Möchten Sie wissen, was Josef Mengele für Sonderwünsche hatte, wenn er im südamerikanischen Exil zu einer Prostituierten ging? Oder worin für ihn das Vergnügen lag, die Witwe seines Bruders zu heiraten? Dann sind Sie bei Olivier Guez richtig. Der französische Journalist und Autor hat die wichtigsten Biografien und Dokumentationen über den SS-Offizier gelesen. Den offenen Rest soll sein Roman beisteuern. Nicht nur den Arzt des Massenvernichtungslagers Auschwitz will er beschreiben, sondern den ganzen Menschen: den Wagner-begeisterten Sohn aus reichem bayerischen Elternhaus, der unter der fehlenden Liebe seines Vaters leidet; den Heranwachsenden, dessen Forscher-Geist durch ein geschenktes Mikroskop erwacht; den Erbhygieniker, der obsessiv an Hitlers Idee einer arischen Herrenrasse glaubt. Die literarische Form ermöglicht Olivier Guez - im Vergleich zur Biographie - mehr Innensicht, mehr Intimität. In seinem Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" rechnet er die gesammelten Fakten zu einem Psycho-Porträt des "Todesengels von Auschwitz" hoch.
Eine neue Existenz im Exil
Die zentralen Fragen: Wie baute sich Mengele im argentinischen Exil eine neue Existenz auf? Und: War sich der Massenmörder nach seiner Flucht 1949 aus dem besetzten Deutschland irgendeiner Schuld bewusst? Eingeführt wird er unter dem Namen Helmut Gregor, der in seinem gefälschten Reisepass steht.
"Avellaneda, La Boca, Monserrat, Congreso … Anhand einer aufgefalteten Karte macht er sich mit der Topographie von Buenos Aires vertraut und fühlt sich winzig vor dem schachbrettartigen Raster, ein unbedeutender Floh, er, der unlängst noch ein ganzes Reich tyrannisiert hatte. Gregor denkt an eine andere Planstadt – Baracken, Gaskammern, Krematorien, Schienen –, wo er seine besten Jahre als Ingenieur der Rasse verbracht hatte, eine verbotene Stadt in dem beißenden Geruch von verbranntem Haar und Fleisch, ringsherum Wachtürme und Stacheldraht. Mit dem Motorrad, Fahrrad oder Auto war er zwischen den gesichtslosen Schatten umhergefahren, unermüdlicher Kannibalen-Dandy, Stiefel, Handschuhe und Uniform blitzblank, die Mütze etwas schief aufgesetzt. [...] Sogar seine Kameraden vom Schwarzen Orden hatten Angst vor ihm. An der Rampe, wo die europäischen Juden selektioniert wurden, waren sie betrunken, er aber blieb nüchtern und pfiff lächelnd ein paar Takte aus Tosca."
Als langjähriger, erfahrener Journalist beherrscht Olivier Guez die temporeiche, kompakte, bildstarke Reportage-Prosa. Mit literarischen Feinheiten - wie bei Éric Vuillard, Autor des ebenfalls dokumentarischen, im Dritten Reich spielenden Romans "Die Tagesordnung" - wird man allerdings nicht verwöhnt. Im Gegenteil: Guez neigt zu markigen Metaphern wie dem zitierten "Kannibalen-Dandy", die nicht differenzieren, sondern blenden. Denn ein Menschenfresser, den der Hunger antreibt, wirkt geradezu niedlich im Vergleich zu einem systematischen Menschenvernichter, wie ihn die Nazis reihenweise hervorgebracht haben. Nicht anders ist es mit dem plakativen Kontrast von Ex-Tyrann und Floh. Denn warum sollte sich Josef Mengele bei seiner Ankunft in Buenos Aires klein wie ein Floh fühlen? Sein Ego stützt sich auf zwei Doktortitel. Und sein Vater, ein mächtiger Firmenchef in Bayern, finanziert großzügig seiner Flucht. Mehr noch: Argentinien ist, wie Guez ausführlich beschreibt, eine Hochburg geflohener Nazis. Mit ihrer Hilfe will Staatspräsident Juan Péron seinem Land zu neuer Größe verhelfen.
Nazi-Hochburg Argentinien
"So betätigt sich Perón [...] als großer Lumpensammler. Er wühlt in den Mülltonnen Europas, startet eine gigantische Recyclingaktion: Mit den Abfällen der Geschichte wird er die Geschichte regieren. Perón öffnet sein Land Abertausenden von Nazis, Faschisten und Kollaborateuren; Soldaten, Ingenieure, Wissenschaftler, Techniker und Ärzte, Kriegsverbrecher, die eingeladen sind, Argentinien mit Staudämmen, Raketen und Atomkraftwerken auszurüsten und in eine Supermacht zu verwandeln."
Die politischen Kontexte, die sich während Mengeles jahrzehntelanger Flucht ständig verändern, verliert Olivier Guez nie aus dem Blick. In ihrer präzisen, gut nachvollziehbaren Darstellung liegt die Stärke seines Romans "Das Verschwinden des Josef Mengele". Die trostlose private Seelenschau des skrupellosen Egomanen bekommt so eine komplexe historische Dimension. Im Mittelpunkt des ersten Romanteils steht die Integration des KZ-Arztes in die Nazi-Seilschaften des Exils. Aus dem übervorsichtigen Flüchtling wird "der Pascha". Denn Gefahr aus der jungen Bundesrepublik droht keine. Kanzler Adenauer reaktiviert systematisch die alten Nazi-Beamten, von denen niemand ein Interesse daran hat, flüchtige Kriegsverbrecher zu jagen. So bleiben auch die eigenen Untaten unter dem Teppich.
Das Ende der Schonung
Doch die Zeiten ändern sich. Der nazifreundliche argentinische Präsident wird 1955 gestürzt, und der israelische Geheimdienst bläst weltweit zur Jagd auf die Judenmörder. Auf die Jahre als "Pascha" folgen für Mengele die im zweiten Romanteil beschriebenen Jahre als gehetzte "Ratte". Denn er muss untertauchen. Nach dem Prozess in Jerusalem gegen Adolf Eichmann, den Oberbürokraten des Holocaust, steht er im Visier der Fahnder. Mengeles Fluchtorte hat Olivier Guez selbst aufgesucht und entsprechend detailreich beschrieben: als Gipfel seines wachsenden Verfolgungswahns den selbstgebauten Wachturm in Brasilien. Letzter Höhepunkt des Romans ist dann die Begegnung des gealterten Mengele mit seinem einzigen Sohn Rolf, den er bis dahin nur einmal gesehen hat.
"'Wir, die Deutschen, mussten als überlegene Rasse handeln', sagt Mengele. Hitler schwebten hundert Millionen Germanen vor, mittelfristig zweihundertfünfzig, und im Jahr 2200 eine Milliarde. 'Eine Milliarde, Rolf! Er war unser Cäsar, und wir, seine Ingenieure, sollten darüber wachen, dass ihm immer eine wachsende Anzahl gesunder und rassisch einwandfreier Familien zur Verfügung stand.' Papa, was hast Du in Auschwitz gemacht?' Unwirsch hält Mengele inne, man unterbricht ihn selten. 'Meine Pflicht', sagt er rundheraus, 'meine Pflicht als Soldat der deutschen Wissenschaft: die biologisch-organische Gemeinschaft schützen, das Blut reinigen und von seinen Fremdkörpern befreien'."
Rechtfertigungsphrasen eines Unbelehrbaren
Wie Mengeles Sohn auf die Rechtfertigungsphrasen seines Vaters reagiert, sei hier nicht verraten. Nur so viel: Den Absturz zur einsamen, selbstmitleidigen, von Zwangsvorstellungen und Aggressionsschüben zerrissenen Kreatur zeichnet Olivier Guez überzeugend nach. Er macht deutlich, wie leicht aus einem ehrgeizigen Karrieristen ein Massenmörder werden kann, wenn der Staat die nötige Ideologie dazu liefert: eine Ideologie, die einen Teil der Menschheit einfach zu Untermenschen erklärt und damit den Weg für ungeahnte Grausamkeiten frei macht. Allerdings unterläuft Guez sein selbstgesetztes Ziel, dem Menschen Mengele näher zu kommen. Denn er entrückt ihn immer wieder mit simplifizierenden Metaphern wie "Monster", "tollwütiger Wolf" oder "Fürst der europäischen Finsternis" zum Dämon. Dabei war Mengele eben nur einer unter vielen, wie Olivier Guez selbst zeigt: mit einer Auflistung der übrigen Auschwitz-Ärzte, die in der jungen Bundesrepublik ihr normales, bestens honoriertes Leben wieder aufnehmen konnten. Hier liegt der Nachhall des Grauens, der diesen historischen Polit-Thriller trotz seiner literarischen Schwächen zu einer aufwühlenden Lektüre macht.
Olivier Guez: "Das Verschwinden des Josef Mengele".
Aus dem Französischen von Nicolas Denis.
Aufbau Verlag, Berlin. 224 Seiten, 20 Euro.
Aus dem Französischen von Nicolas Denis.
Aufbau Verlag, Berlin. 224 Seiten, 20 Euro.