Bitte nicht schon wieder Corona, mag man sich beim ersten flüchtigen Blick auf das Cover von Olga Flors neuem Roman "Morituri" denken. Der Umschlag zeigt eine gelbe Kugel, der glänzende rote Stacheln entwachsen. An den Spitzen prangen Kügelchen, scheinbar infektionsbereit. Die Autorin klärt das Missverständnis auf:
"Das habe ich meinem Verlag auch gesagt, wie ich das Bild gesehen habe. Ich habe gemeint: Das will ja niemand mehr sehen. Aber sie waren der Meinung, dass man das durchaus nehmen könnte. Der Sonnentau, der ja auch am Cover ist, der eigentlich sehr schöne Formen entwickelt und ganz ungefährlich aussieht. Sieht aus wie Tautropfen."
Eine fleischfressende Pflanze
Beim Sonnentau handelt es sich um eine fleischfressende Pflanze, die gut auf Moorböden gedeiht. Das fruchtbare, aber auch alles verschlingende Moor hat es Olga Flor angetan. Fachlichen Rat holte sie sich unter anderem beim botanischen Garten im heimischen Graz:
"Es macht mir Freude, ich knie mich immer wieder gerne in solche Themen hinein. Das Moor ist ja ein unglaublich vorbelastetes Biotop, wenn man so will, nicht zuletzt aufgrund natürlich der zahlreichen Moorleichen, die man in Mittel- und Nordeuropa hauptsächlich bronze- und eisenzeitlicher Natur findet. Und diese Moorleichen sind, soweit mir bekannt ist, zu einem Großteil getötet worden, bevor sie ins Moor gelegt wurden. Das heißt, das waren entweder Opfer oder Hingerichtete und nicht zufällig verunglückte Menschen, die man heute findet. Und das trägt natürlich zu der Schauerromantik bei."
Mit einem Tautropfen auf dem Blatt eines Laubbaums in der Nähe eines Niedermoors beginnt der Roman, und mit einem Tropfen endet er. Darin spiegelt sich die ganze Welt mit all ihren Intrigen und menschlichen Abgründen. Prolog und Epilog in Tropfenform stehen stellvertretend für den äußerst konzentrierten Erzählstil Flors, in dem Abstraktionen und Sprachspiele bis hin zum Kalauer originelle Verbindungen eingehen: Ob vom autochthonen Überschwang eines Bienenzüchters die Rede ist oder vom wohleinstudierten weiblichen Unterwerfungslächeln, wie es heißt: In diesem literarischen Minimundus findet alles Platz.
Das sanfte Gesetz
Der Tropfen lässt aber ebenso an eine Szenerie im naturnahen Romanwerk Adalbert Stifters denken, der den Begriff vom sanften Gesetz prägte. Dieses waltet auch in "Morituri": So schlimm die Machenschaften der profitgierigen Bürgermeisterin Susi und ihres Umfeldes in der namenlosen österreichischen Kleinstadt auch ausfallen mögen, das letzte Wort hat die Natur - selbst wenn sie, insbesondere durch den Tourismus, gehörig ramponiert wurde.
Bedrohlich schmatzt das Moor in der Nähe der aufstrebenden Gemeinde, die ihren Wohlstand mit dem sogenannten Good Life Center befördern will, einem Zentrum für avancierte Biomedizin: In einer Klinik unterhalb des Moores, die sich als Wellness-Parcours tarnt, werden erste Versuche der Parabiose unternommen. Dazu lässt sich ein zahlungskräftiger alternder Einheimischer durch einen Transfusionsschlauch an einen jungen Geflüchteten anschließen, der ihn mit frischem Blut versorgt.
Moderne Caesaren-Verehrung
Es wird nicht ganz klar, warum ausgerechnet der aus der Stadt zugezogene Architekt und Außenseiter Maximilian an diesem vampirischen Experiment teilnimmt. Er lässt sich an den attraktiven frankophonen Maurice anschließen; fortan firmieren sie als das Doppelwesen MM. Maximilians Tochter Ruth hingegen setzt sich konkret für Bootsflüchtlinge ein. Alle Personen, sei es die Bürgermeisterin Susi von der Österreichischen Volkspartei ÖVP, oder eine polyglotte Redenschreiberin, die als "Gummistiefel" firmiert, bestimmen mit ihren inneren Monologen die gut 60 Kurzkapitel des Buches. Lautmalerisch erinnert bereits dessen Titel an das Moor:
"Das ‚Morituri' weist natürlich einerseits schon vom Klanglichen her auf die Moore hin, auf die Mare, auf die Meere. Es geht ja schließlich auch um das Sterben im Meer. Das kommt ja auch vor. Es geht aber auch um die Frage: Was ist das Leben diesseits und jenseits des Meeres wert? Es geht auch um die Caesaren-Verehrung, also die Verehrung eines schon beinahe gottgleich medial hingestellten Einzelherrschers, Alleinherrschers, der ja ein Phänomen unserer Tage auch ist. Auf der anderen Seite geht es natürlich um die Frage, die mich auch schon immer irritiert hat bei diesem Gruß: ,Morituri te salutant' heißt ja ,Wir, die sterben werden, grüßen dich'. Und nachdem wir alle sterben werden, egal, ob wir jetzt in der Arena sind oder zusehen, hat mich das immer ein wenig verwundert."
Der "Buberlkanzler" lässt grüßen
Im Ort wird ungeduldig ein ausländischer Charismatiker erwartet. Jener Präsident, der Züge von Wladimir Putin trägt, plant bei seinem Staatsbesuch einen medienwirksamen Abstecher zu den Attraktionen der Provinz. Darauf hat ein Attentäter aus dem Wald nur gewartet, so dass am Ende alles anders kommt – inklusive eines Todesfalls und eines Kniefalls der Bürgermeisterin.
"Die Schlussszene ist tatsächlich nachgestellt einer österreichischen politischen Inzidenz, als eine Außenministerin einen Präsidenten zu ihrer Hochzeit eingeladen hat und dort einen Kniefall fabriziert hat. Da musste ich mich einfach bedienen."
Und so lässt sich "Morituri" nicht zuletzt als hellsichtige, böse Parabel auf die gegenwärtigen Zustände unter dem "Buberlkanzler" Sebastian Kurz lesen. Doch das sprachliche und gedankliche Vergnügen, das Olga Flors steile Texte stets bereiten, weist weit über die Tagespolitik hinaus und lässt diese geradezu im Moor verblubbern.
Olga Flor: "Morituri"
Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien. 208 Seiten, 22 Euro.
Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien. 208 Seiten, 22 Euro.