Es dauert nur 10,72 Sekunden.
10,72 Sekunden, die St. Lucia auf der weltweiten Landkarte sichtbar machen.
Überlegen gewinnt Julien Alfred bei den Olympischen Spielen in Paris die Goldmedaille im 100m-Sprint. Es ist die erste Medaille überhaupt für das kleine Land.
„Das bedeutet mir sehr viel. Ich wusste, dass meine Landsleute mir zuschauen würden und auf die erste Medaille für St. Lucia gehofft haben. Und es wurde dann Gold. Ich glaube, zu Hause feiern sie gerade.“
Die Olympiamedaille verändert alles
St. Lucia ist ein kleiner Inselstaat in der Karibik, Teil des britischen Commonwealth, offizielles Staatsoberhaupt ist King Charles. Nicht einmal 190.000 Menschen leben hier, hauptsächlich vom Tourismus und dem Export, etwa von Bananen. Nur die wenigsten dürften von dem kleinen Land gehört haben – mit der Olympiamedaille jetzt hat sich das geändert.
„Jetzt, wo Julien die US-Amerikanerin Sha’Carri Richardson besiegt hat, bin ich mir sicher: Die Augen der Welt sind jetzt auf uns gerichtet und werden uns genau beobachten", sagt Alfred Emmanuel, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees von St. Lucia.
Die Medaille in Paris als Folge einer Professionalisierung
Die Medaille in Paris – die Folge einer Professionalisierung: „Über Jahre hinweg haben wir unseren Athleten gesagt, sie müssen bestimmte Standards etablieren, dass sie hart arbeiten müssen. Und unseren Trainern haben wir gesagt: Ihr müsst einen Plan für die Entwicklung eurer Athleten haben. Das beides zusammen hat gut funktioniert.“
Dass dieser Plan aufgegangen ist, dürfte auch das Internationale Olympische Komitee freuen. Ist es doch Ziel der Organisation, Menschen aus aller Welt im Sport zusammenzubringen. Sagt zumindest der Sporthistoriker Michael Krüger, der früher an der Uni Münster gelehrt hat.
„Bei aller Kritik am IOC und an Thomas Bach: Grundsätzlich ist das IOC eine Organisation, die sich bemüht, diesen Prozess der Universalisierung des Sports voranzutreiben. Deshalb glaube ich fest, dass die sehr froh, sehr zufrieden sind, wenn nicht nur die traditionell großen Sportnationen wie die USA die Medaillen absahnen.“
Die Zahl der Länder, die Medaillen gewinnen, steigt kontinuierlich an
Tatsächlich sind in Paris Athleten aus 204 Ländern dabei. Und die Zahl der Länder, die Medaillen gewinnen, steigt kontinuierlich an. 1972 in München haben Sportlerinnen und Sportler aus 48 Ländern Edelmetall geholt, darunter 25 Gold. Jetzt in Paris sind es rund 90 Medaillen - und mehr als 60 Gold-Nationen. Für Michael Krüger auch ein Zeichen für die Globalisierung des Sports:
„Diese Athletinnen und Athleten, die Medaillen für kleinere Länder erringen, trainieren häufig in den USA oder in wohlhabenden Ländern. Und viele Trainerinnen und Trainer aus den fortgeschrittenen Sportnationen sind ja auch als Trainerinnen und Trainer in aller Welt tätig.“
Und sorgen so für Medaillen in aller Welt.
Was ein olympisches Gold auslösen kann, zeigt ein Blick auf die Bermudas. In Tokio holte Triathletin Flora Duffy die erste Goldmedaille für das Land.
„Es war schön zu sehen, wie sehr es die Insel zusammengebracht hat, und wie stolz jeder auf meinen Sieg war. Es hat die ganze Insel ein bisschen angehoben, hat so viele Menschen geeint und hat ihnen einen Grund gegeben, stolz darauf zu sein, von den Bermudas zu kommen.“
Nach Bermudas erster Olympiasiegerin wurden Straßen benannt
Duffy ist mittlerweile Nationalheldin. Straßen wurden nach ihr benannt, ihr Gesicht ziert ein großes Wandgemälde am Regierungssitz, Queen Elizabeth ernannte sie zur Dame Commander des Order of the british Empire. Und Duffy hat dem gesamten Sport auf den Bermudas einen Schub gegeben.
Jeder möchte wie Flora Duffy sein, sagt Peter Dunne, Chef des NOKs der Bermudas: "Wie viele Jugendliche wollen jetzt bei einem Triathlon dabei sein. Und wir können uns nur anschauen, was die Regierung in den vergangenen Jahren in den Sport investiert hat, das ist stark gestiegen. Und das ist ein gutes Zeichen.“
Geschichten wie diese hört das IOC sicher gern – und Paris hat einige davon geschrieben. So auch im 200-Meter-Sprint der Männer.
Letsile Tebogo gewinnt Gold – das erste für Botswana überhaupt. Der Präsident erklärt den Rest des Tages daraufhin kurzerhand zum Feiertag.
Oder eben Julien Alfred, die mit ihrem 100m-Sieg – und Silber über 200m – in ihrer Heimat eine Party auslöst. „Ich habe ein paar Videos aus meiner Heimat gesehen. Die Reaktion war überwältigend. Und ich hoffe, dass ich viele inspiriere, jetzt ebenfalls Sport zu machen.“
Eine Inspiration für nachfolgende Generationen
Eine Hoffnung, die berechtigt ist, sagt Sporthistoriker Michael Krüger: "Beispiel Kenia, mit den Läufern. Die zeigen uns, wer die besten Athleten auf der Welt sind. Da setzen natürlich auch viele junge Leute auf den Laufsport. Das sieht man auch an den Topläufern wie Kipchoge: Das verspricht sozialen Aufstieg."
Der Chef des olympischen Komitees von St. Lucia wünscht sich einen ähnlichen Schub, wie ihn auch die Bermudas durch die Medaille erlebt haben.
„Wir hoffen, dass diese zwei Medaillen uns jetzt inspirieren, den Sport ernster zu nehmen. Mit der Hoffnung, dass wir für Los Angeles noch mehr Athleten qualifizieren und noch mehr Medaillen gewinnen können.“
Und wer weiß, in ein paar Jahren könnte vielleicht eine Julien-Alfred-Generation an Sprintern aus St. Lucia bei olympischen Spielen am Start stehen.