Archiv

Olaf Nicolai über Gedächtnis
Ein Widerspiel von Seelischem und Faktischem

Zur Kunst ist er erst nach seinem Studium der Sprachwissenschaft gekommen - ein Grund, warum Olaf Nicolai sich mit der Zeichenhaftigkeit der Welt beschäftigt. Dazu gehöre auch die Erinnerung, und noch mehr vielleicht das Vergessen, sagte der Künstler im Dlf. Erinnerung sei ein "aktives Verhalten".

Olaf Nicolai im Gespräch mit Anja Reinhardt |
    Olaf Nicolai im Oktober 2017 bei den Donaueschinger Musiktagen
    Olaf Nicolai im Oktober 2017 bei den Donaueschinger Musiktagen (dpa / picture alliance / Patrick Seeger)
    Anja Reinhardt: Der Künstler Olaf Nicolai hat sich mit der österreichischen Geschichte beschäftigt, von ihm stammt das erste österreichische Deserteursdenkmal, das mitten in Wien an die Verfolgten und die Opfer der NS-Militärjustiz erinnert. Dieses Denkmal wurde aber auch schon von rechten Demonstranten als Podium für Ansprachen umfunktioniert und damit mehr oder weniger seines eigentlichen Sinns entfremdet. Trotzdem: Das Aufstellen von Zäunen oder Gittern bei ähnlichen Kundgebungen widerstrebt dem Künstler. Und vielleicht kann man es auch so sehen, dass eine Vereinnahmung durch rechts darauf aufmerksam macht, dass die rechtsextreme Vergangenheit immer wieder aufgearbeitet werden muss. Aktuell stellt Olaf Nicolai in der Wiener Kunsthalle aus, außerdem noch in Bielefeld und in St. Gallen – und immer wieder geht es auch um die Frage, wie Erinnerung funktioniert, auch die öffentliche. In Nicolais Ausstellung in der Kunsthalle wurden auf dem Boden Fotos und Zeitungsausschnitte aufgemalt, die Besucher laufen darüber und verwischen sie dabei. Ich habe Olaf Nicolai gefragt, ob es bei dieser Form von Teilnahme auch darum geht, etwas Neues aus Erinnerungsbildern zu schaffen?
    Olaf Nicolai: Die Bilder, die in der Kunsthalle in Wien auf den Boden gemalt worden sind, die kann man überlaufen; die muss man aber nicht überlaufen. Wenn man sie überläuft, werden sie sich verändern; sie werden sich nicht vollkommen so verändern, dass man sie nicht mehr erkennt.
    Was mich an der Situation interessiert ist: Wie gehen wir mit Bildern um? Einerseits: Woran erinnern sie uns? Aber auch: Worauf machen sie uns aufmerksam? Und das Dritte, was wahrscheinlich das viel Spannendere ist: Was machen wir mit ihnen? Das wird von vielen Faktoren gespeist. Da ist Erinnern wahrscheinlich nur einer. Wahrscheinlich ist das Vergessen dann noch ein viel größerer. Aber auch die Idee, was man mit diesen Bildern vielleicht evozieren könnte, von dem man selber noch nicht genau weiß, was das genau ist. Man erlebt das ja oft, wenn Leute sich irgendwas mitteilen wollen, dass sie dann auch gerne Bilder benutzen. Je leichter man Zugang zu Bildern hat und je leichter man sie benutzen kann, desto leichter nutzt man sie. Aber ich glaube, das ist auch schon früher passiert, bloß in anderen Formen und nicht so ganz intensiv, wie das jetzt passiert.
    Reinhardt: Sie haben aber vorhin auch gesagt, dass das Vergessen dabei auch eine Rolle spielt. Erklären Sie mir das doch noch mal kurz, was Sie damit meinen.
    Nicolai: Es gibt natürlich diesen klassischen Topos, dass Sie nur erinnern können, wenn Sie vergessen können. Ansonsten ist Ihr Speicher voll. Aber die Art der Erinnerung ist ja ein aktives Verhalten. Das merkt man in tragischer Weise, wenn man mal mit Menschen zu tun hat, die ihre Erinnerung langsam verlieren. Da kann man sehen oder kann man genau verfolgen, wie Erinnern eigentlich funktioniert, woraus es sich zusammenbaut, welche Ereignisse besonders in den Vordergrund treten, werden andere Ereignisse umformatiert, neu justiert, ganz anders bewertet, und dass das Erinnern ein Wiederspiel ist aus der seelischen, nenne ich das jetzt mal, Verfassung, den Wünschen und all den Dingen, die einem auch gar nicht bewusst sein müssen, die einen so umtreiben, und den Fakten, die einem begegnen. Das ist ein extrem aktives System, in dem Erinnern und Vergessen als zwei große Komplexe benannt sind. Ich glaube aber, dass das Prozesse sind, die ununterbrochen miteinander stattfinden.
    Erinnern als Interpretation
    Reinhardt: Ich glaube, ein Phänomen, das wir alle kennen – und da würde ich noch mal zurückkommen auf die Bilder, die auf den Boden der Kunsthalle Wien aufgemalt sind -, ist ja, dass wir uns auch über Bilder an unsere Vergangenheit erinnern und auch oftmals merken, dass uns die Erinnerung da vielleicht trügt, weil diese Bilder werden ja auch interpretiert.
    Nicolai: Oder, dass uns die Vergangenheit gar nicht gehört, von der wir glauben, dass es unsere eigene ist. Das ist auch ein Phänomen. Sie erinnern sich manchmal an Bilder, die Sie selber nie in dieser Form gesehen haben, und inkorporieren sie in Ihre Biographie. Mir ist das selber mal geschehen, allerdings konnte ich das dann verifizieren. Ich bin 1962 geboren und bin in Karl-Marx-Stadt aufgewachsen und habe immer wieder geglaubt, dass in dieser Stadt noch bis in die späten 60er-Jahre hinein in der Innenstadt eigentlich eine Trümmerlandschaft war, wo nur Brandmauern standen. Ich habe später dann gedacht, dass das sehr viel damit zu tun hatte, dass ich Filme gesehen habe, die genau solche Landschaften zeigen, und ich habe das überblendet. Ich habe erst vor fünf oder sechs Jahren in einem Buch Fotos aus dieser Zeit der Innenstadt von Chemnitz gefunden, wo die genauso aussieht. Die Frage ist natürlich, wie wichtig ist eigentlich, dass man diese Fakten verifizieren kann oder nicht.
    Reinhardt: Ist es wichtig?
    Nicolai: Es kommt darauf an, was Sie damit wollen. Wenn Sie sich in einem Zusammenhang, der argumentativ, rational und reflexiv ist, bewegen, ist es schon relativ wichtig. Wenn Sie sich über Ihre emotionale Befindlichkeit orientieren wollen oder mit der sich beschäftigen, könnte es gar nicht so wichtig sein. Da könnte vielleicht genau die Verschiebung das Wichtige sein.
    Reinhardt: Wenn wir über Kunst reden und über Ausstellungsorte, über Museen, dann geht es ja auch um Erinnerungsorte. Wenn wir in ein Museum gehen und uns Bilder anschauen oder Installationen, dann ist das natürlich auch immer die Erinnerung an etwas, was vor einer gewissen Zeit entstanden ist. Bei Ihnen ist das manchmal ein bisschen schwierig. Sie machen Kunst, die dann einfach weg ist, wenn die Ausstellung vorbei ist. Zum Beispiel das, was Sie im Hamburger Bahnhof mal gemacht haben, dass Sie künstliche Blätter auf das Oberlicht gestreut haben, man im Grunde genommen auf dem Boden erst mal gar nichts gesehen hat – es gibt kein Kunstwerk danach, an das man sich noch erinnern kann. Ist Ihnen das Erinnern im Prinzip für Ihre Kunst nicht wichtig? Oder gibt es eine andere Form der Erinnerung?
    Nicolai: Doch, es ist mir sehr wichtig, weil es das einzige ist, was diese Arbeiten, nicht alle, aber einige dieser Arbeiten präsent hält. Wenn Sie sich nicht an sie erinnern, hat es die nie gegeben. Mich fasziniert dieses Phänomen, dass es Dinge gibt, die eine Existenz haben, die sich jenseits des Physischen scheinbar bewegen. Wenn wir uns erinnern, erinnern wir uns als Menschen, und wir sind physisch. Es ist ja nicht so, dass es das Erinnern an sich gibt. Aber mich fasziniert genau das, dass das möglich ist, Erinnerungen zu inszenieren oder Erinnerungen anzuregen, die dann Leute begleiten, wie Sie jetzt zum Beispiel von dem Hamburger Bahnhof reden. Die Arbeit ist existent. Die Arbeit ist in der Sammlung des Hamburger Bahnhofs, sie wird bloß ab und zu mal gezeigt. Aber es ist wunderschön, dass Sie die als so ephemer und vorübergehend bezeichnen, und es ist auch eine Arbeit, wo ich ein wunderbares Erlebnis hatte, als ich neben jemandem stand, der die sich anschaute. Der meinte dann irgendwie zu seiner Begleitung: "Ja, wenn das Kunst wäre, wäre das eigentlich ziemlich gut." Das fand ich sehr schön, diese Haltung. Ich mag Dinge, die ambivalent sind, die so wie Kippfiguren funktionieren. Alles könnte auch was ganz anderes sein; wir müssten nur mal ganz kurz diesen Rahmen verschieben, in dem wir es wahrnehmen.
    Deserteursdenkmal in Wien
    Reinhardt: Sie haben in Österreich das erste öffentliche Deserteursdenkmal geschaffen. Es steht in Wien und es ist ein großes X aus Beton, und es erinnert an die Verfolgten und Opfer der NS-Diktatur. Jetzt hat mir Nicolaus Schafhausen, der Leiter der Kunsthalle, wo Sie jetzt ausstellen, vor ein paar Wochen hier im Interview im Deutschlandfunk gesagt, in Österreich hätte es dieses Jahr gar kein großes Erinnern an den sogenannten Anschluss vor 80 Jahren an Nazi-Deutschland gegeben.
    Nicolai: Ja.
    Reinhardt: Haben Sie eine Erklärung dafür?
    Nicolai: Warum es diese Erinnerung nicht gegeben hat?
    Reinhardt: Ja! Und kann Kunst da helfen, mit so einem Kunstwerk für den öffentlichen Raum, wie Sie es geschaffen haben?
    Nicolai: Kunst kann prinzipiell nicht helfen. Ich glaube aber, dass Kunstwerke durchaus Orte sein können, Situationen sein können, in denen etwas geschieht, etwas geschieht, was Veränderung anregen kann. Das Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz, was immer verkürzt als Deserteursdenkmal bezeichnet wird, das steht an einem Ort in Wien, der sehr prominent ist. Aber es ist genau …
    !Reinhardt: Am Ballhausplatz.
    Nicolai: Am Ballhausplatz. – Übrigens der Ballhausplatz ist dieser Ort, an dem der "Mann ohne Eigenschaften" beginnt, ein Roman von Robert Musil. Das ist sozusagen die Zentrale der Macht für sehr lange Zeit schon immer, und es ist ein Denkmal, was alles das verweigert, was ein Denkmal normalerweise anbietet, nämlich eine prächtige Skulptur, der man irgendwie gegenübertreten kann und von der man sich dann irgendwie in einer gewissen Weise berührt fühlt und irgendwie dann auch eine gute Kranzabwurfstelle hätte.
    Aber es ist ein anderes Denkmal, was jemanden auffordert, wenn er das lesen kann, einfach hinaufzugehen und selber eine Figur auf einem Sockel zu werden und dann eine Inschrift zu lesen. Und es hat die Form eines X. X ist eigentlich die Auslöschung von Erinnerung.
    Reinhardt: Ja, oder ein Platzhalter.
    Nicolai: Oder ein Platzhalter. Es ist genau das, worauf ich da auch anspiele, dass der Einzelne (denn letztlich geht es um die Entscheidung von Einzelnen in einer Situation, wo sie sich entschieden haben, etwas nicht zu tun und dann praktisch vor diese Gerichte gestellt worden sind und verfolgt worden sind) diese Entscheidung dann würdigt, und diese sind immer als einzelne. Der Einzelne wird in solchen Entscheidungsprozessen immer wie ein X behandelt. Deshalb gibt es auch oben dann, wenn man dort steht, diese Inschrift, die das X vorgibt. Die beiden Balken des X sind aus dem Wort "all" gebildet, und dort, wo sie sich überschneiden, steht das Wort "alone". Das ist ein Gedicht von einem Hamilton Finlay, was praktisch die Inschrift zu diesem Sockel geworden ist. Und wenn man oben steht, hat man eine sehr andere Perspektive auf diesen Ort, diese Häuser, in denen die Entscheidungen gefällt werden, die einen selber unmittelbar betreffen. In dem Sinne glaube ich schon, dass man da etwas erfahren kann, was etwas verändern könnte. Ich sage bewusst Konjunktive, weil ich bin mir nicht sehr sicher, ob das so immer stattfindet. Ich glaube aber auch nicht, dass das notwendig ist, das zu wissen. Es ist gut, es zu versuchen.
    "Beispiele, wo eine DDR neu erfunden wird"
    Reinhardt: Ich würde gerne wissen, weil Sie vorhin ja auch davon erzählt haben, dass Sie in Karl-Marx-Stadt, in Chemnitz aufgewachsen sind. Haben Sie auch das Gefühl, weil auch oft darüber gesprochen wird, dass die DDR und alles, was sie ästhetisch ausgemacht hat, eine bestimmte Art von Architektur zum Beispiel, haben Sie das Gefühl, dass das auch von einer Auslöschung betroffen ist?
    Nicolai: Es ist ganz sicher so, dass im architektonischen Bereich sehr viele Sachen verschwunden sind, wo man nicht nachvollziehen kann, warum sie verschwunden sind. Aber es gibt auch durchaus Beispiele, wo eine DDR neu erfunden wird, die so nie existiert hat. Ein gutes Beispiel ist zum Beispiel, wenn man sich mal vergegenwärtigt, wie die Karl-Marx-Allee in Berlin, wenn man vom Strausberger Platz vom Alexanderplatz geht, funktioniert. Heute ist das ein Ort, den man sich anschaut, der einem unglaublich großzügig gestaltet erscheint und überhaupt nicht nach den Interessen einer kommerziellen Bodenverwertung gestaltet ist. Da gibt es Pavillons, die einen ein bisschen von einer Moderne träumen lassen. Da gibt es Plattenbauten, die auf einmal umgeben sind von Grünflächen. Da gibt es ein Kino. Es war aber auch gebaut worden als der Aufmarschplatz für große Demonstrationen, als ein Raum, in dem man Leute kontrollieren kann. Dieser Aspekt ist mit dem politischen System vollkommen verschwunden und auf einmal konnte man sich die scheinbar nur ästhetischen Qualitäten dieses Raumes aneignen. Die hat es aber so in dieser Form in der DDR gar nicht gegeben. – Diese Ambivalenzen sind es, die auch andeuten, wie schwierig ein Umgang damit ist und wie unterschiedlich die Interessen damit sind.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.