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Old School trifft Zukunft (5/5)
Wenn der Schulträger pleite geht

Großbritanniens Schulpolitik birgt Risiken. Als etwa im nordenglischen Wakefield einer der großen Träger selbstständiger "Academies" pleite ging, standen 21 Schulen vor dem Nichts. Die Kritiker der Privatisierungen vermissen Unterrichtsgarantien und einheitliches Bildungsniveau.

Von Benjamin Dierks |
    Sally Kincaid, Vertreterin der Lehrergewerkschaft National Education Union, in ihrem Büro in einem Gemeindezentrum von Wakefield in West Yorkshire.
    Sally Kincaid, Vertreterin der Lehrergewerkschaft National Education Union, in ihrem Büro in einem Gemeindezentrum von Wakefield in West Yorkshire. (Benjamin Dierks )
    Wakefield im nordenglischen West Yorkshire lebte einmal von der Textilindustrie und dem Kohleabbau. Aber die Webereien dieser mittelgroßen Stadt gingen in den 70er- und 80er-Jahren zugrunde. Die Kohlegruben fielen Margaret Thatcher zum Opfer. Und heute – das findet Sally Kincaid genauso schlimm – verliert Wakefield sogar seine Schulen.
    "Die Gegend ist ohnehin sozial benachteiligt. Drei Viertel unserer Schulen liegen in ehemaligen Bergarbeiterstädten. Hier, in diesen Schulen, schlug mal das Herz dieser Orte. Jetzt sind sie gar nicht mehr Teil der Gemeinden. Sie gehören irgendeiner großen Kette an."
    Sally Kincaid ist die örtliche Vertreterin der National Education Union, einer Lehrergewerkschaft. Im Gewerkschaftsbüro in einem Gemeindezentrum hängen Protestplakate vergangener Kampagnen, daneben Holzregale voller Aktenordner. Es riecht nach altem Papier und kaltem Tee. Von hier aus organisiert Sally Kincaid ihren Widerstand gegen das Academy-Programm der Regierung.
    Plötzlich waren 21 Schulen ohne Träger
    Was sich in Wakefield abgespielt hat, ist Kincaids Ansicht nach ein Beweis dafür, dass dieses System von Grund auf verrottet ist. Vor gut einem Jahr brach hier der Wakefield City Academies Trust zusammen, eine von zwei großen Stiftungen, die mehrere Schulen der Region betrieben haben, sogenannte Multi-Academy-Trusts.
    "Als Wakefield City kollabierte, hatten 21 Schulen plötzlich niemanden mehr, der sich um sie kümmerte. Das Bildungsministerium hatte dem Trust noch Schulen zugeteilt, obwohl es schon wusste, dass es finanzielle Probleme und Misswirtschaft gab und der Trust nicht mehr funktionierte."
    8.000 Schülerinnen und Schüler waren vom Kollaps betroffen. Die Leistung in einigen der Schulen war schon vorher drastisch abgefallen. Es fehlte am Nötigsten, selbst an Papier und Unterrichtsmaterialien. Und es kam noch schlimmer: Über Monate hatte der Trust systematisch Geld aus den Schulen abgezogen, das diese zurückgelegt hatten und dringend benötigten. Um mehr als eine Million Pfund sollen die Schulen erleichtert worden sein.
    "In einer Schule hatten die Jugendlichen selbst Geld aufgetrieben, um neue Lampen für ihr Theater zu kaufen. Die hatten Kuchen verkauft, um Geld einzunehmen. Und selbst das wurde ihnen genommen. Das Geld wurde geradezu aufgesaugt. Und dann kollabierte die Stiftung."
    Schnelle Deregulierung, unkontrolliertes Wachstum
    Deren Chef hatte sich zuvor umgerechnet rund 90.000 Euro Gehalt für 15 Wochen Arbeit zahlen lassen und Aufträge in Höhe von einer halben Million Euro an eigene Firmen vergeben. Der Wakefield City Academies Trusts war nur einer eines von vielen landesweit, die scheiterten: in Südengland, Manchester, überall. Sally Kincaid ist schon der ganze Privatisierungsgedanke des Academy-Programms zuwider.
    Aber linke Aktivisten wie sie sind nicht die einzigen, die bemerken, dass etwas schiefläuft. In einem Büro am Kingsway im Zentrum von London residiert die Ark-Stiftung, die 38 Schulen im Vereinigten Königreich betreibt. Sam Freedman ist hier für das Beratungsgeschäft der Stiftung im Ausland zuständig. Freedman war auch Berater des früheren Bildungsministers Michael Gove, als dieser vor acht Jahren die einst von der Labour-Partei erdachte Academy-Idee drastisch ausweitete.
    Unter dem konservativen Bildungsminister Michael Cove wurde die Labour-Politik der selbstständigen Academies massiv ausgeweitet
    Unter dem konservativen Bildungsminister Michael Cove wurde die Labour-Politik der selbstständigen Academies massiv ausgeweitet (picture alliance / dpa / Photoshot / Justin Ng)
    Freedman schrieb mit Gove die Gesetze, die die Entstehung von Multi-Academy-Trusts ermöglichten. Und er räumt heute Fehler ein:
    "Ein Fehler war, dass wir es sehr schnell geschehen ließen. Viele Schulen wurden zur selben Zeit zu Academies, viele Ketten wuchsen sehr schnell und einige gerieten außer Kontrolle. Sie wurden zu groß und waren nicht in der Lage, ihre Schulen zu verwalten."
    Nach 18 Jahren Academy-Politik "ein sehr gemischtes Bild"
    Freedman und sein damaliger Chef Gove wollten erreichen, dass herausragende Schulen sich mit anderen zusammenschließen, damit alle die Erfolgsrezepte kopieren könnten. Dabei hätten sie aber nicht bedacht, dass es landesweit gar nicht genug solcher Leuchtturmschulen gebe, sagt Freedman. Zudem kritisiert er, dass Academies zu sehr unter Druck gesetzt würden, gute Prüfungsergebnisse zu liefern.
    "Es hängt heute so viel an den Zahlen, dass einige Schulen geradezu fixiert darauf sind. Sie lassen zum Beispiel einfachere Prüfungen schreiben, was nicht den Schülern zugutekommt, sondern nur die Schule gut aussehen lässt."
    Das führe sogar dazu, dass einige Academies versuchten, schwächere Schüler auszuschließen, sagt die Bildungsexpertin Becky Francis. Die Professorin leitet das Bildungsforschungsinstitut des University College London und ist spezialisiert auf soziale Gerechtigkeit im Bildungssystem. Francis wertet jährlich die Folgen des Academy-Programms aus und berät den zuständigen Ausschuss im britischen Parlament.
    "Einige der Academy-Ketten haben Außergewöhnliches erreicht, leider gibt es aber auch das Gegenteil: eine größere Gruppe von Schulen, die sich nicht nur nicht verbessert haben, sondern offenbar immer schlechter werden. Was das Versprechen der Academies angeht, die Situation ihrer Schüler zu verbessern, haben wir also ein sehr gemischtes Bild."
    Kluft zwischen gut und schlecht heute größer
    Insgesamt habe die Einführung von Academies die Lücke zwischen guten und schlechten Schulen nicht verkleinert, sondern sogar vergrößert, sagt Becky Francis. Und daran litten vor allem jene Schüler, denen diese neue Schulform anfänglich besonders zugutekommen sollte.
    "Der Fokus lag am Anfang darauf, das System vor allem zugunsten sozial benachteiligter Kinder zu verbessern. Aber nun werden es genau diese Kinder sein, die von den Fehlleistungen der Betreiber und der mangelnden Kontrolle den größten Schaden davontragen. Wir drohen also wieder da anzukommen, wo wir begonnen haben."
    Francis fordert schärfere Kontrolle der Betreiberstiftungen. Und Academies sollten wieder unter die Kontrolle der öffentlichen Verwaltung zurückkehren dürfen – was bislang nicht geht. Das will auch Gewerkschafterin Sally Kincaid aus Wakefield in West Yorkshire. Die dortigen Schulen allerdings werden nicht so bald zur Kommune zurückkehren. Sie haben bereits Unterschlupf gefunden: bei dem anderen großen Academy-Trust der Region.