Friba Rezayee sitzt in der brütenden Pariser Hitze in einem lebhaften Straßencafé. Sie ist aus ihrer neuen Heimat Kanada nach Frankreich gekommen, hier verfolgt sie die Spiele als Zuschauerin. Die Olympische Eröffnungsfeier hat die ehemalige Judoka direkt an der Seine erlebt, jetzt rekapituliert sie die Eröffnungsrede von IOC-Präsident Thomas Bach.
Der sagte bei seiner Ansprache: "Jetzt sind wir alle vereint an einem Ereignis, das die ganze Welt in Frieden vereint..."
Viele dieser Worte machen Rezayee sauer. Besonders wenn sie an das Versprechen denkt: Paris – die ersten Spiele mit Geschlechterparität bei den Wettkämpfen. „Das klingt alles sehr, sehr gut, vielversprechend und fair. Aber in Realität sind die Dinge anders – für Frauen in Afghanistan sieht es mit der Gleichberechtigung komplett anders aus“, sagt die Ex-Kampfsportlerin.
Afghaninnen riskieren ihr Leben, wenn sie Sport treiben
Friba Rezayee hat es am eigenen Leib erfahren, nach ihren ersten Olympischen Spielen – 2004 in Athen. Als erste Frau, die für Afghanistan bei einem Wettkampf antritt, wird die Judoka damals für viele Frauen in dem Land zu einem Symbol dafür, was möglich ist.
Aber nach den Spielen in Athen muss sie aus ihrer Heimat fliehen – sie wird von Fundamentalisten angegangen, die Lage wird zu gefährlich. Damals sind die Taliban noch nicht wieder zurück an den Schaltstellen der Macht.
Inzwischen ist Sport für Frauen in ihrer Heimat wieder ganz offiziell verboten. Frauen riskieren ihr Leben, wenn sie es doch tun. Trotzdem ist ein afghanisches Team bei diesen Spielen dabei – bei der Eröffnungsfeier fährt es auf demselben Boot wie das Deutsche Team die Seine hinab. "Nicht mit der Fahne der Taliban, wohlgemerkt", wie ARD-Kommentator Tom Bartels bei der TV-Übertragung feststellte.
Auch Team Afghanistan ist paritätisch besetzt
Auch das Team Afghanistan ist zahlenmäßig ein paritätisches Team: Drei Athleten und drei Athletinnen. Die drei Frauen, die im Team Afghanistan starten, leben alle im Exil: Zwei Radsportlerinnen, eine Leichtathletin.
„Alles, woran ich gedacht habe, waren die Mädchen in Afghanistan, weil die waren gar nicht glücklich darüber. Für sie war das ein sehr trauriger Tag. Ich war mit einigen in Kontakt und sie waren sehr traurig. Sie finden das nicht gut – für sie ist das eher ein Schlag in die Magengrube“, sagt Rezayee.
Aus ihrer Sicht ist die Tatsache, dass Afghanistan hier mit weiblichen Athletinnen antritt, ein Ablenkungsmanöver von der Realität für Frauen in ihrem Heimatland: „Die Situation für Frauen dort ist weiter verheerend. Sie können immer noch nicht zur Schule gehen, keiner Arbeit nachgehen und alle Orte, an denen sie vorher Sport machen konnten, sind geschlossen. Frauen trainieren zuhause – alles mit viel Angst und Depression. Sie sagen mir seit langem, sie fühlen sich wie in einem permanenten Lockdown.“
Handeln des IOC passt nicht zu ur-eigenen Regeln
Dass das IOC Afghanistan starten lässt, noch dazu mit einem vermeintlichen Signal von Gleichstellung, sorgt international für Kritik: Denn es passt nicht zu den ur-eigenen Regeln. Der Olympische Dachverband legt in seiner Charta selbst fest: Die Ausübung von Sport ist ein Menschenrecht und jedes Individuum muss Zugang zu Sport haben – ohne Diskriminierung jeglicher Art.
Deshalb wäre für Friba Rezayee eine logische Konsequenz, afghanischen Athlet:innen einen Platz im Geflüchtetenteam anzubieten: „Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin sehr stolz auf diese drei afghanischen Frauen, ich unterstütze sie und sie haben jedes Recht, bei den Spielen anzutreten. Aber sie hätten das im Geflüchtetenteam tun sollen, weil das die Realität widerspiegelt. Alle drei sind Flüchtlinge.“
Auch NOK-Repräsentanten im Exil wenig glaubwürdig
Auch die Repräsentanten des afghanischen Olympischen Komitees, kurz NOK, leben im Exil. Die Mitglieder des NOKs seien die einzigen Gesprächspartner zu den Spielen, betont IOC-Exekutivmitglied Kristin Kloster Anfang 2024 auf einer Konferenz in Norwegen:
„Ich weiß, dass es ausgiebige Beratungen mit dem afghanischen NOK gegeben hat, nachdem die Taliban wieder an die Macht gekommen sind, weil das NOK aus dem Land fliehen musste. Und es gibt einen konstanten Dialog zwischen dem NOK und dem IOC – und der dreht sich immer darum, Teilhabe von afghanischen Athleten, insbesondere Frauen, aufrechtzuerhalten.“
Das IOC teilt vor den Spielen mit, kein Taliban-Vertreter sei bei den Spielen akkreditiert. Der Ex-Judoka Rezayee reicht das nicht, sie findet auch die afghanischen Olympia-Vertreter im Exil wenig glaubwürdig: „Sie repräsentieren Afghanistan, als hätten wir noch eine republikanische Regierung, als ob Ashraf Ghani noch unser Präsident wäre. Es ist lächerlich. Es ist so, als würde ich sagen: Ich bin König von England.“
Rezayee fordert "echte Gleichberechtigung, keine Almosen"
Friba Rezayee hilft heute hauptberuflich als Sozialunternehmerin jungen Afghaninnen raus zu kommen – mit Bildungs-Stipendien in Kanada und den USA. Für sie sind Taten wichtig – auch angestoßen von der Sportwelt: "Was ich fordere, ist echte Gleichberechtigung, keine Almosen."
Zu den Olympischen Spielen in Paris will sie jetzt eine Aktion in sozialen Netzwerken starten. Eine Kampagne, in der Sportlerinnen aus Afghanistan, die nicht im Exil leben, die Frage stellen: Was ist mit uns?