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Olympia 2021
Lost in Maebashi

Südsudan hatte für Olympia in Tokio 2020 große Hoffnungen. Sein Team hatte das Land zur optimalen Vorbereitung schon mit etwas Vorlauf nach Japan geschickt. Seit Olympia aber verschoben wurde, sitzen die südsudanesischen Athleten und Athletinnen nun in Japan fest.

Von Felix Lill |
Die südsudanesischen Athleten und Athletinnen üben japanische Schriftzeichen.
Die südsudanesischen Athleten und Athletinnen in Maebashi üben japanische Schriftzeichen. (dpa / picture alliance / Yomiuri Shimbun)
"Guten Tag, mein Name ist Akoon. Ich bin Hürdenläufer und komme aus Südsudan. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich bitte Sie, mir wohlgesonnen zu sein."
Es ist tadelloses Japanisch in gewählter Höflichkeitsform, mit dem sich Joseph Akoon vorstellt. Eins der Dinge, die er hier in den vergangenen neun Monaten gelernt hat, erklärt der 18-jährige kurz vor seiner Trainingseinheit. Jeder Tag beginnt für ihn entweder mit Sprachunterricht oder einem Computerkurs. Ehe er dann, nach dem Mittagessen, auf die Tartanbahn geht.
"Wir haben den ganzen Tag zu tun. Wir machen alles sehr regelmäßig und mit klarer Struktur. Alles beginnt hier auf die Minute pünktlich. Das ist zuhause etwas anders, wir sind mehr Lockerheit gewohnt. Das ist eine Umstellung. Aber es tut gut, hier auf diese Art hart zu arbeiten. Angesichts der Umstände bin ich zuversichtlich, dass es mit allem vorangeht. Ich glaube, das geht uns allen so. Wir wollen das Beste draus machen."
Der südsudanesische Leichtathlet Joseph Akoon beim Training in Maebashi.
Leichtathlet Joseph Akoon beim Training in Maebashi. (dpa / picture alliance / Yomiuri Shimbun)
"Olympiaheld" für den jüngsten Staat der Erde
Eigentlich sollte Joseph Akoon gar nicht mehr hier sein. Wäre das Jahr 2020 nach Plan verlaufen, wäre der junge Athlet schon seit einigen Tagen wieder zurück in der Heimat. Bei den Olympischen Spielen in Tokio wäre er zum ersten Mal über 400 Meter Hürden gestartet. Im Anschluss daran wäre er wohl, körperlich erschöpft, in seine kleine Heimatstadt Akon gereist, um sich von seinen Eltern und seinen drei Brüdern pflegen – und feiern – zu lassen.
Er wäre ein sogenannter "Olympiaheld" von Südsudan geworden, dem jüngsten Staat der Erde, der nach Rio 2016 erst zum zweiten Mal bei Olympischen Spielen vertreten gewesen wäre.
Der südsudanesische Leichtathlet Kutjang Michael Machiek Ting grüßt seinen japanischen Coach mit dem "Corona-Gruß".
Der südsudanesische Leichtathlet Kutjang Michael Machiek Ting grüßt seinen japanischen Coach mit dem "Corona-Gruß". (dpa / picture alliance / Yomiuri Shimbun)
Doch bekanntlich kam es anders. Als Ende März beschlossen wurde, die Spiele auf Sommer 2021 zu verschieben, war für Joseph Akoon nicht nur das monatelange, zielgerichtete Training plötzlich verpufft. Für ihn, drei weitere Athleten und einen Trainer aus Südsudan, veränderte sich das ganze Leben. Sie sind in Japan gestrandet.
"Es war die beste Lösung, dass die Athleten einfach vor Ort bleiben. Es gab die Sorge, dass sie sonst später nicht mehr nach Japan einreisen könnten, wenn sie das Land einmal verlassen würden. Man kann noch immer nicht wissen, wie sich das Coronavirus entwickelt. Auch hier in Südsudan haben sich schon mehrere Menschen infiziert", sagt Tong Chor Malek, Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees in Juba, der Hauptstadt von Südsudan.
Sportliche Idole als Inspiration für die Jugend
Er war es, der seine Athleten im November 2019 auf ein langes Trainingslager nach Japan schickte, in die Stadt Maebashi im Zentrum des Landes. Und im März habe er dann mit sich ringen müssen, ob er sie schnell zurück nach Ostafrika holt – oder sie bis auf Weiteres in Ostasien lässt. Um kein Risiko einzugehen, wollte Malek, dass seine Athleten gleich vor Ort bleiben.
"Ich telefoniere ungefähr einmal die Woche mit ihnen und halte mich auf dem Laufenden. Sie haben dort Trainingsbedingungen, die wir ihnen hier nicht bieten können. Sie vermissen natürlich ihre Familien. Aber so ist das eben. Sie sind Athleten. Und vertreten unser Land. Wir wollen, dass sie als Helden zurückkehren.
Die südsudanesischen Leichtathleten in Maebashi.
Corona brachte die Pläne durcheinander. Aber für die südsudanesischen Athleten und Athletinnen hat der verlängerte Aufenthalt auch viel Gutes. (dpa / picture alliance / Yomiuri Shimbun)
Der Südsudan sucht nach sportlichen Idolen, die der Jugend als Inspiration dienen. Erst seit 2011, nach einem langen Konflikt, spaltete sich das Land vom Sudan ab und erlangte formal seine Unabhängigkeit. Aber bald brach ein neuer Bürgerkrieg aus, der die für das Land wichtige Erdölproduktion hemmte. Rund ein Drittel der 13 Millionen Einwohner musste mit Nahrungsmittelhilfen unterstützt werden. Südsudan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt.
Diese Umstände sind es, die Generalsekretär Malek dazu bewogen, die Athleten schon möglichst früh nach Japan zu schicken:
"Je länger sie dort sind, desto besser ist es für die sportlichen Leistungen unseres Landes. Für uns ist es ehrlich gesagt auch gut, dass Olympia verschoben wurde. Im März hatte sich noch keiner unserer Athleten qualifiziert. Und wir stecken momentan auch mitten im Verfahren, um vom Internationalen Paralympischen Komitee anerkannt zu werden. Durch die Verschiebung könnten wir es noch rechtzeitig schaffen. Aus meiner Perspektive ist das gerade eine sehr günstige Situation."
Maebashi legt sich ins Zeug für seine Gäste
Günstig auch deshalb, weil die südsudanesische Delegation nichts dafür bezahlen muss. Im Rahmen der "Host Town Initiative", mit der japanische Städte ausländische Athleten für Trainingslager aufnehmen, sind die Südsudanesen in der Stadt Maebashi untergekommen. Das Rathaus der 330.000-Einwohnerstadt stellt die Trainingsanlagen und die Unterkunft. Und angesichts der Corona-Pandemie wurde die Einladung um ein Jahr verlängert.
Der südsudanesische Leichtathlet Guem Abraham Majok Matet trainiert in Maebashi.
Der südsudanesische Leichtathlet Guem Abraham Majok Matet trainiert in Maebashi. (dpa / picture alliance / Yomiuri Shimbun)
Das sei nicht nur Großzügigkeit, sagt Kenichi Uchida, Angestellter im Rathaus von Maebashi und Betreuer der fünfköpfigen Delegation aus Südsudan: "Wir sehen Olympia als Chance, um unsere Stadt mit der Welt zu verbinden. Wir organisieren für die Athleten Japanisch- und Computerunterricht. Aber wir wollen auch unsere Einwohner mit ihnen in Kontakt bringen. Sie besuchen zum Beispiel Schulen und Kindergärten und wir machen Sportveranstaltungen mit ihnen. Viele Kinder staunen, sie haben noch nie so große Menschen gesehen. Wir Japaner sind ja eher klein. Und sie fragen, wie sich Wetter und Essen zwischen den Ländern unterscheiden."
Der Stadtbeamte Kenichi Uchida gibt aber auch zu, dass er sich anfangs Sorgen um mögliche Reibungen gemacht hat. Der japanische Alltag ist nicht nur von Benimmregeln und Höflichkeitsformeln geprägt, er ist auch kaum für Flexibilität bekannt. So dürfen etwa Telefoninterviews mit den Athleten nur um 10:30 japanischer Zeit stattfinden.
Zuhause gibt es keine Tartanbahn, keine Stoppuhren, keine Hürden
Hier sollen die Südsudanesen bis zum anvisierten Olympiastart am 23. Juli 2021 bleiben. Dann werden es insgesamt ein Jahr und neun Monate sein. Reichlich Zeit, um sich zu akklimatisieren sagt Joseph Omirok, der Trainer der Athleten.
"Das Essen ist eine Herausforderung hier (lacht). Hier bereiten sie den Fisch in all seinen Einzelteilen zu. Wir kochen das ganze Tier. Aber man findet immer was. Und die Nahrung ist gesund. Wir sind alle in guter Verfassung. Sportlich lernen wir auch viel voneinander. Ich leite das Training gemeinsam mit einem japanischen Trainer aus der Stadt Maebashi. Deren Methoden kennenzulernen, ist sehr effektiv. Zuhause haben wir zum Beispiel keine Tartanbahn und keine Stoppuhren. Hier gibt es ganz andere Möglichkeiten, die Trainingsfortschritte zu beobachten."
Der südsudanesische Leichtathlet Joseph Akoon mit seinem japanischem Kollegen Mizuki Obuchi beim Training.
Joseph Akoon mit seinem japanischen Kollegen Mizuki Obuchi: Die Trainingsbedingungen sind für Akoon hier besser als zuhause. (dpa / picture alliance / Eugene Hoshiko)
Der Athlet Joseph Akoon begreift das als seine große Chance. Um die Normzeit für Olympia zu schaffen, muss er sich auf den 400 Meter Hürden noch um vier Sekunden verbessern. Das wäre ein großer Sprung.

Aber nicht zu groß, glaubt er: "Zuhause haben wir nicht mal Hürden für das Training. Dafür musste ich ins Trainingslager nach Uganda reisen. Hier habe ich mich schon so deutlich verbessert. Und ich habe schon gelernt, auf Japanisch zu lesen. Dann kann ich auch noch ein bisschen schneller laufen."
Akoon und seine Kollegen haben jedenfalls den Rückhalt ihrer Gastgeber aus Maebashi. Kenichi Uchida sagt: "Die Südsudanesen passen überraschend gut zu uns Japanern. Sie sind alle sehr ruhig und bescheiden und arbeiten hart. Falls Olympia im nächsten Jahr stattfinden kann und einer der Athleten aus Südsudan gegen einen Japaner antritt, dann werde ich für Südsudan sein. Hier in Maebashi geht das vielen so, glaube ich."