Im Sommer 1920 sind einige Schlachtfelder des ersten Weltkrieges in Belgien noch nicht vollständig geräumt. Einige olympische Athleten machen sich davon persönlich ein Bild. Auf ihren Exkursionen stoßen sie auf Schützengräben, Bunker und Helme von gefallenen Soldaten. Doch dabei bleibt es nicht, berichtet der belgische Sporthistoriker Roland Renson, und erwähnt die amerikanische Wasserspringerin Aileen Riggin.
"Auf dem Schlachtfeld hat sie einen Schuh gefunden. Sie wollte den mitnehmen und hat dann gesehen, dass da noch ein Fuß drinsteckte. Und dann hat sie ihn ganz schnell weggeworfen."
Wegen des Krieges fallen die angedachten Spiele 1916 in Berlin aus. Nun für 1920 gilt die belgische Hafenstadt Antwerpen für das IOC als geeigneter Kompromisskandidat. Die Ausrichter haben für die Vorbereitung 16 Monate Zeit. Sie verzichten auf eine Einladung an die Kriegsverlierer, und so fehlen Sportler aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich. Ebenso aus Russland nach der dortigen Oktoberrevolution, sagt der Forscher Roland Renson, der über die Spiele 1920 das Standardwerk geschrieben hat, "The Games Reborn".
"Viele Städte waren noch in Trümmern, das Land hat sehr viel gelitten. Es fehlten Wohnplätze und dadurch waren viele Leute in Antwerpen nicht glücklich, weil die ausländischen Athleten bekamen dann die Zimmer."
Handgreiflichkeiten bei der Überfahrt
Schon die Anreise ist beschwerlich. Etliche Sportler aus den USA müssen den Atlantik auf der "Princess Matoika" überqueren, einem rostigen Militärschiff, das zuvor hunderte Leichen von Soldaten transportiert hatte. Die Überfahrt nach Belgien dauert 14 Tage. Mehrfach drohen Sportler mit Streik, es kommt zu Handgreiflichkeiten. Der Sportfunktionär Daniel J. Ferris berichtet später:
"Wir haben noch die Särge gesehen. Der ständige Geruch von Formaldehyd war schrecklich. Die Sportler schliefen in Dreietagenbetten, dort gab es auch Ratten. Aber wir hatten keine andere Wahl, es war einfach zu wenig Geld da."
Das IOC und die Gastgeber setzen 1920 auf eine kämpferische Symbolik. Ein Plakat mit dem Aufruf an freiwillige Helfer ziert einen Soldaten, darüber der Schriftzug: "Zusammen trainieren, zusammen aufbrechen, zusammen kämpfen." Vor dem Olympiastadion zeigt eine Statue einen Soldaten mit Granate. Während der Eröffnungsfeier: Salutschüsse, Friedenstauben und erstmals in der Geschichte der olympische Eid. Darin beschwört Victor Boin einen "ritterlichen Geist". Der belgische Wasserballer hatte im Krieg feindliche U-Boote zerstört. In seiner Rede betont dann IOC-Präsident Pierre de Coubertin:
"Hier und da sieht man eine Person, deren Gang weniger kraftvoll ist, deren Gesicht älter aussieht. Aber ihre Kraft und Ausdauer setzen sich durch."
Viele Athleten haben den Krieg selbst erlebt. Der britische Mittelstreckenläufer Albert Hill war mehr als vier Jahre in der Armee, in Antwerpen gewinnt er zweimal Gold. Der südafrikanische Läufer Bevil Rudd war mit seinem Panzer auf feindlichem Gebiet liegen geblieben, nun siegt er über 400 Meter.
Für einige Sportler gehört der Krieg auch zur Zukunft: Der britische Läufer Philip Noel-Baker ergattert 1920 über 1.500 Meter Silber. Während des Zweiten Weltkrieges ist er dann Staatssekretär für Kriegstransport. Als Verfechter für Abrüstung erhält er 1959 den Friedensnobelpreis. Biografien wie diese beschreibt der belgische Sportpublizist Jasper Truyens in seinem neuen Buch. Und er betont auch die damalige Rolle des belgischen Königs Albert I.
"Bei öffentlichen Terminen während der Olympischen Spiele trug der König seine Militäruniform. Nach der Eröffnungsfeier besuchte er verwundete Soldaten in einem Krankenhaus. Und er legte Wert auf den Austausch mit Sportlern. Zum Beispiel mit dem französischen Läufer Joseph Guillemot. Der war im Krieg schwer verletzt worden. Trotzdem gewann er in Antwerpen über 5.000 Meter."
Diebe unter den Athleten
Die Belgier interessieren sich 1920 wenig für Olympia. Die Tickets sind teuer, das Wetter ist schlecht. Etliche ausländische Sportler beschweren sich über schlechtes Essen und provisorische Unterkünfte in Schulen, Bürogebäuden oder auf Schiffen. Besonders in der Kritik: das kalte und schlecht riechende Wasser bei den Schwimmwettbewerben. Einige Gastgeber wollen das nicht auf sich sitzen lassen. In der Wochenzeitung "Sport-Revue" beschwert sich der belgische Boxfunktionär Rik Senten über das mitunter aggressive Verhalten ausländischer Athleten:
"Bei mehreren Gelegenheiten haben sie randaliert. Aus den Federn ihrer Matratzen haben sie Korkenzieher gemacht. Es gab auch Diebe unter den Athleten. Die Deutschen waren bei der Besatzung von Antwerpen nicht schlimmer."
Anekdoten wie diese sind im "Sportimonium" dokumentiert, dem Sport- und Olympia-Museum Belgiens, in der Nähe der Stadt Mechelen. Die alten Fahnen, Fotos und Urkunden von 1920 werden dort in Workshops mit Jugendlichen eingebunden. Außerhalb des Museums, in Brüssel, Brügge oder in Antwerpen selbst, wird kaum an das wichtigste Sportereignis der belgischen Geschichte erinnert, sagt Didier Rotsaert, Direktor des "Sportimonium".
"Antwerpen ist die einzige Stadt der Welt, wo Sie kein Plakat sehen auf der Autobahn, dass es Spiele gab. Wir haben nie eine Fahne gesehen, nie eine Statue, nie ein Monument, nichts, nichts, nichts. Und ich glaube, dass ist hauptsächlich die Politik, die nicht interessiert ist."
Keine Hinweise auf Spanische Grippe
2013 hatte in Antwerpen Bart De Wever das Amt des Bürgermeisters übernommen. Seine nationalistische Partei NVA setzt sich für eine Abspaltung Flanderns von Belgien ein. Die Erinnerung an ein globales Sportereignis scheint für die NVA wenig von Bedeutung zu sein. Damit verspiele man eine Chance, findet der Historiker Bram Constandt von der Universität Gent. Constandt sucht nach Verbindungen zwischen 1920, als die Spanische Grippe mit wohl mehr als 25 Millionen Todesopfern abgeflaut war, und 2020, als Olympia in Tokio wegen Corona um ein Jahr verschoben werden musste.
"Viele Menschen hatten ihr Leben verloren. Die Politik verschärfte die Zensur, um die Stimmung nicht weiter sinken zu lassen. Das ist wohl einer der Gründe, warum wir in den Archiven so gut wie nichts über die Nachwehen der Spanischen Grippe auf Olympia gefunden haben."
Die Spiele 1920 enden übrigens mit einem finanziellen Verlust, daran kann auch der Verkauf von Sportgeräten, Büromöbeln und Sonderbriefmarken nichts ändern. Die japanischen Sportler haben größere Problem, ihnen geht während der Spiele das Geld aus. Per Telegramm wenden sie sich an Unternehmen in der Heimat. Und so können auch sie die teure Rückreise antreten, die dann jedoch einige Monate dauern wird.