Kang Ji-hyun hat gemischte Gefühle, wenn sie an die Athletinnen und Athleten aus ihrer Heimat denkt:
"Natürlich unterstütze ich den Süden. Ich bin ja seit langem Bürgerin Südkoreas. Und Menschen wie ich wissen, wie sehr der Norden ein Übel für die Bürger Nordkoreas ist. Aber andersherum hoffe ich auch, dass einige nordkoreanische Athleten auch Medaillen gewinnen, solange es nicht gegen Südkorea ist."
Verlierer werden abgestraft
Kang Ji-hyun ist in Nordkorea geboren, floh aber vor eineinhalb Jahrzehnten über China und Südostasien nach Südkorea, wo sie heute als Modedesignerin und Künstlerin lebt.
Wie viele Geflüchtete aus dem Norden fühle sie sich zwar dem Süden verbunden – aber eine Art Mitgefühl für den Norden bleibt:
"Wenn die Sportler aus dem Norden keinen Erfolg haben, verlieren sie vielleicht ihren Job als Athlet und werden von der nordkoreanischen Partei bestraft, weil sie verloren haben. Die nordkoreanische Partei ist gegenüber den Verlierern nicht gerade großzügig. Nur die nordkoreanischen Athleten, die siegen, werden zu Helden gemacht."
Erstmals seit 2018 wieder auf der Olympia-Bühne
In den vergangenen Jahren konnte das Regime solche Heldengeschichten nicht schreiben.
Sowohl zu den Sommerspielen in Tokio als auch zu den Winterspielen von Peking hat Nordkoreas Regierung niemanden geschickt.
Aus Angst vor Covid-19 hatte der weitgehend arme Ein-Parteienstaat seine Grenzen geschlossen.
Doch das ist jetzt vorbei. In Paris betreten zum ersten Mal seit sechs Jahren Sportlerinnen und Sportler aus Nordkorea wieder die größte Sportbühne der Welt.
Die erfolgreichen Gewichtheber fehlen
Aus nordkoreanischer Perspektive ist das ein Meilenstein, sagt Lee Jung-Woo, der an der University of Edinburgh zu Sport und Politik in Nordkorea forscht:
"Für Nordkorea hat Sport schon immer eine sehr politische Rolle gespielt. Er wird als Werkzeug für Propaganda genutzt. Mit Erfolgen wird die Großartigkeit Nordkoreas als Nation betont. Das ist also eine sehr nationalistische Ausrichtung, womit man sich auch gegen die internationalen Sanktionen gegen Nordkorea stemmt. Wann immer nordkoreanische Athletinnen Medaillen bei Olympia gewinnen, erklären sie die Erfolge auch deshalb nicht als ihre individuelle Leistung. In Interviews danach loben sie die Regierung und den 'Obersten Führer.'"
Als „Oberster Führer“ wird der als Sportfan bekannte Diktator Kim Jong-un bezeichnet. Und bei bisherigen Olympiateilnahmen hat Nordkorea fast immer mehrere Medaillen geholt.
Aber der südkoreanische Forscher Lee Jung-Woo erwartet, dass Kim bei den Spielen von Paris nicht viel zu feiern haben wird:
"Bei diesen Olympischen Spielen gibt es nicht viel Optimismus. Nordkoreas historisch besten Sportler sind die Gewichtheber. Aber die sind in Paris nicht dabei. Es gab Gerüchte, dass sie gedopt haben. Sie sollten Blutproben einreichen, aber haben dann einfach nicht mehr teilgenommen. Es ist also nicht bestätigt, dass gedopt wurde. Aber es gibt Hinweise."
Ernährungslage im Land beeinträchtigt auch die Sportler
16 Athletinnen und Athleten aus dem ostasiatischen Land sind in Paris dabei. Sie treten im Kunstturnen, der Leichtathletik, Boxen, Turmspringen, Judo, Tischtennis und Ringen an.
Aber sie alle haben sich über Jahre nicht bei internationalen Veranstaltungen messen können. Hinzu kommt, dass die Ernährungslage im Land schwierig ist.
Schon kurz vor der Pandemie schätzte ein UN-Report, dass 40 Prozent der Bevölkerung unterernährt sind. Seitdem könnte sich die Situation verschlechtert haben.
Und die seit 2017 verschärften UN-Sanktionen, die eine Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen und wiederholte Raketentests sind, haben auch den Sport beschnitten.
Nordkorea will Beziehungen zum IOC pflegen
Kang Ji-hyun, die einst aus Nordkorea flüchtete, hofft, dass mögliche sportliche Erfolge diese Umstände nicht überdecken.
"Die Menschen in Nordkorea wissen, dass Kim Jong-un und seine Familie keine guten Anführer sind, und dass sie eine Verantwortung für den Hunger im Land tragen. Viele Menschen im Norden sind unzufrieden mit der Familie von Kim Jong-un. Die Kim-Familie weiß das auch. Deswegen wären sportliche Erfolge für sie eine gute Gelegenheit, davon abzulenken und eine positive Atmosphäre zu kreieren."
Für Nordkoreas Regime haben die Spiele von Paris noch aus einem anderen Grund große Bedeutung, nämlich in Sachen Sportdiplomatie, sagt Lee Jung-woo:
"Die Spiele von Paris sind auch deshalb sehr wichtig für Nordkorea, weil es seine Beziehungen mit dem IOC pflegen will. Beim IOC vertreten zu sein, zeigt, dass Nordkorea nicht nur eine eigene Identität hat, sondern auch Regeln befolgt. Das ist wichtig für Nordkorea, weil es von der internationalen Gemeinschaft wegen der Menschenrechtslage und so weiter weitgehend abgelehnt wird. Aber zwischen dem IOC und Nordkorea gibt es gegenseitigen Respekt."
Erste Bande sollen geknüpft werden
Dass es im Rahmen von Paris auch wieder zu Austausch zwischen Nordkorea und dem verfeindeten Bruderstaat Südkorea kommt, ist allerdings kaum zu erwarten.
Zu angespannt sind die Beziehungen zwischen dem liberalen Süden und dem autoritären Norden. Die Regierungschefs haben sich zuletzt immer wieder mit Krieg gedroht.
Aber eine konkrete Agenda verfolgt Nordkorea in Paris dennoch: Seit 2018 gibt es im IOC keinen nordkoreanischen Vertreter mehr; das möchte das Land ändern.
Sportminister Kim Il-guk wird dafür in Stellung gebracht. In den nächsten drei bis vier Jahren soll er die notwendigen Kontakte knüpfen.
Jetzt, wo Nordkorea wieder im Weltsport vertreten ist, wird damit begonnen.