Am Dienstag im Morgengrauen besetzen Spezialeinheiten das Armenviertel Vila Autódromo, das an den Olympiapark in Rio de Janeiro grenzt. Eine Hundertschaft Sicherheitskräfte sperrt weiträumig das Haus von Maria da Penha und ihrer Familie ab.
Tochter Nathalia ist aufgebracht. 25 Jahre hat sie mit ihren Eltern in dem weiträumigen, dreistöckigen Haus gewohnt. Jetzt reißen vor ihr zwei Bagger mit ihren Schaufeln Wände, Decken, Pfeiler nieder. Sie schreit: "Es hat Jahre gedauert, dieses Haus zu bauen und so endet es… Hier wird ein ganzes Leben zerstört!"
Einige Tage vor dem Abriss
Die Hofeinfahrt der Familie ist zu einem Treffpunkt der wenigen übrigen Bewohner von Vila Autódromo geworden. Rechts und links in der Durchfahrt stehen wackelige Stühle, es gibt Kaffee aus der Thermoskanne und Kekse.
Früher lebten in der Favela 824 Familien. Sie galt als schlicht, aber sicher. Dann begann die Stadtverwaltung 2013, das Viertel zu räumen, um Platz zu schaffen für einen Zugangsweg zum Olympiapark. Sie versprach den Bewohnern für ihr Haus eine Abfindung oder eine Sozialwohnung. Nathalia verschränkt die Arme:
"Es ist schmerzhaft zu sehen, wie viele Nachbarn nachgegeben haben und gegangen sind, weil sie unter Druck gesetzt wurden, eingeschüchtert waren. Öffentlich hat der Bürgermeister immer wieder gesagt, wer bleiben will, kann bleiben. Aber seine Handlungen stimmen damit nicht überein. Leute der Stadtverwaltung haben bei den Anwohnern angerufen und gedroht: Du wirst Dein Haus sowieso verlieren! Verhandle lieber!"
Andere Bewohner bestätigen das. Die Version von Bürgermeister Eduardo Paes ist eine andere. Für ihn hätten 549 der 824 Familien bleiben können, ohne die Bauarbeiten zu beeinträchtigen. "Aber 531 der Familien haben darum gebeten, gehen zu dürfen. Warum? Weil die Apartments attraktiv waren, viele Personen lebten unter ärmlichsten Bedingungen oder sie fanden die Abfindung attraktiv."
"Wir wurden betrogen!"
Die meisten Familien zogen in einen der fünfstöckigen Sozialblöcke, anderthalb Kilometer Luftlinie von der Vila Autódromo entfernt. Die Wohnungen hier im Parque Carioca haben zwei oder drei Zimmer, die Wände sind dünn, die Bauqualität ist dürftig. Aber es gibt ein Abwassersystem und eine Busanbindung. Manche Bewohner sind zufrieden, andere nicht:
"Wir wurden betrogen!", schimpft ein Bewohner. "Die Wohnung ist mies, der Fußboden hebt sich und es gibt keine Nachbesserungen. Ich fühle mich verschaukelt!" Ähnlich sieht es ein anderer: "In der Vila Autódromo war es besser, ruhiger. Hier habe ich ständig Kopfschmerzen. Die Stadtverwaltung hat uns unfertige Apartments übergeben, in denen der Putz von den Wänden fällt."
Einzelne Häuschen zwischen Schutt
Wenige Tage vor dem Abriss ihres Hauses sucht Maria da Penha in der Kirche von Vila Autódromo ihre Bohrmaschine. Kreuz und quer stehen ihre Möbel verstreut, Schränke, Koffer, ihr Bügelbrett und die Matratze aus dem Bett ihrer Mutter, ihr ganzer Hausrat. Maria da Penha wusste nicht wohin, deshalb hat sie ihre Möbel in die Kirche gebracht. Es war eine Vorsichtsmaßnahme.
"Wir haben die Nachricht bekommen, dass laut Gericht unser Haus abgerissen werden kann. Es ist so enttäuschend, dass ein menschliches Wesen keinen Wert hat. Als wären wir ein paar Tiere nur weil wir arm sind. Das sollte niemand durchmachen müssen."
Von den ursprünglich 824 Familien leben noch 28 in der Vila Autódromo. Die Favela wirkt wie ein Dorf nach einem Erdbeben. Zwischen Schutthügeln stehen noch ein paar vereinzelte Häuser. Am Ende des Viertels beginnt hinter einer Absperrung der Olympiapark. Direkt an der Grenze ragt ein gläsernes Luxushotel in den Himmel. Dahinter liegen die neuen Arenen und Sportzentren. Gesamtwert: 400 Millionen Euro. Auf 75 Prozent der Fläche sollen nach den Spielen Luxus-Apartmentblöcke entstehen.
"Der Fall Vila Autódromo ist Ausdruck der Gewalt und Unterdrückung der Stadtverwaltung, um seine Interessen durchzusetzen", sagt Orlando Santos Junior. Er ist Professor für Stadtplanung und Aktivist einer Olympia-kritischen Plattform. "Im Rahmen der Olympiavorbereitungen haben wir in Rio 4100 Familien identifiziert, die direkt wegen der Bauarbeiten im Zusammenhang mit Olympiabauten vertrieben wurden."
Rio will Vila Autódromo urbanisieren
Bürgermeister Paes widerspricht: Vila Autódromo sei der einzige Fall von Enteignungen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen. Nach viel öffentlichem Druck ließ er am 8. März kurzfristig eine Pressekonferenz ausrichten. Das war wenige Stunden nachdem Maria da Penhas Haus abgerissen worden war. Paes kündigte darin ein Stadtbau-Projekt für das Viertel an. Vorgesehen sind 30 schlichte Zwei-Zimmer-Häuschen, Abwassersystem, eine Straße. Gesamtkosten: keine 750.000 Euro.
Maria da Penha könne eines der Häuschen haben, so Paes. Es sei ihrer Familie angeboten worden. Sie hätte aber nicht zugestimmt. "Es ist uns sehr klar geworden, dass sie den Konflikt bevorzugen", so der Bürgermeister.
Maria da Penha will jetzt erst einmal nachdenken. So wie die anderen verbliebenen Familien auch. Mit dem Häuschen könnte sie im Viertel bleiben. Allerdings ist es nicht einmal ein Zehntel des Hauses wert, das abgerissen wurde. Und es geht ihr ja nicht nur ums Geld, sondern um ihre Rechte. Das hat Maria da Penha noch im Schutt ihres Hauses ihren Nachbarn zugerufen:
"Freunde, ich will nicht, dass jemand weint. Unser Haus ist zerstört, aber ich bin es nicht. Ich halte den Kopf hoch, weil ich mein Recht bis zum Schluss eingefordert habe. Und ich werde die Vila Autódromo nicht verlassen! Der Kampf hat jetzt erst angefangen!"
Das Stadtbau-Projekt Vila Autódromo soll bis zu den Olympischen Spielen im August fertig gestellt ein. Bisher gibt es jedoch nicht einmal eine Ausschreibung.