Archiv

Old School trifft Zukunft (2/5)
Eine Mossbourne Academy aus Schülersicht

Mitschüler berühren, verboten. Nachsitzen, wenn ein Knopf an der Schuluniform fehlt. Was macht so ein strenges Regime mit einem Zwölfjährigen? Ein Schüler der selbstständigen Mossbourne Victoria Park Academy im Osten Londons und seine Mutter erzählen.

Von Benjamin Dierks |
    Katy Beale und ihr zwölfjähriger Sohn Harper in der Küche ihres Hauses im Stadtteil Hackney in London.
    Katy Beale und ihr zwölfjähriger Sohn Harper in der Küche ihres Hauses im Stadtteil Hackney in London. (Benjamin Dierks )
    "Mum!"
    "Hi! You’re alright?"
    Um vier Uhr nachmittags kommt Harper von der Schule nach Hause und ruft gleich an der Tür nach seiner Mutter, Katy. Die kommt ihm im schmalen Flur ihres viktorianischen Reihenhauses entgegen. Harper schiebt sich an einem Fahrrad vorbei und reißt sich das Hemd seiner Schuluniform aus der Hose.
    "What don't you like about your uniform?"
    "It's really tight, and all these buttons, and it's uncomfortable, and you can't reach anywhere."
    Die Uniform sei eng und unbequem mit all den Knöpfen. Er könne sich darin kaum bewegen, sagt Harper. Er ist schlank und hoch gewachsen für seine zwölf Jahre, seine blonden Haare sind etwas verwuschelt. Das Revers seines grauen Jacketts ist hellblau eingefasst. Auf der linken Brust prangt das Logo der Mossbourne Victoria Park Academy. Das ist die weiterführende Schule, die Harper im zweiten Jahr besucht.
    40 Mal nachsitzen in einem Schuljahr
    Zum weißen Hemd trägt er eine blau-grau gestreifte Krawatte. Katy, seine Mutter:
    "The trouble is that Harper has lost the buttons on his Blazer..."
    Die Knöpfe von Harpers Jackett seien abgerissen, sagt Katy. Sie wundere sich, dass er dafür noch nicht nachsitzen musste. Denn nachsitzen müssen die Schüler schon für so kleine Vergehen wie einen Makel an der Uniform. Ungefähr vierzigmal hat es Harper im vergangenen Schuljahr erwischt – in seinem ersten Jahr nach der Grundschule.
    Die Mossbourne Victoria Park Academy ist ein Ableger der Mossbourne Community Academy, einer der ersten Academies Großbritanniens, die den Namen Mossbourne landesweit berühmt gemacht hat. Academies unterstehen nicht den Kommunen, sondern werden von einer Art Stiftung betrieben. Die Mossbourne Federation hat sich neben herausragenden Noten der Schüler einen Namen für besonders strenge Regeln und keinerlei Toleranz gegenüber Störungen im Unterricht gemacht.
    "Das hämmern sie dir richtig ein"
    Für Katy war es keine leichte Entscheidung, ihren Sohn auf die Schule zu schicken:

    "Ich habe mich etwas schwer getan mit der Entscheidung, welches die beste Schule für mein Kind ist. Auf der einen Seite steht die akademische Leistung der Schule. Auf der anderen Seite die Frage, wie wohl sich die Kinder an der Schule fühlen. Ich kannte ja Mossbournes Ruf, eine sehr strenge Schule zu sein, in der die Regeln hochgehalten werden. Das hämmern sie dir richtig ein."

    Diese Ambivalenz gegenüber Mossbourne empfänden viele Eltern in ihrem Bezirk Hackney im Osten Londons. Bekannte hätten ihr Kind von der Schule genommen, weil es mit dem Druck nicht zurechtkam. Harper und seine Eltern entschieden sich schließlich, der Schule eine Chance zu geben, auch weil es die nächstgelegene war.
    Katy Beale arbeitet bei einem Startup in Ost-London. Sie und ihr Mann lebten schon in Hackney, als sie noch keine Kinder hatten. Früher zogen Eltern häufig weg, wenn die Kinder ins schulpflichtige Alter kamen, weil es kaum gute Schulen im Bezirk gab. Das hat sich seit der Gründung der ersten Academies geändert. Harpers Eltern stellten es ihm frei, die Schule wieder zu wechseln, sollte er dort unglücklich sein.
    Nonsens, oder sinnvoll?
    "I was thinking of moving because it's super strict, you know, unnecessarily strict. Can't touch each other, can't even high-five your mates."
    Und darüber dachte Harper ernsthaft nach, weil er viele Regeln unnötig strikt findet, zum Beispiel, dass er nicht mal seinen Freunden einen Handschlag geben kann, weil Berührungen generell verboten sind, aus Angst, Schüler könnten drangsaliert werden. Viele Eltern wählten Mossbourne auch deshalb, weil sie sicher sein könnten, dass ihre Kinder hier vor Gewalt geschützt würden, sagt Katy.
    Ihr bereite es aber auch Sorgen, wie sich ein Berührungsverbot auf das Körpergefühl eines Zwölfjährigen auswirken könnte. Zumal es sich auf sein Verhalten ihr gegenüber schon abgefärbt hat:
    "When I come home and my mum is like, give me a hug, and I'm like, wait, what, can I hug you know? Oh yeah, I can."
    Als er anfänglich aus der Schule kam und seine Mutter ihn umarmen wollte, musste er erst einmal überlegen, ob es in Ordnung sei, berichtet Harper.
    Werte-Mantra vor jeder Stunde
    Geblieben ist er dennoch an der Schule, seiner Freunde wegen und weil er sich nicht noch einmal anderswo eingewöhnen wollte. Außerdem fühle er sich tatsächlich sicher an der Schule, und er lerne auch viel. Er wisse, dass die Lehrer es trotz aller Strenge gut mit ihm meinten.
    "And although the teachers are strict you know they have your wellbeing at heart. That's good, that's helped me learn."
    Englisch mag Harper nicht so gern, wohl aber Mathe – die Fächer, in denen man wirklich etwas lernt, sagt er. Er stöhnt auf, als er an den Motivationsspruch denkt, den sie vor jeder Stunde aufsagen müssen:
    "O my God, yeah, it's painful. We have to say this, it's called the reflection:"
    Reflektion nennen sie es an der Schule, ein Mantra, in dem Schüler beteuern, dass sie neugierig, ruhig und aufmerksam sein wollen:
    "Throughout this lesson I aspire to maintain an inquiring mind, a calm disposition and an attentive ear so that in this class and in all classes I can fulfill my true potential."
    Die Schwester kommt erst mal auf eine andere Schule
    Die Lehrer lassen die Schüler regelmäßig Tests schreiben, damit sie wissen, was auf sie zukommt, wenn sie in drei Jahren ihre GCSE-Tests schreiben, ihren mittleren Schulabschluss, den auch die Schüler ablegen, die später noch ihre A-Levels ablegen wollen, das Abitur. Harper hat fast überall Bestnoten. Sie spüre, wie sehr die Lehrer sich um Harpers Wohlergehen sorgten, berichtet Katy. Das mache viele Vorbehalte wett.
    "Die gute Fürsorge der Lehrer gleicht für mich in gewisser Weise die Strenge an der Schule aus."
    Harpers einjähriger Bruder kommt in die Küche gelaufen. Er hebt ihn hoch und setzt ihn auf seinen Schoß.
    Harpers Schwester sitzt nebenan im Wohnzimmer und sieht sich einen Zeichentrickfilm an. Die Fünfjährige ist in diesem Sommer auf die Grundschule gekommen. Katy hat sich aber gegen die beiden Mossbourne-Grundschulen entschieden. Denn auch bei den Jüngsten herrscht schon ein strenger Grundton. Zumindest in den ersten Schuljahren soll Aida noch etwas unbefangener lernen. An ihrer Schule gibt es keine Uniformen und kein Stillstehen. All das kommt früh genug, wenn sie eines Tages wie Harper auf eine weiterführende Schule kommt. Ob es wieder Mossbourne sein soll, weiß Katy noch nicht.