Wir haben viele Feinde, und sie stehen bereit, über jede unserer Schwächen herzufallen und sie auszunutzen. Sie sagen nicht, dass wir zusammenstehen sollen, dass wir alle in dem Maße gut sind, in dem wir es schaffen, auf eigenen Beinen zu stehen. Erinnert euch immer an die vier Schritte, die wir gehen müssen: Erstens Freiheit und Unabhängigkeit zu erlangen, zweitens diese Freiheit und Unabhängigkeit zu festigen, drittens die afrikanischen Staaten zu einigen und viertens Afrika wirtschaftlich und sozial wieder aufzubauen.
Kwame Nkrumah, Ministerpräsident Ghanas, auf der All-Afrikanischen Konferenz 1958, der ersten Konferenz dieser Art auf afrikanischem Boden. Ghana war ein Jahr zuvor unabhängig geworden. In den 60er Jahren sollten rund 30 weitere Länder folgen. Das Zeitalter des Kolonialismus war beendet.
Nackte Frau, schwarze Frau Gekleidet in deine Farbe, die Leben, in deine Form, die Schönheit ist! In deinem Schatten bin ich aufgewachsen, deine sanften Hände Verbanden mir die Augen. Und da entdeckte ich dich im Herzen des Sommers, des Mittags, gelobtes Land, Hoch von der Höhe versengten Passes Und deine Schönheit trifft mich ins Herz wie der Blitz eines Adlers.
Léopold Sédar Senghor, senegalesischer Dichter, Philosoph und späterer Präsident des Senegal, schrieb diese Zeilen. Zusammen mit anderen intellektuellen Schwarzen begründete er im Paris der 30er Jahre die Bewegung der Négritude. Aus dieser kulturellen Revolte entstand die erste Generation moderner afrikanischer Künstler und Schriftsteller. Die Négritude bewertete afrikanische Kultur neu und beschwor eine bessere, selbstbestimmte Zukunft. Etliche Dichter jener Zeit überschritten später die Schwelle von der Kunst zur politischen Aktion in den Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen. Später standen sie an der Spitze ihrer Staaten: Léopold Senghor im ehemals französischen kolonisierten Senegal, Agostinho Neto in portugiesisch Angola, Amilcar Cabral in portugiesisch Guinea Bissau, Jomo Kenyatta in englisch Kenia. Und: Premierminister Patrice Lumumba in belgisch Kongo. Er wagte es, der ehemaligen Kolonialmacht Belgien die Kontrolle über die wertvollen Rohstoffe zu entziehen, und wurde ermordet. Patrice Lumumba begegnet uns in dem Buch "The Short Century" in den Bildern des Malers Tshibumba, der Leben und Leiden des Politikers festhielt; er begegnet uns auf zahlreichen Fotos afrikanischer Magazine jener Zeit: Lumumba glücklich lächelnd; Lumumba, den seine Mitstreiter lachend am Bart zupfen. Auch der ghanaische Premierminister und Panafrikanist Nkrumah ist abgelichtet, beim Unabhängigkeitstanz mit der Prinzessin von Kent - ihr Mund ist verbissen verschlossen. Der Befreiungskämpfer Samora Machel ist zu sehen - beim Handschlag mit seinen Genossen während eines triumphalen Empfangs in Mosambik. Und Jomo Kenyatta, der mit erhobenen Armen siegessicher in die Kamera lacht, während neben ihm zwei zukünftige Minister einen Freudentanz aufführen.
Die Unabhängigkeitsbewegungen und Befreiungskämpfe repräsentieren das doppelte Projekt, das der afrikanischen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Gestalt gab. Die Konstruktion dieser Moderne ist eng verbunden mit der Verteidigung und Legitimierung aller Sphären afrikanischen Denkens und Lebens. Es ist also unnötig zu betonen, dass die Gesamtheit dieser Erscheinungen - politisch, sozial, ökonomisch, kulturell, individuell - berücksichtigt werden muss. Diese Totalität umfasst eine politische Sphäre und eine kulturelle Ordnung.
Um beides zu zeigen, hat der Nigerianer Okwui Enwezor das aufwendige Projekt "The Short Century" entworfen: eine Ausstellung und einen umfangreichen Bild- und Textband dazu. Darin zeigt er in einer bislang einmaligen Breite die Kultur des "sich befreienden" Afrika in der bildenden Kunst, in Fotografie, Film, Musik und Literatur sowie politische Dokumente der Zeit. Enwezor, der auch künstlerischer Leiter der nächsten, elften Documenta ist, beansprucht Afrikas Anteil an der Moderne - der in der eurozentristischen Geschichte und Kunstgeschichte nicht vorkommt. Ein zentrales Ziel der Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen war, so Enwezor,
den Minderwertigkeitskomplex, den der Kolonialismus uns aufgezwungen hatte, zu zerstören.
Dafür stehen zum Beispiel Studiophotographien aus den 60er und 70er Jahren, ein Genre, das in den kosmopolitischen Hauptstädten der unabhängigen Staaten blühte. Schwarze Männer und Frauen posierten vor bunten Tapeten in schicker - oft europäischer - Kleidung, mit selbstbewusstem Gesichtsausdruck: Porträts eines postkolonialen Afrika. Ein zweites Ziel der Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen bestand darin, politische und soziale Visionen zu entwickeln. Die finden sich in der Anthologie am Ende des 400 Seiten starken Bandes in Form von politischen Reden, theoretischen Abhandlungen und historischen Analysen. Autoren sind afrikanische Intellektuelle und Politiker wie Frantz Fanon, Sekou Touré, Gamal Abdel Nasser und Nelson Mandela.
Schade nur, dass Enwezor die kritischen Diskurse afrikanischer Künstler und Schriftsteller untereinander nur sehr rudimentär wiedergibt. Offenbar sieht er sich selbst in der Tradition der Négritude, die aber schon seinerzeit wegen ihrer romantischen Verklärung des Afrikanischen auf Kritik gestoßen ist. Dennoch ist "The Short Century" ein lesenswertes und in seiner Zusammenstellung sehr wertvolles Kompendium. Es lädt dazu ein, sich mit einer Geistes- und Kulturgeschichte zu beschäftigen, die hierzulande gerade in diesen Tagen völlig ausgeblendet wird.
Birgit Morgenrath besprach "The Short Century", ein Bild- und Textband, der sich mit den Befreiungsbewegungen zwischen 1945 und 94 in Afrika befasst. Der Autor ist Okwui Enwezor. Es ist in Englisch bei Prestel in München, London und New York erschienen, hat 500 Seiten und kostet 69 Euro.