit aller Konsequenz verteidige, übrigens auch den jungen Leuten gegenüber sage, das ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit, weil die immer weitere Verschuldung der heutigen Generation, also zum Beispiel meiner Generation, nicht dazu führen darf, dass ihre und eure Kinder noch meine Schulden bezahlen müssen, dann gewinnt man die auch für die jungen Leute.
Aber man ist natürlich genauso verpflichtet, ihnen eine Antwort auf die Frage zu geben, warum habt ihr Hunderte Milliarden zur Bankenrettung, aber nicht ein paar Milliarden zur Ankurbelung der Wirtschaft? Und deshalb: Es gibt da eine Fehlentwicklung in der europäischen Politik, nämlich dass diese einseitige Haushaltskürzungsorgie, die wir erleben, als Begründung hergenommen wird, sie sei nötig, um Wirtschaftswachstum zu schaffen, aber das Wirtschaftswachstum stellt sich nicht ein durch Haushaltskürzungen, sondern nur durch innovative Investitionen.
Übrigens in der Beantwortung Ihrer konkreten Frage: Müssten nicht Politiker mehr erklären, und zwar vor Ort? Meine Antwort: ja! Ich bin da hingegangen, ich war in Spanien, ich war in Griechenland, ich mach das regelmäßig, fahre morgen nach Irland, um da mit jungen Leuten zu diskutieren. Ich schau mich häufig um und bin dann doch manchmal auch alleine.
Engels: Greifen wir mal das Beispiel Frankreich heraus. Präsident Hollande hat ja im Wahlkampf auch Stimmen damit gemacht, indem er sich etwas gegen den europäischen Konsolidierungskurs gestemmt hat. Kaum ist er im Amt, trägt er ihn mit, wenn auch um eine Investitionskomponente ergänzt. Ist es fahrlässig, so Wahlkampf zu machen, wenn man weiß, dass man am Ende den Kurs doch mittragen muss, den die EU und den vor allen Dingen die Nationalregierungen im Moment vorgeben?
Schulz: Francois Hollande hat nicht sich gegen den Sparkurs gewendet. Diese Darstellung halte ich für nicht haltbar. Der hat ähnlich wie ich argumentiert: Die Haushaltskonsolidierung ist zwingend erforderlich, da stehen wir auch zu, aber sie ist einseitig. Ohne wachstumsstimulierende Maßnahmen läuft nichts und es war Francois Hollande, der, nachdem er Präsident in Paris geworden ist, ja im europäischen Rat, gemeinsam mit Mario Monti, unterstützt vom Europäischen Parlament, einen Wachstumspakt gefordert hat, der ja auch beschlossen worden ist mit 120 Milliarden, wo ich mich allerdings frage, wo ist die Umsetzung und wann kommt die Kommission, wann kommen die nationalen Regierungen mit ihren Vorschlägen. Also man kann, glaube ich, da Hollande nur bedingt einen Vorwurf machen.
In einem Punkt hatte der allerdings, finde ich, Recht. Da ist ja dann zwischenzeitlich eine Reihe anderer Regierungen eingeschwenkt. Hollande hat immer argumentiert, wir brauchen nicht nur Kürzungen in den Haushalten, wir brauchen auch Einnahmeverbesserungen der öffentlichen Hand, und deshalb brauchen wir eine andere Steuerpolitik. Sie erinnern sich, ich glaube, wir beide haben sogar schon mal darüber gesprochen: die Finanztransaktionssteuer europaweit einzuführen, das heißt eine Art Mehrwertsteuer auf Finanztransaktionen, ist zwingend nötig, um die Einnahmeseite der Staaten zu verbessern, und da sind wir ja jetzt Gott sei Dank auch seit dem vorletzten europäischen Rat auf einem guten Weg.
Engels: Aber dennoch gehen seine enttäuschten Wähler in Frankreich auf die Straße. Haben die da was nicht mitbekommen?
Schulz: Ich bin ein bisschen erstaunt immer über diese Fragen. Ich weiß, Sie werden sich ja ähnlich wie ich noch daran erinnern, als die Bundesrepublik Deutschland Haushaltskürzungen beschlossen hat, als wir zum Beispiel eine Maßnahme beschlossen haben, dass wir zehn Euro Praxisgebühr in Deutschland einführen wollten, gab es ja Leute, die Montagsdemonstrationen durchgeführt haben, Oskar Lafontaine in Leipzig. Also ich glaube, dass man sich nicht wundern darf, wenn eine Regierung sagt, wir kürzen Leistungen, wir sparen, wir strukturieren um – das ist ja das, was in Frankreich gerade geschieht -, oder wir erhöhen Steuern und Abgaben, um den Haushalt auszugleichen; ich habe noch nie erlebt, dass dann eine Bevölkerung La Ola macht, sondern die gehen auf die Straße, weil sie das nicht wollen.
Ich glaube, in Frankreich und in anderen Ländern gehen allerdings auch Leute auf die Straße, um dagegen zu demonstrieren - und das war ja auch in Ihrer Anmoderation so hörbar durch das Interview mit dem jungen Mann und der jungen Frau in Lissabon -, weil sie das Gefühl haben, dass die Umschichtungen, die erfolgen, eben nicht zur Sanierung der Haushalte herangezogen werden können, sondern wegen der Zinsspekulationen, also erhöhter Zinszahlungen für die Staatsschuld, am Ende aus den Taschen kleiner Bürger in die Taschen der Banken fließen. Und da muss ich sagen, da rebelliere ich auch gegen.
Engels: Sie haben jetzt das Stichwort Banken mehrfach erwähnt: zum einen in ihrer wichtigen Rolle, um beispielsweise Mikrokredite bereitzustellen, wenn auch mit meinetwegen staatlicher Unterstützung. Auf der anderen Seite werden jetzt ja Pläne bekannt rund um die Expertengruppe von EU-Kommissar Barnier. Die "Süddeutsche Zeitung" will dort verschärfte Bankenkontrolle als Konzept ausgemacht haben. Sie berichtet darüber, dass dieser Kommission eine Trennung zwischen dem Einlagengeschäft der Sparer und der Sparguthaben einerseits und spekulativen Geschäften andererseits vorschwebt, also ein klassisches Trennbankensystem. Ist dieses Modell, wenn es so kommt, nach Ihrem Geschmack?
Schulz: Absolut! Peer Steinbrück hat ja gestern Ähnliches oder fast Identisches gefordert. Das ist eine Forderung, die im Europäischen Parlament übrigens seit langer Zeit auf dem Tisch liegt. Ich finde es gut, dass Michel Barnier jetzt unsere Ideen da aufgreift. Das große Problem ist ja, dass wir über Jahre erlebt haben, dass Banken eben nicht mehr Kredite an die mittleren und kleinen Unternehmen ausgelobt haben. Das war ein bisschen so, wenn ich da mal ein drastisches Bild gebrauchen darf: Wenn Sie oder ich zur Bank gegangen sind, hätten wir unsere Häuser verpfänden müssen, um einen Kredit zu kriegen. Wenn Sie mit irgendwelchen windigen Projekten gekommen sind, die sich am Ende als Luftblasen herausgestellt haben, Sie aber den Titel "Investmentbanking" da draufgeklebt haben, dann bekamen Sie Geld ohne Ende, und das hat ja am Ende zu einem Desaster geführt, für das die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die kleinen Einlagenbesitzer haften müssen.
Engels: Aber die Banken warnen, so würde ihre Stabilität und die Liquidität bedroht werden.
Schulz: Ja. Das habe ich auch gehört und das ist das ewige Klagen der Banken, dass jedes Mal, wenn man an ihr Spekulationsgeschäft heran will, sie sagen, da wird unsere Liquidität gefährdet. Ich habe nur festgestellt, dass die Liquidität der Großbanken in unserem Lande und in anderen Landen gefährdet wurde durch ihre hemmungslose Spekulation und Zockerei und nicht etwa durch ein Aufspalten ihres Geschäfts in ein Risikogeschäft, für das sie selbst das Risiko übernehmen müssen und nicht der Steuerzahler, und ein normales Kreditgeschäft, in dem sie nach alten Kriterien Kredite ausloben und für die Risiken Rückstellungen bilden müssen. Ich glaube, das ist eine Rückkehr zum traditionellen Bankengeschäft und eine Abkehr vom kasinospekulativen Kapitalismus der letzten Jahre. Deshalb: Ich bin da mit Barnier und auch mit Peer Steinbrück absolut auf einer Linie.
Engels: Martin Schulz (SPD), er ist der Präsident des Europäischen Parlaments. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.
Schulz: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.